Reise durch das Biedermeier
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Wien

Die Stadt sieht schön wie das Vergnügen aus. Wenn man bereits einen Begriff von Wien hat, so ist man überzeugt, daß diese Stadt hierher gehört. Es paßt alles zusammen, Wien kann nirgends anders stehen. Es ist an seinem Orte. Hier ist gut sein, hier muß man sich amüsieren.

Das Wort »unterhalten« ist für Wien erfunden. Die Wiener selbst sagen: »No, i hoff', daß S' Ihna guat unterholt'n.«

Ich hatte mir Wien so vorgestellt. Ein weites, behagliches Talbecken, rings mäßig hohe grüne Berge, überall frischer lichtgrüner Rasen, inmitten die bequem hinschlendernde Donau, blitzende weiße Häuserreihen, Bäume dazwischen und wieder Häuser und Bäume, bis in die Berge hinein. Man knöpft sich die Weste auf, um von der behaglichen Wiener Luft umspielt zu werden. Und ich hatte Glück, es war ein frischer, üppiger Morgen: die Sonne schien vortrefflich, ein warmer Nachtregen hatte alles erquickt, und unter mir blitzten tausend Fenster. »Na«, dachte ich, »hier wird es genug Vergnügen geben. Tausend Fenster, in die ich hineingucken kann, sind viel zu wenig gerechnet, und ...«, ja, ich wußte nicht, was ich denken sollte, aber es war mir ganz scharmant zumute.

Die Hausknechte fegten die Straße, es war noch früh am Tage. Die Stubenmädel schlüpften an den Häusern hin. Sie gaben sich nicht viel unnütze Mühe, die blanken Schultern zu bedecken, das Tüchlein war doch zu schmal. Die Backen waren rot geschlafen, die Pantoffel klapperten unter den weißen, glatten Strümpfen. Wenn man sie ansah, so lachten sie. Es war alles richtig, die Atmosphäre war amüsant. Man sah es den Häusern an, daß es hier lauter Vergnügen gebe. Sie haben so etwas Onkelartiges, etwas von einem guten alten Hausfreunde, der immer nur Vergnügen zu machen trachtet und niemals über schlechte Zeiten klagt.

Die meisten Städte haben wirklich ausdrucksvolle Physiognomien. Wer könnte zum Beispiel nach Berlin hineinfahren und den vornehmen Straßen das verständige Wesen und die protestantische Abgeschmacktheit nicht ansehen. Wer kommt nach Hannover und sieht nicht in den leeren Gassen das förmliche Adeltum in den blanken, gescheuerten Spuckkästchen und den blankgescheuerten Hirnkästchen. Jedes Haus in Wien sieht fidel aus und lächelt. Es ist allerdings jenes Lächeln älterer Personen, die sich noch gerne amüsieren. Es ist kein junges, modernes Lächeln, aber es ist behaglich. Sogar die versteckten Regierungsgebäude imponieren nicht etwa, sie zucken ein wenig die Achseln und meinen: »A Urdnung muaß holt sein«; aber sie lächeln auch.

Ich zappelte in meinem Kabriolett, mich unter die hin und her trippelnden Leute zu begeben und mitzufragen: »Wia unterholt'n wir uns heit'?« Bis der Wagen in die Stadtmitte kam, war alles lebendig geworden, und die alten, schmalen Gassen wimmelten von Menschen.

Ich war noch nicht in meinem Gasthofe angekommen und wußte schon, wie es mir hier ergehen werde. Die ganze Lage der Stadt ist nicht glänzend schön, aber malerisch, reizend und weich. Der wärmere Himmel, die kugelrunde Sprache, die fleischigen, saftigen Körper der Wiener, ihre Sitten und Gebräuche, alles liegt sich so selig in den Armen, daß man selbst die Arme öffnet. Und in Wien öffnet sie niemand umsonst. Wien ist sehr menschenfreundlich und entgegenkommend.

