Mirok Li
Iyagi
Mirok Li

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39. Mudhoni, ein koreanisches Bauernmädchen

Erzählung von Mirok LiIm Jahrgang 1935 von Atlantis brachten wir unter dem Titel »Suam und Mirok« Kindheitserinnerungen des Koreaners Mirok Li, die dann später einen Teil des Buches »Der Yalu fließt« (Piper-Verlag München) bildeten. Vor zwei Jahren ist der in Deutschland lebende Verfasser gestorben; und die Familie, in der er lebte, stellt uns aus seinem Nachlaß diese Erzählung zur Verfügung. – Die Redaktion

Die Herbstsonne war schon jenseits des Gelben Meeres. In einer felsigen Bucht an der östlichen Küste, wo einige Bauern- und Fischerhütten standen, stieg der blaue Abendrauch in die frostig frische Luft. Weiter oben, wo sich das Tal zu einer ahornroten Schlucht verengte, sank schon der Schleier der Nacht über die grauen Dächer der Häuser.

Das war Yulgok – das Tal der Kastanien –, durch welches der schöne Fluß »Neunweiher« seinen kurzen Lauf nahm. In vielen scharfen Windungen 211 entrann er der Schlucht und bildete neun tiefe hellgrüne Weiher. Dann überwand er in jähem Sturz einen großen Felsblock, strudelte, brauste, dehnte sich beruhigt in die Breite. Hier war die Grenze zwischen dem Oberdorf, in welchem viele reiche Seidenraupenzüchter ihre großen Betriebe hatten, und dem Unterdorf, dessen verstreute, strohbedeckte Häuser bis zum Meeresstrand von armen Fischern und Bauern bewohnt waren. Man sagte, daß alle Reisfelder des Tals in früheren Zeiten den Bauern des Unterdorfes gehört hätten. Jetzt aber arbeiteten die meisten von ihnen als Kleinpächter auf dem Eigentum eines reichen Grundbesitzers, der in der benachbarten Stadt wohnte. Die schönen Felder mit dem reifen Gold, in dessen Schimmer das ganze Tal im Herbst so herrlich leuchtete, gehörten dem fremden Städter. Doch waren die Menschen in ihrer Armut zufrieden und glücklich. Sie konnten im Meer fischen, sie konnten 212 Austern und Muscheln, Seeschnecken und Krabben fangen. Wenn sie dann abends bei ihrem Fischgericht und guter Hirse zusammen saßen, wenn der Sturm draußen tobte und die Wellen brausten, dann konnten sie die übrige Welt vergessen.

Es war schon ganz dunkel, als Frau Suab, die Witwe eines armen Kleinpächters, von der Arbeit heimkam. Sie ging gleich in die Küche, wo ihre vierzehnjährige Tochter Mudhoni das Abendbrot bereitete.

»Gleich ist das Essen fertig«, sagte das Mädchen, »das Feuer hat heute so schlecht gebrannt!«

Die Mutter schaute in den Kessel hinein. »Was kochst du denn da?« – »Hirse!«

»Aber es ist ja gar keine drin!«

Mudhoni guckte erschrocken in den Kessel. – Wahrhaftig! Da kochte das leere Wasser.

»Lauter Wasser können wir doch nicht essen!« meinte die Mutter und 213 lachte. – Auch die Fische waren noch nicht geschuppt. Frau Suab machte sich schnell selbst an die Arbeit. Beschämt eilte Mudhoni, der Mutter zu helfen.

»Warst du heute bei Frau Munhoa?« fragte diese. »Ja«, sagte Mudhoni schnell, »und . . . .«

»Was und?«

»Er ist gekommen.«

»Ach so? Deshalb bist du so spät daran! Wie sieht der Bub aus?«

»Gut!« sagte Mudhoni und errötete.

