Mirok Li
Iyagi
Mirok Li

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1. Am Schwanz des Tigers

An einem schmalen Pfad im tiefen Gebirge ruhte ein Wanderer. Er war den ganzen Tag gelaufen; seine Beine waren müde geworden. Er legte sich nieder und schlief ein. Er schlief lange.

Als die herbstliche Dämmerung sich auf das bunte Laubwerk senkte, kam ein Tiger vom Berg herab und fand den Mann noch in tiefem Schlaf. Er wußte aber, daß ein anständiger Tiger keinen schlafenden Menschen angreift. So ging er zu einem nahegelegenen Bach, tauchte seinen Schwanz tief ins Wasser, kam zurück und bespritzte mit seinem nassen Schwanz das Gesicht des Schlafenden, damit der aufwache.

Der Wanderer wachte nicht auf. Er schlief weiter. Der Tiger lief noch einmal zum Bach, tauchte noch einmal seinen Schwanz ins kühle Wasser, kam zurück und schlug das Gesicht mit dem nassen Schwanz. Wieder vergebens. 26

Wohl oder übel mußte der Tiger zum dritten Mal die Wanderung zum Bach unternehmen. Als er zurückkehrte, war nun der Wanderer langsam zu sich gekommen und merkte gleich, daß er von einem furchtbaren Tiger aufgeweckt wurde. In Verzweiflung packte er schnell mit beiden Händen den nassen Schwanz.

Durch diesen plötzlichen Angriff erschreckt, sprang der Tiger mit aller Leibeskraft davon und lief den Berg hinauf. Der Wanderer lief mit. Denn, wenn er den Schwanz losließe, drehte sich der Tiger um und fräße ihn. Dem Tiger wurde es allmählich auch ängstlich zumute, weil sein Schwanz immer noch so festgehalten wurde. Er lief weiter den Berg hinauf. Er dachte, daß über dem Gipfel seine Frau wohnte, die ihm helfen würde, den merkwürdigen Menschen vom Schwanze abzuschütteln.

Sie waren beinahe auf dem Gipfel angekommen, als der Wanderer die 27 Absicht des Tigers erkannte, und ihn nun mit aller Kraft zurückriß. Diesem plötzlichen Ruck konnte der Tiger nicht widerstehen. Er kam rücklings ins Rutschen und rutschte weiter abwärts ohne aufzuhören. Er rutschte fort und fort, bis beide schließlich an der Stelle waren, von der sie ausgegangen. Da erkannte der Tiger die Absicht des Menschen. Hier war der Menschenweg, der für einen Tiger gefährlich werden konnte. Er mußte mit allen Mitteln den Menschen wieder zum Gipfel hinaufziehen. Kaum waren sie aber auf dem Gipfel, so rutschten sie zusammen wieder den Berg hinab. So stiegen sie die ganze Nacht auf und ab. Gegen Tagesanbruch waren beide sehr müde. Der Tiger schnaubte vor Wut und der Mensch schwitzte in Todesangst.

Zum Glück kam da ein anderer Wanderer des Weges und sah mit Entsetzen dem gefährlichen Wettstreit zu. Da rief der Held am Tigerschwanz den Fremden herbei: »Komm einen Augenblick 28 her, halt diesen Schwanz fest! Laß ihn aber nicht über den Berg. Ich komme gleich zurück.«

Der andere gehorchte, weil er glaubte, der Befehlende sei ein großer Held. Dieser Held nahm aber Reißaus, und am Schwanz des Tigers hing der zweite Mensch.

Seitdem waren drei Jahre vergangen, als unser Wanderer zufällig wieder denselben Weg gehen mußte. Eben dachte er an den furchtbaren Tiger und an das Schicksal seines armen Nachfolgers, als er zu seinem großen Schrecken einen zum Skelett abgemagerten Menschen und einen ebenso abgemagerten Tiger langsam und gemächlich den Berg heruntersteigen sah. Hier unten ruhten sich die beiden einen Augenblick aus. »Wie ist es denn möglich, daß du noch lebst?« fragte der Erstaunte, »du hast diese drei Jahre doch nichts zu essen bekommen?«

»Das natürlich nicht«, sagte der abgezehrte Mensch, konnte aber nicht 29 weiter sprechen, weil er wieder, von dem Tiger gezogen, aufwärts steigen mußte. 30

 


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