Reise durch das Biedermeier
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Sprache und Kultur

Es ist unglaublich, mit welcher Neugier die Wiener alles aufnehmen, was über Wien geschrieben wird. Sie sind darin wie die Kleinstädter und wie die Pariser. In London kümmert man sich nur darum, ob der Schriftsteller in das Geheimnis der Familien und der vornehmen Zirkel gedrungen ist, weil dort das öffentliche und private Leben vollständig geschieden sind. In Wien ist das anders. Manier und Lebensart ist zwar trotz des äußersten Gegensatzes der Stände im Grunde vom gleichen Stoff und Kolorit, wenn auch modifiziert. Ein rücksichtsloses öffentliches Urteil ist nach den bestehenden Staatsverhältnissen nicht gestattet, und so wollen die Wiener von den Fremden gerne wissen, ob in ihrer Stadt noch immer alles in Ordnung sei. Sie wissen auch sehr wohl, daß die Welt jenseits der Grenzen vielfach anders aussieht. Sie betrachten daher jedes im übrigen Deutschland gedruckte Buch über Wien mit großem Interesse. Da ihnen keines recht gefällt, so ist es eine stereotype Behauptung geworden, man verstehe nicht, ihr Leben richtig aufzufassen. Anderseits sind sie aber auch ehrlich genug, schattenlose Lobrederei nicht ohne weiteres zu goutieren.

Das Wienerische weicht nicht nur lautlich, sondern auch im Wortschatz, in der Syntax und der Flexion stark vom normalen Hochdeutsch ab. Vielleicht ließe sich das auf einen Reichtum an Provinzialismen zurückführen, doch sind die Abweichungen und neuen Formen schriftlich emanzipiert. Man wohnt »am Eck«, man geht »auf der Straßen« usw., wie man in Wien täglich gedruckt und geschrieben sehen kann. Läßt man übrigens höhere Gesichtspunkte aus den Augen, beschränkt man sich auf Bequemlichkeitsstandpunkte, dann wirkt die Mundart allerdings vortrefflich. Sie ist voll Zusammenziehungen, Auslassungen und Abkürzungen. Man öffnet kaum den Mund, und in den einfachsten Tönen läßt man die Worte herauspurzeln. Jedes Wort kann im tiefsten Negligé, wie es eben in der Kehle geboren wird, zum Vorschein kommen. Die Leute sind so fern von dem Gedanken, die Sprache sei ein Produkt der Kunst und Bildung, daß sie jeden Versuch auslachen, straffer und genauer zu sprechen. So geht es auch in den kleinen Provinzialstädten, namentlich Schlesiens und Thüringens, wenn einer sich über den Jargon erheben will, man lacht ihn aus und sagt, er ziere sich. Es ist nicht wahr, daß alle gebildeten Wiener sich davon frei erhielten, es wienert der eine etwas weniger als der andere, aber sie wienern alle. Die feinste Dame wienert nur etwas vornehmer als das Obstweib. Daß es im Munde einer hübschen Dame hübsch klingt, ist richtig und natürlich: im Munde einer reizenden Dame klingt alles Fremdartige reizend. Zudem ist diese weiche Mundart so vertraulich, daß es uns schon darum bei der Begrüßung durch eine unbekannte Dame sehr angenehm berührt.