Ich werde niemals diesen Wiener Morgen vergessen. Wie wunderlich, wie töricht kam mir mein bisheriges Leben vor, mit seinen Wissenschaften, seinen Theorien, seinen rastlosen Gedanken und Freiheitsbestrebungen. Mein Gott, dachte ich damals, wozu alle diese verworrenen Dinge. Hier ist Griechenland, hier ist Klassik, der Augenblick gilt. Die Dinge sind so, wie sie aussehen. Sie sollen und wollen weiter nichts bedeuten. Sie wollen genossen sein. Hier ist das echte Erdenglück, zieh dir den Samtrock und die weißen Beinkleider an, geh hinaus auf die Straße, küsse die Mädchen und iß Backhendl – was geht dich denn der Weltlauf an. Die Bücher ruinieren den Unterleib, die Gedanken stören den Schlaf und die Karriere. Ich stieg ins Bad, um den alten Menschen abzuwaschen. Dann setzte ich mich zum Frühstück. Nun, dachte ich, bist du wie Alexander in Babylon angekommen. Jetzt beginnt das Leben mit seinen Freuden.

Das Frühstück in Wien ist die Vorrede zu einem jener schönen Romane, deren wir so viele in der Jugend genossen haben. Man freut sich kindisch auf alle die Dinge, die der Tag bringen wird. Dann kommt der Barbier, eine wichtige Person in Österreich. Dies Geschäft wird in Norddeutschland mit sträflicher Oberflächlichkeit betrieben. Der Wiener Barbier verrichtet es mit Andacht und niemals ohne Supplementstriche. Wie manches gute Alte ist auch hier das epische Talent dieser Leute noch in Übung. Sie erzählen noch, was sich begeben hat und sich begeben könnte. Diese homeridische Tugend verschwindet in den sogenannten feinen Städten leider immer mehr. In Wien helfen die Barbiere den Staat konservieren.

Dann verfügte ich mich an die nächste Straßenecke. Dort schreien und jubeln rote, blaue und grüne Zettel und verkünden wie die alten lieben Marktschreier, was den Tag über in Wien geschehen solle.

Ich war ein Glückspilz: in feuerroten Buchstaben brannte es an der Rotenturmbastei: »Sperl in floribus«. »Sperl in floribus«, murmelte jeder Vorübergehende, und das Vergnügen sprang wie ein Gassenbube über die Gesichter. »Sperl in floribus«, lief es von Mund zu Munde, von Gasse zu Gasse. Wo zwei Leute miteinander sprachen, da drückten sie sich die Hände und sagten: »Heute ist Sperl in floribus.« Es war eine Vergnügungsemeute, die in diesen Worten neben mir herlief von der Ferdinandbrücke bis hinauf auf die Wieden. Es gab in ganz Wien eine Illumination freudiger Gesichter.

Und ich lief hinterher über den Stephansplatz, die Kärntnerstraße hinauf bis hinaus in den Volksgarten, und von da wieder herein zur Bastion. Es ist hier im Volksgarten und auf dem nahen Walle ungemein sauber, weiß und schön. Ein ebenso weißes großes Gebäude steht dicht am nahen Walle. Es sieht aus wie glänzendes Kanzleipapier, beschrieben mit zierlichen Buchstaben. Das ist Metternichs Haus. Eine kleine Brücke führt auf den Wall, zehn Schritte davon ist die Burg. Von dort sieht man oft über diese Brücke den Fürsten einherschreiten mit dem Portefeuille der europäischen Konservation in der Hand.

Der Volksgarten ist, wunderlich genug, sehr nahe dabei. Ich mußte mir aber zugestehen, daß ich mit viel Glück sogleich die Hauptpersonen einer Stadt zu finden wußte. Nach Metternich ist Sperl der wichtigste Mann in Wien. Jener ist Minister des Auswärtigen, dieser Minister des Innern.

Bei den meisten deutschen Schriftstellern, die ihre Bücher nicht eben in der Kanzlei anfertigen, ist es eine hergebrachte Mode, bei dem Namen Metternich einige Verwünschungen auszustoßen und von Freiheit und Tyrannei zu sprechen. Metternich ist für mich von den Gewalthabern der neueren Zeit nach Napoleon der größte. Ich mäkle nie an der Größe. Ich bin ein Historiker, und Historie ohne Poesie ist ein Unding. Von einerlei Farbe ist nur die Langeweile.

