Mirok Li
Iyagi
Mirok Li

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23. Uolmä und die böse Stiefmutter

Auf der Insel Kanghoa lebte ein schönes Mädchen Uolmä zufrieden und glücklich mit ihren Eltern. Ihre Mutter starb aber früh, und die Stiefmutter, die dann ins Haus kam, meinte es nicht gut mit ihr. Sie ließ das kleine Mädchen Tag und Nacht arbeiten, ohne Rast und ohne Ruhe. Uolmä kochte in der Küche, Uolmä wusch am Bach, Uolmä kehrte morgens und abends alle Zimmer und alle Höfe. Doch war die Stiefmutter nie zufrieden. »Heute schmeckt mir das Essen so bitter wie Galle«, sagte sie oft, oder »die Wäsche ist wieder einmal nicht sauber gewaschen!« Immer tadelte sie Uolmä und verklagte sie bei ihrem Vater. Der Vater, der diese Frau über alles liebte, wurde zornig und schlug die Tochter. »Ich werde sie noch besser züchtigen!« schwur er der unzufriedenen Frau. Das arme Mädchen, das so heftig geschlagen wurde, weinte die 126 halbe Nacht hindurch, und am nächsten Morgen hörte sie schon wieder ihre Stiefmutter schelten, weil sie so lange liegen bliebe. Wenn sie dann aufstand und aus ihrem Zimmer ging, stand ihr Vater schon mit einem Stock vor der Tür, um sie zu strafen.

Uolmä arbeitete nun auch in der Nacht und stand schon auf, wenn der Hahn schrie, um nicht geschlagen zu werden. Dafür bekam sie nur morgens und abends eine Handvoll Hirse zu essen. Nun war die Stiefmutter einigermaßen zufrieden und der Vater glücklich. Eines Tages aber sagte seine Frau zu ihm: »Dein Kind arbeitet ja nun ziemlich fleißig, aber sie hat eine so häßliche Stimme! Kannst du sie nicht stumm machen?«

Er ging in die Stadt, kaufte ein scharfes Gift und gab es dem Mädchen zu trinken. Uolmä wußte nicht, was es war, und trank es. Die ganze Nacht hustete sie, sie bekam Schmerzen in der Brust und als sie in der Frühe zu ihrem 127 Vater ging und ihn um ein anderes Heilmittel bitten wollte, konnte sie nicht mehr sprechen. Nicht einmal ein Flüstern kam aus ihrer Kehle heraus. Sie weinte traurig vor sich hin, während ihre Stiefmutter vor Freude lachte. Stumm tat Uolmä nun ihre Arbeit und war froh, daß die Stiefmutter nicht mehr zankte, und daß der Vater zufrieden war. – Es dauerte aber nicht lange, da sagte die Frau zu ihrem Mann: »Ach wie häßlich ist der Blick deines Kindes, der immer nach unserem guten Essen schielt! Kannst du nicht ihren Blick verbergen?«

»Wenn sie aber blind wird«, meinte er, »dann kann sie nicht mehr arbeiten.«

Die Frau sagte darauf: »Sie hat doch noch Hände, mit denen sie gut arbeiten kann!«

Da ging er in die Stadt, holte wieder Gift und gab es Uolmä zu trinken. Sie bekam gleich einen heftigen Schmerz an den beiden Augen, und es kamen viele Tränen heraus. Sie rieb und rieb 128 die Augen mit den Händen und merkte, daß alles ringsherum immer mehr verschwamm. Endlich wurde es so dunkel um sie, als ob ihre Augen zugebunden wären. Wie ein toll gewordener Hund wälzte sie sich auf dem Boden, während ihre Stiefmutter vor Schadenfreude lachte und tanzte.

Noch ehe der furchtbare Schmerz in ihren Augen vorüber war, mußte sie schon wieder anfangen zu arbeiten. Sie mußte nun mit den Händen tasten, wenn sie von einem Platz zu dem anderen gehen wollte. Sie konnte nicht mehr ausweichen, wenn ihr Vater sie mit dem Stock schlug, denn sie sah nicht, wo er stand. Sie hörte aber, wie ihre Stiefmutter lachte, wenn Uolmä mit den Händen tastend sich von Platz zu Platz bewegte, wenn sie den Löffel in den Hirsetopf hinein tat und wenn sie abends zu ihrem Zimmer hinschlich.

»Sieh nur dein Kind an!« sagte sie eines Abends zu ihrem Mann. »Wie eine Katze kriecht und schleicht sie! Ich kann 129 es nicht mehr sehen, dieses schleichende Mädchen, du mußt sie doch aus dem Hause jagen!«

»Sie kann aber weder betteln gehen noch arbeiten, weil sie nicht sieht und nicht sprechen kann«, entgegnete er. Er hatte doch ein wenig Mitleid bekommen beim Anblick seines blinden und stummen Kindes, das früher so schön gewesen war und so glücklich gelebt hatte.