Es ist übrigens hierbei zu erinnern, daß diese Mißbilligung einer abweichenden Mundart nicht so zu verstehen ist, als ob aller Provinzialdialekt auszurotten sei. Die Mundart enthält oft die ganze Geschichte eines Landes. Alle Gewohnheiten, Vorzüge, Sympathien und Fehler, alle Beziehungen zu den Nachbarn sind darin zu finden. Und so ist diese Sprache eine unerschöpfliche Fundgrube für die Vervollkommnung der Nationalsprache. Jeder Schriftsteller sollte einige gute Provinzialismen zur Aufnahme in die Hochsprache vorschlagen. Sie würde dann an feinsten Schattierungen gewinnen und geeignet werden, Zustände zu bezeichnen, die wir jetzt mit vielen Worten mühsam und ungenügend umschreiben müssen. Aber es ist zu bekämpfen, daß der wichtigste Kulturausdruck, die Sprache, vollständig verwildern darf. Man hat den österreichischen Dialekt immer gemütlich genannt, und es ruht viel Bezeichnendes darin. Menschen, die sich weniger im großen Weltverkehr bewegen, erfahren weniger Täuschungen und bleiben zutraulicher. Das ist sehr gut so, aber man muß wünschen, daß die Bereitwilligkeit der Herzen sich im großen Welttheater erprobe, und es ist schlimm, wenn man versucht, diesen Vorteil durch gänzliche Absonderung zu erhalten.

Die Mundart in ihrer Bequemlichkeit und Gutmütigkeit ist aber auch nicht bloß für den Klang und den Ton der Unterhaltung wichtig. Die Laute jeder Sprache wirken auf Stoff und Gegenstand. Jeder Akzent trägt in sich eine Vorausbestimmung seines Inhalts. Hier aber ergeben sich schwere Nachteile. Es ist vollkommen gleichgültig, worüber man im österreichischen Dialekte spricht, die Sprache klingt über Freiheit und Unsterblichkeit ebenso mollig und trivial wie über »Möhlspeis« und »Fiaker«. Somit mangelt jeder Anreiz, das Gespräch zu höheren Gegenständen zu erheben, und es wächst aus dem Idiom eine harmlose Trivialität in das Leben hinein, die man nicht völlig wegleugnen darf, wenn man eine Zeitlang hier gelebt hat.

Der Mensch soll fortwährend auf der Hut sein, sagt das Christentum, sonst überwältigt ihn die plumpe irdische Materie.

In der Erscheinungswelt strebt alles nach einer gewissen Harmonie, darin liegt der ewige Antrieb der großen Schöpfung. Man erstaunt über die Großartigkeit, wie sich dieser purzelnde, sommermüde, wollüstige Dialekt dem bequemen Leben und Treiben in der Stadt angleicht. Er gehört nach Wien, und soviel man auch an dieser merkwürdigen Stadt aussetzen mag, das muß man zugestehen, sie ist aus dem Ganzen, ist eine runde, erfüllte Form. Alles liegt sich materiell selig in den Armen, daß man selbst die Arme öffnet, und in Wien öffnet sich nicht leicht jemand umsonst. Wien hat auch seine Kultur. Man ist in Wien viel auf den Beinen, und wenn ich frage, worin eigentlich das große Vergnügen bestehe, das einen fortwährend in Atem erhält, so weiß man keine Antwort. Es ist wie mit mancher Dichtung: man weiß ihr Wesen nicht alsobald zu definieren. Und meisthin sind die undefinierbaren Schönheiten größer als die andern. Sie liegen wenig in der Berechnung und dem Ursprünglichen und Göttlichen näher.

Indessen hat es mit den Wiener Freuden keine rein göttliche Bewandtnis, man braucht doch recht viele irdische Dinge dazu: guten Appetit, viel Geld, schönes Wetter, Schönbrunn, Tivoli, Hietzing, Laxenburg, die Theater, die Fiaker und vieles andere.

Das Wort »Künstler« grassiert sehr in Wien. Man muß immer genau hinhören, was die Leute darunter verstehen. Jeder Mensch fühlt ein Bedürfnis nach Darlegung einer gewissen geistigen Regsamkeit. So berufen sich denn auch die Wiener auf die schönen Künste, die bei ihnen auf das trefflichste gedeihen. Es ist aber auffällig, daß Wien in Malerei, Bildhauerei und Baukunst nicht mehr leistet, da hierin aller Ausdruck und alle Konkurrenz freigegeben sind – vielleicht fehlt es an Bestrebungen, sie zu ermuntern?