Metternich ist ein Held und ein Halbgott, so gut wie Achill und Cäsar, Alexander und Napoleon Bonaparte. Die Geschichte wägt nicht bloß die Prinzipien, sondern auch die Taten nach ihrer spezifischen Schwere. Metternich hat den alten, schwer bedrohten Absolutismus unter allen Stürmen an der Regierung erhalten. Er hat ihn gegen die unbändige Republik Frankreich, gegen den unwiderstehlichen, glänzenden Usurpator Napoleon gewahrt. Er ist der jetzige Gott des Absolutismus. Vor Göttern muß man sich beugen, auch wenn man sie nicht liebt.

Wo man sein Bild in Wien erblickt, wird man genötigt, stehenzubleiben. Es ist der Kopf des olympischen Zeus, wie ihn Phidias geformt hat. Die Besorgnis jenes griechischen Kritikers hat mich dabei nicht einen Augenblick verlassen, daß dieser Zeus die Decke seines Tempels zerstoßen würde, wenn er sich einmal in seiner ganzen Länge aufrichtete. Es ist sehr möglich, daß Metternich einst das blaue Sternendach des Absolutismus zertrümmert, wenn er seine Glieder im Tode streckt.

Ich kenne nach Napoleons Antlitz keinen schöneren Männerkopf als den Metternichs. Wer es nicht weiß, daß er Österreich und halb Europa regiert, der braucht nur in einem Wiener Kunstladen oder auf dem Josefsplatze in die Porzellanniederlage zu treten, er wird es erfahren. Und diese Abbildungen sind echt. Die hohe, weiche Stirne, die stolz gewölbten Augen, der vornehme Zug über der edlen Nase und dem schmalen, feinen Mund hinweg, alle diese Kennzeichen des Olympiers besitzt Metternich wirklich. Es war in dem glänzend erleuchteten Theater der alten Stadt Prag, wo ich ihn in die Loge treten sah, wo ich jene Bilder mit ihm vergleichen konnte.

Man erzählt mehrere Witzworte Napoleons über Metternich. Der schön gewachsene, die Damen suchende österreichische Kavalier schien ihm nicht gefährlich. Und Napoleon hatte außer dem Winter und der Freiheitslust der europäischen Völker keinen härteren Feind in Europa als den Fürsten Clemens Metternich. Nicht einmal die Brautmusik bei der Hochzeit der Tochter seines Kaisers, nicht der schöne König von Rom, den die Habsburgerin Napoleon gebar, nicht die natürlichsten Gefühle hielten ihn ab, seinem größeren Plane treu zu bleiben. Er glich den Kreuzrittern, die geschworen hatten, das Heilige Grab zu befreien.

Das Heilige Grab aber war für Metternich der Gedanke der Legitimität, den der korsische Abenteurer mit seinen Stiefeln getreten und den er mit Kot besudelt hatte. Mochten es auch die Stiefel eines Halbgottes und der Kot, der sich in den wunderbarsten Schlachten angesammelt hatte, sein, Napoleon mußte herunter vom Sitz des Heiligen Ludwig. Nicht die rohe Jakobinerfaust, sondern die zarte Hand Napoleons war dem Prinzip des unwandelbaren Rechtes gefährlich.

Und so trat denn jener Clemens Metternich, den Napoleon als junger Kaiser verspottet hatte, 1813 in Dresden am Schlusse des bedrohlichen Waffenstillstandes vor Napoleon. Es war derselbe Kavalier aus Österreich, der vor sieben Jahren in Paris vorgesprochen hatte, aber diesmal ließ er bekanntlich den kleinen Hut liegen, der dem Kaiser beim heftigen Aufundabgehen aus der Hand gefallen war.

Wenige Monate darauf, als der nächste Frühling kam, war Metternichs Schwur erfüllt und das Heilige Grab vom Renegaten befreit. Es kamen die Jahre, da kleine englische Mädchen den gelähmten Riesen auf St. Helena Whist spielen lehrten. Und die siegreichen Schlachten Metternichs begannen, die Schlachten zu Wien, Aachen, Troppau, Laibach, Verona, Münchengrätz und wiederum zu Wien, die Schlachten für das Staatsprinzip, wie es vor Luthers Zeit geherrscht hatte. Metternich ist vielleicht der einzige Mann in Europa, der weiß, daß das Christentum und jeder alte Glaube mit Luther zu Ende ging. Österreich und Metternich haben darum jede Art von Protestantismus bis aufs Blut bekämpft. Denn sie halten mit Recht eine halbe Religion und einen halben Absolutismus für ebenso schlimm wie Irreligiosität und Republik, sie fürchten eine chronische Krankheit ebenso wie eine akute.