Diesen Knaben hatte Mudhoni in ihr Herz geschlossen. Er war elf Jahre alt und wurde Umul gerufen. Auch die Mutter liebte ihn und nannte ihn »den guten, den lieben Buben«. Sie machte sich aber viele Sorgen, weil ihre Tochter ihn zu gerne hatte. Das dumme Kind wünschte sich nichts heißer, als einmal seine Braut zu werden, die Braut dieses reichen Knaben! Er war der Sohn des Grundbesitzers, dem die Reisfelder im Kastaniental gehörten. Auch das kleine 214 Häuschen, in dem Frau Suab und ihre Tochter wohnen durften, war Eigentum seines Vaters. – Als sie bei Tisch saßen, fragte die Mutter: »Warst du artig?«

Mudhoni nickte. Sie blickte durchs Fenster und löffelte nur langsam.

»War er lieb zu dir?«

»Er ist immer lieb, er hat mich umarmt!«

»Ja, er ist lieb«, sagte leise die Mutter.

Als sie vor zwei Jahren nach dem Tod ihres Mannes bei der reichen Familie in der Stadt gewesen waren, hatten sie ihn zum erstenmal gesehen. Damals mußte sich Frau Suab von den Eltern dieses Knaben die Erlaubnis erbitten, weiterhin in dem Häuschen wohnen und das Pachtrecht auf den Feldern behalten zu dürfen, wie zu Lebzeiten ihres Mannes. Mit Angst im Herzen war sie hingegangen, weil sie zweifelte, ob ihre Bitte gewährt werden würde; denn der Boden war knapp für 215 die Gemeinde, und jeder Bauer hoffte, etwas von dem Pachtrecht des verstorbenen Bauern erben zu können. Wie viele mochten schon vor ihr mit dem gleichen Anliegen dort gewesen sein! Bangen Herzens war sie über die Schwelle des großen Hauses getreten, nachdem sie den weiten Weg bis zur Stadt gewandert waren. Mudhoni wollte zuerst gar nicht hineingehen; sie hatte zuviel Angst vor dem großen Haus und den vielen fremden Menschen, die darin aus- und eingingen. Aber sie mußten ja diesen Kampf ausfechten, um leben zu können. »Sie tun uns gar nichts!« hatte sie die Tochter getröstet, obwohl ihr selbst so wenig zuversichtlich zumute war.

Da war der Knabe, der das zehnte Lebensjahr noch nicht erreicht hatte, ihnen entgegengekommen, hatte mit dem braunen Landmädchen, das so dürftig gekleidet war, gescherzt und gespielt, und war so freundlich und zutraulich auch zu ihr gewesen, als ob sie, 216 die beiden Armen, mit ihm verwandt wären.

Und sicher hatte seine Anhänglichkeit viel dazu beigetragen, das Herz seiner Mutter zu rühren, die ihr nicht nur die Bitten gewährte, sondern auch noch den Hauszins für die Trauerjahre schenkte, weil sie so viel für das Begräbnis hätte ausgeben müssen. Frau Suab hatte den Buben zum Abschied umarmt und geküßt, die arme Mudhoni aber hatte bitterlich geweint, als die herrlichen Tage in dem reichen Haus wieder vorüber waren. So viel Gutes hatte sie dort zu essen bekommen, so viel Schönes gesehen; und wie glücklich war sie gewesen, mit dem freundlichen schönen Knaben spielen zu können! Unterwegs, als die beiden unter einem Haselnußstrauch rasteten, hatte Mudhoni leise gefragt, ob sie Umul heiraten könnte. »Ach, du dummes Kind, du dumme Mudhoni!« hatte die überraschte Mutter gerufen. Aber war es denn ein Wunder, daß das 217 Kind auf solche Gedanken kam? Das schöne Haus, die vielen guten Dinge und der liebe Bub! Oh, Gott – was wäre das, wenn das Kind wirklich einmal . . . . Nein, daran durfte man gar nicht denken. Wenn sie nur nicht so grenzenlos arm gewesen wäre! Den ganzen Winter hindurch hatte sie ihrem Kind nur jeden zweiten Tag gute Hirse geben können. Das wachsende Mädchen sah so blaß und mager aus. Und der glückliche Knabe? Nein, so etwas Dummes, so etwas frevelhaft Anmaßendes hatte das kleine Bauernmädchen da herausgeschwätzt! Die Mutter schämte sich, als Mudhoni sie noch einmal das gleiche fragte. Doch war sie ihr eigenstes, ihr einziges Kind, für das sie nur das Beste vom Himmel herabwünschte. »Wenn du niemanden davon sprichst, dann kannst du ihn später vielleicht heiraten«, sagte sie, nur um das Kind zu trösten, das sich nicht beruhigen konnte in seinem Abschiedsschmerz.