Ich muß gestehen, daß mich diese Entdeckung selbst im höchsten Grade überrascht. Das ruhige, von keinerlei staatlichen Dingen gestörte Leben, der heitere, sinnliche Anblick des grünen, saftigen Landes, die Gunst des reichen Adels, die Nähe Italiens, schöne Menschen, führende Staatsmänner voll Geschmack und Schönheitssinn – wahrlich, es ist ein Rätsel, daß wir nicht schon eine glänzende Wiener Schule haben, die sich an Natürlichkeit der niederländischen anschlösse und an Farbenreiz und irdischer Schönheit der italienischen. Ist das ein Rätsel? Fragt die Polizei!

Im allgemeinen heißt in Wien Künstler soviel wie Schauspieler. Das Schauspiel ist der Mittelpunkt des Wiener Lebens. Der Stolz, die Sehnsucht und das Vergnügen der Wiener. Was dem Pariser die Journale, das sind dem Wiener die Theaterzettel. Er studiert, glossiert und memoriert sie. Für den Schauspieler ist Österreich noch das Land der Märchen. Sie dürfen nicht getadelt werden. Ihre künstlerische Unbeflecktheit schützt die Zensur.

Wäre das Theater noch nicht erfunden, die Österreicher erfänden es. In fünf Theatern wird täglich gespielt. Keines von ihnen ist an den schönsten Sommertagen leer.

Es ist dabei auffallend, daß anderen deutschen Bühnen, zum Beispiel der Berliner, unzweifelhaft größere Mittel zur Verfügung stehen als den Wiener Theatern. So sind Oper und Ballett am Kärntnertore ganz einem Pächter überlassen. Die Regierungsprinzipien beschränken das Repertoire an der Burg sehr stark, außer politischen müssen auch religiöse Rücksichten gewahrt werden. Die prüden Bedenklichkeiten der Tradition schließen auch manches aus. Man weist diese und jene muntere piéce zurück, weil sie zu fröhlich modern gekleidet geht, man tut noch sehr ehrbar und ernsthaft und sieht im vaudeville und ähnlichen Leichtsinnigkeiten Verfallserscheinungen des Theaters.

Und doch hat man in Wien die besten Schauspieler. Es ist gar nicht zu leugnen, daß ein Schauspiel an der Burg ohne jeden Zweifel für den Kunstfreund zu den größten Genüssen gehört, die man auf einem deutschen Theater finden kann. Ton, Färbung, alles hält sich in den Grenzen der wohltuendsten Kunst, alles bleibt harmonisch im Ganzen. Im Stück, auf der Bühne ist nichts, das daran erinnern könnte, daß im Zuschauerraum Leute sitzen, die zusehen und klatschen wollen. Jede Individualität unterwirft sich ihrer Rolle, niemand tritt ungebührlich hervor, die Schauspieler werden nirgends zur Hauptsache, das Stück nur tritt als ganze, geschlossene Gestalt hervor.

Publikum und Schauspieler schaffen einander gegenseitig. Das Publikum in der Burg ist das beste, das man finden kann. Die störenden, alle höhere Harmonie des Stückes vernichtenden Abgänge, Bravaden an das Parterre gehen erfolglos vorüber, wenn ein Gast oder ein Neuling sich darin versucht. Nicht das äußerliche Deklamieren, sondern das richtige Erfassen des innersten Wesens, nicht die grobe, auffallende Erscheinung, sondern der feine, wesentliche Zug werden beklatscht. Die Damen, die die zarten Beziehungen der Geselligkeit am besten herausfühlen, sind nicht so scheu oder vornehm wie in Norddeutschland. Sie klatschen auch, wenn ihnen etwas gefällt.

Wie ist es zu erklären, daß Wien ein so vorzügliches Theater besitzt? Allgemeine historische oder stammesmäßige Gründe anzuführen, würde nur zu großen Irrtümern verleiten. Die Behauptung, in Wien sei besserer Geschmack, feinerer Kunstsinn und höhere Intelligenz als etwa in Berlin zu finden, könnte den gerechtesten Widerspruch hervorrufen. Einzelnes und die Tätigkeit bestimmter Personen hat das Wiener Schauspiel zu dem werden lassen, was es ist.