Am meisten an dem System imponiert seine Geschlossenheit. Wer weiß übrigens, wieviel Systematik man Metternich unterlegt? Es ist das schöne Geschick großer Männer und der historische Ausdruck ihrer Bedeutung, daß die Hauptgedanken ihrer Zeit ihnen zugesprochen werden, sie mögen darauf Anspruch haben oder nicht. Übrigens interessiert sich Metternich sehr für alles Geschriebene. Er läßt sich jedes wichtige Buch vorlegen, er belauscht jedes leise Flüstern des Zeitgeistes. Ich weiß nicht, ob er an den absoluten Gedanken, für den er kämpft, selbst glaubt. Ob er fähig ist, selbst ein System zu erfinden. Aber die Fähigkeit, ein System zu erfinden und dafür zu kämpfen, erringt meine vollste Bewunderung, auch wenn ich dieses System niemals liebte.

Dieses System ist übrigens nicht so künstlich, wie man behauptet, aber es ist ganz, und das ist sein Vorzug. Das politische Geschehen ist nicht das Resultat tiefer gelehrter Studien, sondern das Ergebnis der Wochen und Monate, die man ungestört kommen und gehen läßt, und des Bemühens, alle Änderungen zu vermeiden.

Mit dem ersten Gedanken der Reformation wurde jede frühere Weltanschauung erschüttert. Die unmittelbare »Verbindung mit dem Himmel« war aufgehoben, der Glaube und jede unbezweifelte Autorität waren dahin. Seit jener Zeit behilft man sich im Staatswesen und im religiösen Leben mit Surrogaten. Das hat man in Österreich von jeher geahnt, und Metternich weiß das. Um des Glaubens in jeder Beziehung willen hat Österreich viele Tausende von Menschen und Gulden im Dreißigjährigen Krieg und in den Kriegen mit Friedrich dem Großen und Napoleon geopfert. Sein Glaube, der älteste und umfassendste Restaurationsglaube, ist jetzt am stolzesten in Metternich verkörpert. Er ist der moderne Philopömen, jener gewaltige Grieche, der die alten Götter und Reiche vor den neuen Römern schützen wollte.

Ich glaube nicht an seinen Sieg. Er ist gezwungen, einen bloßen Verteidigungskampf zu führen. Ich glaube aber auch nicht an einen dauernden Sieg seiner Gegner, wenn sie nicht klügere Staatsformen erfinden.

Ich saß auf einer Bank an der schönen Terrasse unweit Metternichs Hause. Die Morgensonne schien warm und liebenswürdig, und ich ging ernstlich mit mir zu Rate, ob ich denn ganz verderbt und meinen Ideen vollständig untreu geworden sei. Ich will aufhören, sonst bringe ich es am Ende noch gar zu einem Orden.

Ich bin sehr neugierig, wie mein Urteil über Wien weiter ausfallen wird, über diese Stadt eines Paradieses ohne Feigenblatt, Schlange und Baum der Erkenntnis. Es ist zu befürchten, daß ich mich durchweg günstig darüber äußern werde, denn mein Magen war zu jener Zeit in vortrefflichem Zustande. Ich fürchte, ich werde Märtyrer, bleibe in Wien und setze Geist, Liberalismus und Havannazigarren aufs Spiel, die in Wien nicht zu kaufen sind. Fremder Tabak ist hier nämlich nicht erlaubt. Darum ist Wien aber Wien, daß man nach einigen Wochen hier nichts Fremdes mehr braucht und vermißt.

Ist das der Einfluß einer hohen Kultur oder was sonst? Auf die Beantwortung dieser Frage allein kommt es an. Darauf beruht die Schilderung Wiens und unserer Zeit. Ich und der Staberl wollen unser Mögliches tun. Wir wollen auch nicht verraten, daß Metternich alt wird, so wie sein System, und auch sterben muß. Es ist schlimm für seinen Ruhm, wenn ihn der Tod lange warten läßt.


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