Im Herbst des nächsten Jahres war 218 dann der Knabe ins Dorf gekommen, um den Winter bei seiner Tante zu verleben, welche die Arbeiten auf dem Gut ihres Schwagers beaufsichtigte. Da Frau Munhoa allein lebte, pflegte Mudhoni jeden Tag zu ihr zu gehen, um ihr bei der Hausarbeit zu helfen, und so kam es, daß sie Umul wieder sah und oft mit ihm beisammen war. Die Mutter hatte ihr aber eindringlichst gesagt, daß sie keinem törichten Gedanken mehr nachhängen dürfe, weil sie ja doch niemals Umuls Braut werden könne. Mutlos und scheu blickte Mudhoni seitdem nur verstohlen nach ihrem Liebling und schämte sich, wenn er sie anschaute. Der Knabe dagegen war ganz unbefangen, plauderte, teilte sein Essen mit ihr, folgte ihr auf Schritt und Tritt und wurde traurig, wenn sie nicht bei ihm war. Dann aber mußte Mudhoni mit der Mutter zu ihren Verwandten auf die Insel Suab fahren und kam erst im nächsten Frühling ins Dorf zurück. Mudhoni hatte viel geweint, aber nicht 219 wieder von Umul gesprochen. Das war vor einem Jahr gewesen, und heute nun hatte sie ihn wieder gesehen.

»Wie lange will er wieder hier bleiben?« fragte die Mutter. »Nur zehn Tage.«

»Ach, dann wird dein alter Kummer wieder anfangen!«

Mudhoni sah ihre Mutter lange und fest an: »Ich werde nicht weinen!« sagte sie dann.

»Das Weinen ist nicht das Schlimmste, aber du denkst ja doch immer an ihn.«

»Ich werde auch nicht an ihn denken!«

Am nächsten Abend kam Mudhoni in großer Aufregung nach Hause und brachte den Knaben mit. Seine Tante hatte in einem weit entfernten Dorf zu tun; da sie nicht am gleichen Abend zurückkommen konnte, sollte er bei Frau Suab über Nacht bleiben. Mudhoni fiel der Mutter um den Hals und flüsterte ihr hastig ins Ohr: »Er schläft heute bei 220 uns!« – »Ach du Glückliche!« lächelte die Mutter und schüttelte die Tochter am Kopf. »Und willst du wirklich nicht weinen, wenn er dann wieder fortgeht?« fragte sie.

Mudhoni wurde gleich ganz ernst, ging in die Küche und machte sich still an die Arbeit, während Frau Suab ins Zimmer ging und den kleinen Gast begrüßte.

»Da bist du ja wieder!« sagte sie und umarmte ihn herzlich. »Wie bist du gewachsen! Du bist ja fast so groß wie Mudhoni!«

Er war noch ganz der alte, anhänglich und zutraulich wie vorher; mit beiden Händen packte er Frau Suabs Arme und schüttelte sie mit aller Kraft, so daß sie ganz rot wurde. Sie hielt ein brennendes Zündholz an den Docht des Ölbecherchens, das mit zwei Stäbchen an der Wand befestigt war. Sonst war an der kahlen Lehmwand nichts zu sehen, weder ein Bild noch sonst irgend etwas, was das Zimmer hätte 221 schmücken können. – »Blicke nicht so umher, dies ist ein armes Zimmer!« sagte sie. Der Knabe sagte verlegen: »Nein!«

Nach dem Abendessen ging Frau Suab noch an den Strand, um einige Fische zu kaufen. Mudhoni spülte in der Küche ab und kochte noch einmal Wasser, um Kastanien zu brühen.