Von großer Bedeutung für die Entwicklung des Wiener Theaters war der Mangel an vielen sonstigen geistigen Instituten. Der beste Teil des Publikums findet sich darum in der Burg ein. Das Theater ist hier noch ein geistiger Mittelpunkt, nicht bloß ein Ort der Unterhaltung wie in vielen anderen Städten. Und somit ist es auch das Zentrum des Gedanken- und Gefühlslebens. In Wien sind reiche Leute Hauptagenten der Literatur, während sie andernorts ihre Krämer sind.

Auch durch die Geselligkeit des Lebens wurde das Wiener Schauspiel gefördert. Man ist hier einfacher, offener, wahrer und somit der Kunst wohlwollender gesinnt als in Norddeutschland. Ferner verdankt die Burg viel ihren umsichtigen, geschmackvollen und tätigen Dramaturgen.

Allerdings können auch die klügsten Dramaturgen kaum die trostlosen Mängel eines Repertoires beheben, das auf das ängstlichste alles vermeiden muß, was irgendwie dem Altherkömmlichen gefährlich werden könnte. So sind denn Iffland und Kotzebue die Hauptautoren der Wiener Theater, und man muß meist damit zufrieden sein, schlechte Stücke gut spielen zu sehen. Raupach wird neuerdings zwar auch viel aufgeführt, aber aus politischen und religiösen Gründen ist man glücklicherweise den leeren, pomphaften Hohenstaufen entgangen, die sich am meisten durch ungebundene hohle Äußerlichkeit auszeichnen, weil die vorliegenden historischen Daten alle weitere Erfindung überflüssig machten.

Doch ist nicht zu leugnen, daß die Stücke Ifflands und Kotzebues keineswegs für die Bildung des Schauspielers nachteilig wirken, so viel der Geschmack an ihnen aussetzen mag. Daß sie Zustände echt und treu zu schildern vermögen, spricht ihnen die strengste Kritik nicht ab, und man kann nicht daran zweifeln, daß besonders Kotzebue durch seine gewandte Sprache der Bildung der Schauspieler sehr vorteilhaft geworden ist.

Seit einigen Jahren hat er in dieser Hinsicht einen sehr beachtenswerten Nachfolger in Wien gefunden. Bauernfelds einfache, interessante Stücke, die sich in den natürlichsten modernen Beziehungen bewegen, sind ein wesentlicher Gewinn für die Bühne. Ich lernte Bauernfeld bei einem Zusammensein mit mehreren Wiener Dichtern, dem auch Grillparzer beiwohnte, kennen.

Es ist in Wien sehr schwer, Leute zu finden. Man darf nicht etwa an die bequemen Hausnummern, an den stets hilfreichen Adreßkalender, an das zum Nachschlagen so bequeme Bürowesen Berlins denken. Nein! Das spielt sich in Wien viel romantischer ab. Wo bin ich überall hingeraten, um Grillparzer zu finden! – Erster Hof, zweite Stiege, dritter Stock, vierte Tür! Es wirbeln mir noch alle Beschreibungen im Kopfe. Nach einer Suchjagd, über die ein ganzer Vormittag hinging, stand ich endlich in einer schmalen, öden Gasse vor einem schweigsamen Hause. Meine Tritte hallten wider auf der steinernen Treppe und an der gewölbten Decke. Klosterstille und Kühle umgab mich. Draußen lag ein heißer Tag, ich dachte an die schauerliche Einsamkeit im Schlosse Borotins in der »Ahnfrau«. Ein eisernes Gitter hemmte meine Schritte, die Türe war verschlossen, nirgends war ein Mensch zu sehen oder zu hören. Ich dachte: »Der alte Borotin liegt im Sterben.«

Eine schwere rostige Klingel gab einen schrillen, gespenstigen Ton. Niemand regte sich, auch als ich noch einmal schellte. So stand ich wohl eine Viertelstunde. Ich fürchtete mich vor der Klingel, machte aber doch einen letzten Versuch. Nach einer Weile hörte ich einen langsamen Frauenschritt, eine Gestalt mit fast ganz verhülltem Kopfe näherte sich, die Ahnfrau, wie sie leibte und lebte, fragte nach meinem Begehr.