»Du kannst sie aber in eine Tigerfalle tun!« sagte die Frau. »Wenn ein Tiger sie frißt, haben wir sie endlich los, das häßliche Mädchen, das weder spricht noch sieht.«

Als der Mann zögerte, das zu tun, rief sie ungeduldig: »Wenn du es nicht heute noch tust, werde ich noch diesen Abend sterben vor Ärger über das häßliche Kind deines früheren Weibes.«

So führte er Uolmä ins Gebirge hinein. Uolmä klammerte sich fest an ihren Vater und wollte nicht weitergehen. Sie 130 wußte, daß man mit ihr nichts Gutes vorhatte. Sie hatte eine so große Angst, daß ihr Vater sie nun zum Tod fortschleppen wollte. Sie hätte ihn so gerne bitten mögen, doch ein wenig Mitleid mit seinem Kind zu haben. Doch konnte sie weder sprechen, noch war sie stark genug, sich loszureißen. Er sagte: »Du mußt folgsam sein und dorthin gehen, wohin ich dich führe. Ich muß dich in die Tigerfalle hineintun, weil deine Stiefmutter es so haben will.« Da wurde es Uolmä todesbang ums Herz. Sie konnte aber nichts anderes tun, als sich fortschleppen zu lassen. Nachdem der Vater sie in die Falle gestoßen hatte, ging er fort, ohne ein Wort zu sagen. Er freute sich nur, daß seine Frau nun endlich ganz zufrieden mit ihm sein würde.

Als Uolmä aus einer tiefen Ohnmacht aufwachte, war sie von einem wunderbaren Blumenduft umgeben und lag nicht mehr auf der kalten, harten Erde, sondern auf einem weichen, seidenen 131 Bett. Sie hörte auch Menschen sprechen, viele Stimmen flüsterten, als sie sich bewegte und mit den Händen um sich tastete. Es kam ihr alles so sonderbar vor und sie hätte so gern fragen und sehen mögen, wo sie war. Jetzt wurde es plötzlich still und jemand trat an ihr Bett und sagte: »Verwundere dich nicht, du liebes Kind! Wir haben dich aus der Tigerfalle geholt, weil der Himmelsherr es mir befohlen hat, dich hierher zu bringen und zu pflegen. Du bist von dem hohen Himmelsherrn zur Frau meines einzigen Sohnes bestimmt, der in späteren Jahren unser Land regieren wird. Wohl bist du stumm und blind, doch bist du das schönste Kind unseres Landes und mein Sohn wird mit dir glücklich sein.«

Das war der König, der so milde zu Uolmä gesprochen hatte. Uolmä konnte es kaum fassen. Ihr Herz pochte vor diesem großen Schicksal, und sie fürchtete sich sehr. Es kamen aber die Zofen des königlichen Hofes und 132 pflegten sie, und in wenigen Tagen wurde sie gesund und so schön, daß alle Menschen zu ihr kamen und sie sehen wollten. Nur allein der Königssohn kam nicht zu ihr, weil er doch so gern eine Frau mit sehenden Augen und einer lieblichen Stimme haben wollte, denn er war ein schöner Prinz und wollte sich lieber selbst eine Gemahlin nach seinem Herzen wählen. Sein Vater aber verbot ihm, etwas anderes zu tun, als was der Himmelsherr ihm bestimmt hatte.

Erst nach 49 Tagen kam er zu seinem Vater und sagte: »Nun habe ich den Schmerz überwunden, daß ich eine blinde und stumme Frau heiraten soll. Ich werde das arme Kind lieben, das mir der Himmelsherr geschickt hat.«

Der König führte ihn nun zu seiner Braut. Als sie in ihr Zimmer eintraten, blieben sie stehen und wagten kaum, sich Uolmä zu nähern, aus deren Gesicht ihnen zwei wunderschöne Augen wie Sterne entgegenstrahlten. 133 Sie erhob sich und machte eine tiefe Verbeugung vor dem König: »Ich bin soeben wieder sehend geworden«, sagte sie mit einer sanften, wohlklingenden Stimme.

Als nun die beiden schönsten Menschen des Landes als glückliches Ehepaar durch ihr Reich fuhren, veranstalteten sie überall, wohin sie kamen, ein großes Fest, zu dem alle Kinder eingeladen wurden, die eine Stiefmutter hatten. Die Stiefmütter aber mußten dem Prinzen versprechen, daß sie ihre Stiefkinder so lieb haben würden wie ihre eigenen. Das taten sie auch gerne, denn die Kinder wurden ja so reichlich beschenkt mit Kleidern und Kühen und Hühnern und Äckern, so daß sie dank ihrer Stiefkinder ein gutes Leben führen konnten.

Nur Uolmä's Stiefmutter konnte nicht zu dem Prinzen gehen, weil sie ja kein Stiefkind mehr hatte. Da bereute sie es, Uolmä in die Tigerfalle geschickt zu haben, und machte ihrem Mann 134 Vorwürfe, wie er sein eigenes Kind einem Tiger hätte vorsetzen können. »Ich habe das nur getan, damit du glücklich werden könntest«, sagte er und wurde traurig. Die Beiden gingen dann doch zu dem gütigen Prinzen und klagten über ihr Schicksal. »Wir hatten ein sehr liebes Stiefkind, das von einem Tiger gefressen worden ist. Wir haben sie sehr geliebt und möchten gern von dem hohen Prinzen auch beschenkt werden, weil wir so traurig sind über die verlorene Tochter.«

Da wußte der Prinz, daß sie die Stiefmutter seiner lieben Frau war. Er rief Uolmä herbei, und sie erschien in vollem Schmuck und himmlischer Schönheit. »Blickt sie an!« sagte der Prinz, »ich brauche euch nicht zu trösten, denn euer Stiefkind ist nicht von einem Tiger gefressen worden, wie ihr sagt, sondern sie ist meine Frau, die geliebte Prinzessin des Landes geworden.«

Die beiden Menschen wurden totenblaß vor Schreck und Scham, als sie die 135 Prinzessin erblickten. Sie baten sie reumütig um Vergebung, und Uolmä beschenkte sie in ihrer Herzensgüte ebenso reich wie alle anderen Stiefeltern. 136

 


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