»Setze dich doch vors Feuer auf den Pangsok (Strohkissen)!« sagte sie zu dem Knaben, der neben ihr stand.

Er rührte sich aber nicht.

»Du, Mudhoni, warum sprichst du nicht mit mir?«

»Ich spreche doch mit dir.«

»Du hast heute und gestern und auch im vorigen Jahre gar nicht mehr richtig mit mir gesprochen. Du siehst mich auch nicht an!«

Mudhoni sah ihn auch jetzt nicht an. Sie wusch ihre Hände, sie legte Brennholz auf die Flamme. Unter dem Kessel knisterten lustig die dürren Zweige. Er ging zu ihr hin und schüttelte sie.

»Warum bist du denn immer so, so, 222 so . . .« Er wußte nicht, wie er es nennen sollte. – Mudhoni errötete: »Ich schäme mich doch so, wenn ich dich ansehe.«

»Warum denn?«

Sie gab keine Antwort. Scheu blickte sie zu Boden.

Durch die Türspalte kam die kalte Luft herein. Die beiden setzten sich vors Feuer.

»Willst du nicht in unserem Dorf leben?«

»Ich muß ja in die Schule gehen, in die neue, moderne!«

»Du wirst dort nur verdorben! Sage doch deinem Vater, daß du hier in die Schule gehen willst. Ich möchte dich so oft sehen, jeden Tag und jeden Abend!«

»Ich muß aber fertig lernen. Jetzt bin ich erst ein halbes Jahr dort und zehn Jahre muß ich lernen.«

»Du weißt gar nicht, wie traurig ich bin, wenn du wieder weggehst. Ich habe dann Angst, daß du mit den schlechten Menschen in den Krieg 223 ziehen willst, weil ihr doch Schießübungen macht.« – »Die Leute sind nicht schlecht. Das ist eine Lüge. Sie sind sehr gescheit. Sie wissen, woher der Regen kommt, wie die Erde aussieht, wie die Blitze gehen. Sie schneiden einem den ganzen Arm ab, ohne daß der Kranke davon etwas spürt!«

»Willst du das alles lernen?«

»Freilich!«

»Dann willst du gar nicht heiraten und eine gute Frau haben, die dich lieb hat?«

Umul schwieg und sah ins Feuer. Dann sagte er: »Man heiratet, wenn man alles gelernt hat, auch die Frau muß alles gelernt haben, sie muß ganz modern sein.«

»Eine Frau kann das doch nicht.«

»Viele Frauen gehen jetzt in die neue Schule.«

»Ach, das sind nur schlechte Mädchen! Kennst du ein solches?«

»Ich kenne viele.«

»Wie alt sind die?« 224

»So wie du.«

»Sprichst und spielst du auch mit ihnen?«

»Freilich! Wir machen keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen, wie du es tust.«

»Ja, darum sind diese Frauen eben schlecht!« sagte sie und kratzte mit der Feuerzange den unschuldigen Boden.

Als die Mutter zurückkam, hatten die beiden schon alle Kastanien verzehrt. Es wurden die Betten hergerichtet. Umul bekam die wärmste Stelle des Zimmers, den Platz gegen die Küche, von der aus die Kanäle unter dem Zimmerboden geheizt wurden. Hier breitete Frau Suab die dickste, weichste und schönste Unterlage und Decke aus. Diese Ausstattung hatte sie als Brautgeschenk bekommen, aber nur einige Male benützt. Sie schonte sie, um sie später der Tochter geben zu können. Den zweitwärmsten Platz erhielt Mudhoni, auch sie bekam ein warmes Bett. Die Mutter aber legte sich in einer schlechten 225 Decke an der Wand gegen die Kammer hin. Die Kinder schliefen bald ein.