»Jaromir von Eschen heiße ich und wünsche Herrn Grillparzer zu sprechen.« »Er ist nicht zu Hause!« Ich hatte kaum den Mut, dieser mittelalterlichen Wehgestalt meine Besuchskarte anzubieten. Sie vermutete, daß Grillparzer vielleicht im »Stern« anzutreffen sei, wo sich die Wiener Poeten des Abends zusammenfinden sollten. Früher geschah dies in der sogenannten »Ludlamshöhle«, aber die poetischen Possen und das Bundesartige, das sich dort herausgebildet hatte, sind dem Gubernio mißfällig geworden und man hat daher die Höhle verschüttet. Freie Künste, Bund und Höhle sind bedenkliche Ingredienzien, man darf den Teufel nicht an die Wand malen, kurz, man hatte Gründe gehabt, die uns nichts angehen.

Nach einigen unerschrockenen Versuchen fand ich Grillparzer in einer einfachen Wiener Speisekneipe. An einem gedeckten Tische für etwa zehn Personen saßen drei Herren, dort wollten Gutzkow, der mich begleitete, und ich Platz nehmen. Einer der drei Herren bedeutete uns aber sehr artig, daß der Tisch einer bestimmten Gesellschaft gehöre. Es war Grillparzer. Er hieß uns freundlich willkommen, als wir unseren Gewerbsspruch anbrachten und uns als Leute vom Handwerk legitimierten. Zu der Erzählung meines Besuches in seinem Hause lächelte er. Aber er lächelt höchstens. Er ist ein sanfter, ernster, tragischer Mann. Ein zerschlagener Baum, der sich traurig umsieht nach seinen Ästen, seiner Krone, die zersplittert seitab liegen. Seine fragenden, blauen Augen erweckten das Gefühl tiefer Rührung in mir.

Manche Leute werden sagen: Grillparzers Bestes ist an Österreich gestorben. Sie haben unrecht. Grillparzer hat von Hause aus den Tod im Herzen. Er ist nicht auf der Sonnenseite geboren. Von jeher hat er mit Hingebung Royalist sein wollen, doch hat er den rechten Weg dazu nicht gefunden, und man hat ihn verkannt. Was er auch in dieser Hinsicht schrieb, wurde mißdeutet.

Darin liegt etwas wirklich Tragisches: ein ehrlicher bürgerlicher Liebhaber zu sein, der für einen Widersacher angesehen wird. Ich kann mir jenen Abend und den Anblick Grillparzers nicht ohne das Gefühl einer leisen Trauer zurückrufen. Er präsidierte an dem bescheidenen Tische, trug ein grünes Röcklein, war sehr einfach und ein wenig pressiert höflich. Sein Gesicht wäre nicht leicht aus der Menge herauszufinden, wenn man nicht den Namen dazu wüßte. Es ist übrigens wohlgeformt, hat eine tadellos geratene Nase, eine Andeutung der österreichischen Unterlippe und einen stillen, sanften Ausdruck der Züge, der nicht ohne Melancholie ist. Um seine äußeren Augenwinkel ruht manche herbe Besorgnis. Er spricht mit einem weichen, geschmeidigen Organe. Es wurde über die »Europe littéraire« gesprochen, die ein junger Mann mit ältlichem Gesichte vor sich hatte und aus der er von Zeit zu Zeit einzelne Passagen mitteilte. Dieser junge Mann mit einer großen Brille war Bauernfeld.

