Mirok Li
Iyagi
Mirok Li

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10. Das Padukspiel

Unter dem hohen Kuolsan-Berg wohnte in der alten Zeit ein guter Holzfäller, der jahraus und jahrein immerzu Holz fällte, um damit seine Frau und seinen Knaben zu ernähren.

Jeden Morgen ging er mit seiner Axt ins Gebirge und kam erst abends nach Hause. Zwischen dem Axtschwingen sah er aber oft zu dem hohen Berg hinauf, um dessen Gipfel die Wolken kreisten. Er wollte einmal zum Gipfel hinaufgehen, denn er wußte, daß droben, in den Wolken verborgen, die Götter Paduk (ein ostasiatisches Brettspiel mit weißen und schwarzen Steinen, das in Europa unter dem japanischen Namen »Go« bekannt ist) spielten. So legte er an einem frühen Morgen, als sich der felsige Gipfel eben wieder mit dichten Wolken verschleierte, seine Axt nieder und stieg höher hinauf. Es war freilich kein Weg da, weil 58 ja niemand vor ihm diesen hohen Berg bestiegen hatte. Er stieg aber immer höher, von einem Felsen zum andern, überquerte viele Sturzbäche und verlor sich bald ins Nebelmeer. Alaksani vermutete, daß er nun über die Menschenwelt gestiegen sei und den Bereich der Götter erreicht habe. Es klangen auch schon von der Ferne zauberhaft schöne Töne, bald Klänge von Flöten, bald von Komungo (ein koreanisches Saiteninstrument), die sicher von den badenden Feen gespielt wurden. So stieg er ermutigt weiter, ohne zu ruhen. Er sah nun Pulotso, die schöne Blume der Unsterblichkeit, zwischen den Felsen blühen, die er bisher nur als Bilder auf den Wandschirmen gekannt hatte. Das war die himmlische Blüte, deren Genuß einen Menschen über tausend Jahre leben läßt. Er stieg weiter und weiter und war endlich dem Gipfel nahe. Leisen Schrittes und pochenden Herzens schritt er nun, bis er alle Wolkenwände hinter sich 59 hatte und unter einem hohen Felsen zwei würdevolle Greise vor einer Weintafel sitzen sah. Sie spielten wirklich ihr Paduk, wie es Alaksani vom Kindesalter her wußte. Zögernd näherte er sich ihnen und verneigte sich zum Gruß.

»Ach! ein Erdenmensch!« rief einer von ihnen lächelnd, während der andere nur verständnisvoll nickte.

»Verzeiht mir!« sagte unser Alaksani, allen Mut zusammennehmend, »daß ein kleiner Mensch der Erde sich in eueren hohen Bereich verirrt hat!«

Sie nickten ihm freundlich zu und spielten weiter. Es war aber noch ein kleiner Knabe da, der hie und da den alten Herren Wein einschenkte. Auch Alaksani erhielt einen Becher zu trinken, ohne zu wissen, daß er durch diesen Trunk Tausende von Jahren leben würde. Als er den Becher geleert hatte und dem Spiel weiter zusah, sagte einer der beiden Greise zu ihm: »Steig jetzt nur wieder zur Erde hinunter; jeder 60 Steinschlag unseres Spieles bedeutet Jahre der Erdenzeit!« Alaksani verneigte sich tief und entfernte sich von diesem himmlischen Platz. Er stieg schnell ab und erreichte abends wieder seinen alten Platz, an dem er seine Axt und sein Traggestell gelassen hatte. Aber was mußte der arme Holzfäller erleben! Der Griff seiner Axt und das ganze Traggestell waren so morsch geworden, als wären sie Jahrhunderte dagelegen. Bestürzt zog er heimwärts und fand sein Haus nicht mehr. Es war verschwunden, und an seinem alten Platz standen hohe Gräser. Als er weiterging und sich in einem fremden Hause nach seiner Frau und seinem Kind erkundigte, sagte man ihm: »Ach ja, wir haben einmal gehört, daß etwa vor tausend Jahren ein gewisser Alaksani unter dem hohen Berg gelebt hat. Er ist aber verschwunden, nachdem er sein Haus und seine Frau ohne ein Wort des Abschieds verlassen hat.« Als Alaksani sagte, daß er erst heute morgen zum 61 Gipfel des Berges gestiegen sei, glaubte man ihm nicht.

Er ging nun zu anderen Leuten und erkundigte sich wieder nach seinem Haus und seiner Frau. Überall hörte er dasselbe, und niemand glaubte ihm, daß er selber Alaksani sei.

Er ging in das Nachbardorf, um zu sehen, ob er dort seine Freunde treffen könnte. Nein, kein Mensch war mehr da, den er kannte.

Nun mußte der arme Alaksani selbst glauben, daß er tausend Jahre auf dem Gipfel bei dem Padukspiel verbracht hatte. Er war der einzige Mensch aus der uralten Zeit, die ihm nun verloren gegangen war. Es war kein einziger Mensch, kein einziges Haus, kein einziger Baum aus seiner Zeit da. Er sehnte sich nach seiner Frau, seinem Kind und seinen Freunden. Reuevoll sah er zu dem Berg empor, dessen Gipfel sich wieder mit Wolken verhüllt hatte, und fühlte sich so einsam, daß er daran starb. 62

 


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