Im allgemeinen erschien Grillparzer bei allen Urteilen sehr liebenswürdig. Im Gegensatz zu den meisten älteren Dichtern sprach er sich mild, schonend und hoffnungsvoll über die junge Generation aus.

Bauernfeld gehört im Grunde zu dieser. Seine Komödien gefallen mir besser als er. Er hatte in seinem langen Philisterkittel, in seiner ganzen abschmeckenden Weise viel Störendes. Das soll indessen nicht mit Nachdruck gesagt sein. Ich habe ihn nur an jenem Abende gesehen und gesprochen. Der liebenswürdigste Mensch kann an manchem Abende unausstehlich sein, wenn ihm ein Rendezvous fehlgegangen, ein Mittagessen im Magen liegengeblieben oder ein Produktionsversuch mißlungen ist.

Es waren noch andere Literaten zugegen, gute, freundliche Leute, wie denn meistens die Schriftsteller am liebenswürdigsten sind, solange sie noch keinen Namen haben. Sie kämpfen dann für ihre Existenz, bieten alle Fähigkeiten auf und bewerben sich um die gute Meinung ihrer Mitmenschen. Wenn man nicht gar zu viel Essig und Galle in sich hat, so ist man in solchen Bräutigamsschuhen am brauchbarsten für den Umgang. Freilich gibt es auch Gemüter, die erst nach dem Durchbruch zu genießen sind, die Anerkennung nötig haben, um zu existieren.

Ungefähr Mitternacht mochte es sein, als wir den »Stern« verließen und in Begleitung Grillparzers und eines solchen Kandidaten der Literatur noch eine Strecke durch die Straßen gingen. Der Dichter war still geworden. Sein Haupt neigte sich sinnend nach der Brust. Das Abschiednehmen und seine natürliche Höflichkeit schreckten ihn noch einmal auf, dann sah ich ihn leise im Mondschein davonschreiten.

Im »Sterne«, sitzend, war er mir ziemlich langgewachsen erschienen, jetzt stellte sich aber heraus, daß er nur von mittlerer Größe war. In der stillen Nacht hörte ich noch eine Weile sein sanftes Organ, während sein Schatten in den engen Gassen im unsicheren Lichte des Mondes verschwand.

Operndirektoren pflegen alle Sänger für schlecht zu halten, die nicht in Wien singen lernten. Die Korrespondenz dieser Stadt mit Italien, ihre Muße, die unbewegte Stille des Gemütes haben Wien zur musikalischen Hauptstadt gemacht. Die italienische Oper mit den klingenden Namen Tamburini, Santini, Lablache, Fodor hat sich zwar zerstreut, die stolzen Komponisten sind tot, aber dennoch ist Wien noch immer die Hochschule der Musik. Ich glaube, man wendet in Berlin viel mehr Geld daran, jedenfalls ist die dortige Oper die prächtigste in Deutschland, ihr Ballett übertrifft in manchen Dingen das Pariser, aber es fehlt die musikalische Einheit und das Publikum Wiens. Woanders lernt man Musik, die Wiener sind musikalisch. Um einen Begriff von feinem Operngeschmacke zu erhalten, vom Ideal eines musikalischen Publikums, muß man in die Oper am Kärtnertore gehen. Hier sind die Gourmets der Musik zu finden, und – was noch viel wichtiger ist – sie geben den Ton an. Nicht das Tototo und Trumtrumtrum von Schreihälsen wird beklatscht, nichts von dem rüden Remontenspektakel gewöhnlicher Sänger wird ausgezeichnet, sondern oft nur ein Ton, eine Wendung, eine Nuance, ein anspruchsloser Vortrag, jenes wenn auch unscheinbare, aber wirklich künstlerische Verdienst. Es herrscht Totenstille, man kennt jede Note, ein leises Zischen weist auftauchende Unarten zur Ruhe, einzelnes Klatschen aus den entferntesten Teilen des Hauses empfängt alles Lobenswerte und wächst wie eine Lawine zu donnerndem Beifall, wenn der Gesang beendet ist und die lobende Unterbrechung nicht mehr stört.

Hier in Wien haben sie aber auch gelebt, die Großen unserer Musik: Haydn, Mozart und Beethoven. Ich bin mehrmals hinausgegangen zum sogenannten »Spittelberg«, wo Mozart täglich Kegel geschoben hat, und habe mir über ihn erzählen lassen. Mein Referent war ein alter Knabe, der sich oft tüchtig mit Mozart unterhalten hat. »Glaub'n S' net, daß er a Kopfhänger wor, o je, do san S' links.« Und nun erzählte er Schnurren und Geschichten, die sie miteinander erlebt hätten. Der Refrain war immer, daß er ihn nochmals wiedersehen möchte. Wie er in Hemdsärmeln und roter Weste, auf beiden Backen kauend und mit lachenden Augen alle neun geschoben habe, der Tausendsassa.

Wirklich soll Mozart, nach dem, was mir von ihm erzählt wurde, ein recht munterer Knabe gewesen sein, der die irdischen Freuden mit Fleiß und Laune genossen hat. Am wenigsten soll er ein süßes, vergehendes Besprechen seiner Kompositionen haben leiden mögen. Es wird berichtet, daß ihn einst eine empfindsame Dame gefragt habe, woran er bei der Komposition des Duettes in der »Zauberflöte«: »Bei Männern, welche Liebe fühlen«, gedacht habe. Mozart antwortete: »An meinen alten Kater.«

Mozart hat es verstanden, die schöne, klare Sinnlichkeit der italienischen Musik, die Leidenschaftlichkeit der Melodie für uns zu erobern. Da er dabei seine kräftige Individualität nicht aufopferte, sondern auf das nachdrücklichste geltend machte, blieb er durch und durch deutsch. Er ist noch immer der einzige, der den höchsten Gesetzesanforderungen der Kunst entspricht und zugleich das einfachste Vermögen beglückt.

Die Musik ist eine unsichtbare Brücke in den Himmel, die man sich erfand, als der Gedanke nicht ausreichte und an den Glauben niemand mehr glaubte. Des Menschen Verlangen strebt nach einer unmittelbaren Verbindung mit der Gottheit. Er klammerte sich um so fester an die Musik, je mehr die sonstigen Möglichkeiten, die Vereinigung mit Gott zu erleben, verdächtigt wurden. Unsere Bildung fürchtet nichts mehr, als daß ihr irgendwo Grenzen gesetzt würden, da das Beispiel aller alten Kulturen zu zeigen scheint, daß sie deshalb untergegangen seien, weil ihnen keine neuen Aufgaben gestellt worden seien. Darum unser großes Interesse für die Musik, die eine neue Jugend des Geistes und Herzens verspricht und anscheinend ewig unerschöpflich bleiben wird.

Vielleicht ist Beethoven deshalb zum Halbgott der neuen Zeit geworden. Wir glauben in seinen Kompositionen die tiefsten Kräfte unseres Herzens wiederzuerkennen. Aus seinen kolossalen Symphonien strömen gewaltige Gefühle in unsere Seele und eröffnen uns einen Himmel voll großer, glänzender Sterne.

Beethoven war ein entschlossener, tüchtiger Geist, das sieht man auch aus seinen Worten in Bellinas Briefen. In Wien wurde er mir nur geschildert, wie man ihn in seiner letzten, unglücklichen Zeit gesehen hatte, als er sein Gehör so weit verloren, daß man sich nur mit Mühe mit ihm verständigen konnte. Er kehrte täglich draußen auf der Josef Stadt in ein Gasthaus ein, setzte sich schweigsam an den Tisch, kümmerte sich um niemand und ging schweigend wieder fort. Seine Gesichtszüge waren hart und streng. Das große graue Auge war überbuscht von dicken Brauen. Unordentlich fielen seine graugemischten Haare um die stolzen Schläfen und seine Stirn. Er war sehr schwer zugänglich und sprach nur, wenn er durch ein Glas Wein sich etwas behaglicher fühlte. Nur wenn Kanne zu ihm trat, überflog ein Lächeln sein Gesicht.

Es ist wohl nicht nötig, der dreisten Erfindung Jules Janins zu widersprechen, der ihn hungern läßt und ihn angeblich mit einer Portion Kalbsbraten zu Tränen und Mitteilungen gerührt haben will. Diesem munteren Füllen kommt es auf eine Frivolität mehr nicht an. Hoffentlich sind die Franzosen klug genug, sich an seinen geistreichen Wendungen zu ergötzen, seine geschichtlichen Daten aber aus dem Gedächtnis zu verlieren.

Kanne und Beethoven gehörten zusammen. Kannes Haar war noch struppiger und wilder, sein knochiges Antlitz noch härter, seine Gestalt noch breiter und klobiger. Aber er hatte die gleichen großen grauen Augen, eine Enzyklopädie an Gelehrsamkeit lief in seinem schmutzigen grünen Flauschrocke umher. Ich glaube, am bekanntesten wurde er durch seine Studien über Sittengeschichte, seine Aufsätze über Musik gelten für das Größte und Originellste, was darüber geschrieben wurde. Sie sind uns verloren, er hat sie zerrissen. Dissolut, unordentlich wie er war, vollendete er keines seiner Werke und hatte niemals Geld. Die ersten Bände seiner »Ästhetik der Musik« sind fertig, er bietet das Manuskript dem Musikalienhändler Steiner an und verlangt Honorar dafür. Steiner weiß, daß er alles liegen läßt und verlangt von ihm, er müsse sein Werk erst vollenden, dann werde er es ihm gerne abkaufen. Erzürnt verläßt ihn Kanne, geht heim in seine schmutzige, jämmerliche Wohnung und zerstört das unersetzliche Manuskript.

Kanne war ein heftiger, halsstarriger Mann mit den wunderlichsten Eigenheiten. Wehe dem, der ihn auf der Straße von hinten ansprach: »Guten Tag, lieber Kanne!«, und mit der Hand auf seine Schulter klopfte. – »Bandit, infamer!« schrie dann Kanne und hob seinen großen Stock, »ich dulde nicht, daß mich jemand von hinten anfällt, hol Sie der Teufel!«

Es mochte noch so ein guter Kamerad sein, so erging es ihm sicherlich immer so. Er war menschenscheu und ging nur vom Prater bis zur Wieden und von der Wieden nach der Josefstadt oder zur Landwehr spazieren. Er arbeitete auch nur auf der Straße. An seinem großen Stocke konnte eine kleine Schreibtafel befestigt werden. Fiel ihm etwas ein, so stieß er den Stock in die Erde, dort wo er eben stand – gewöhnlich im Prater – und fing an zu schreiben. Noten, Verse, Gedanken, wie es eben kann. Wehe dem, der ihm über die Schultern gucken wollte, er wurde heftig angeknurrt.

Er ist auch recht wunderlich gestorben. Man wollte nach einem Arzte schicken, als er sich nicht mehr vom Lager erheben konnte, aber im alten, ungeschwächten Zorne fuhr er in die Höhe und rief: »Ich werfe den Quacksalber, den ihr mir bringt, kopfüber die Treppe hinunter.«

Als man sah, daß es völlig mit ihm zu Ende ging, wollte man einen Geistlichen holen, reizte ihn aber dadurch nur zu einem gleichen Wutanfall. Grollend verschied er.

Es muß ein tragischer Anblick gewesen sein, diese beiden unglücklichen Titanen, die einander liebten, durch das Burgtor wandern zu sehen. Stumm gingen sie nebeneinander her, denn Beethoven hörte im Geräusch der Straße nichts, und Kanne führte niemand am Arme, auch seinen Freund nicht.


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