Gegen Morgen wurde es bitterkalt im Zimmer. Durch das Papierfenster drang die Kälte herein. Frau Suab stand auf, zündete das Licht an, hüllte sich in die Decke und versuchte zu arbeiten, aber ihre Hände zitterten vor Frost. Sie verstopfte die Tür- und Fensterspalten mit Lumpen und befühlte den Boden unter den Betten der Kinder. Mudhoni war im Schlaf immer mehr der Wärme nachgerutscht und lag nun im Bett des Knaben. Die Mutter lächelte, als sie die beiden Kindergesichter nebeneinander sah, wurde dann aber ernst. Sanft strich sie ihrem Kind über die Stirn und ging aus dem Zimmer, um einzuheizen und das Frühstück zu bereiten.

»Ist es jetzt abends oder früh?« fragte Umul, der aufgewacht war, seine Augen aber wieder zuschloß und sich gegen die Wand drehte. Mudhoni schlief noch. Kurz danach richtete sich der Knabe auf und hielt Umschau im 226 Zimmer. Es war noch Nacht. Die Lampe brannte. Dann betrachtete er die schlafende Mudhoni, leise zog er die Decke von ihren Schultern weg, deckte sie aber schnell wieder zu und legte sich nieder. Da gingen Mudhonis Augen auf, und sie gähnte.

»Du, schläfst du?« fragte sie und schüttelte den Buben.

»Nein, ich bin schon lange wach. Ist es noch Abend?«

»Nein, das ist schon der Morgen. Die Mutter heizt schon.«

Man hörte das Geräusch in der Küche, auch die Meeresbrandung, das Rauschen der Wellen hörte man. Es gingen einige Menschen am Zaun hinter dem Hause vorbei.

Mudhoni ging zum Licht und blies es aus. Da schimmerte das östliche Fenster in schwachem Hellgrau.

»Was hast du denn mit meinen Haaren gemacht? Sie sind so verwirrt.«

Der Knabe antwortete nicht, lag still und starrte ins Leere. 227

»Willst du nicht immer mit mir schlafen? Das ist doch schön.«

»Ja, das ist schön«, sagte er. »Du mußt mich immer früh aufwecken, daß ich das Fenster aufgrauen sehen kann, und du mußt die Lampe brennen lassen. Dann müssen die anderen in der Küche das Frühstück kochen, aber du mußt hier bleiben, wie jetzt.«

Nach dem Frühstück ging er fort.

»Er ist jetzt groß geworden«, sagte die Mutter.

Die Tochter schwieg und trocknete das Geschirr.

»Bleib heute zu Hause und gehe nicht zu ihm. Die Leute werden sonst schlecht von dir reden.«

»Aber Mutter!«

»Nein, Mudhoni! Du bist nun erwachsen, du darfst dich nicht mehr so viel vor fremden Menschen sehen lassen!«

»Aber er ist ja nicht fremd! Muß ich denn vor ihm Näö machen?«

Dieses merkwürdige Wort heißt soviel wie »Distanz halten zwischen 228 beiden Geschlechtern«. Die Mädchen des Landes und die jungen Frauen, wenigstens solange sie noch nicht das dreißigste Lebensjahr erreicht hatten, mußten sich den Männern fernhalten. Sie blieben in den inneren Gemächern des Hauses, in die fremde Männer nicht vordringen durften. Nur unter Verwandten, Verschwägerten und guten Freunden gönnte man sich gegenseitig die hohe Ehre, auch die Frauen des Hauses sehen und sich mit ihnen unterhalten zu dürfen. Wenn eine Frau verschwand, weil ein Fremder in der Nähe war, sagte man, daß diese Frau »Näö« machte.

»Nein, das brauchst du nicht. Du brauchst ihm nicht auszuweichen, wenn du ihn siehst, zufällig siehst; aber ihn besuchen und lange Zeit mit ihm zusammenbleiben, das darfst du jetzt nicht mehr.«

»Er ist aber doch kein Erwachsener!«

»Das nicht, aber er ist das Kind einer reichen Familie. Die vornehmen Leute 229 trennen auch die Kinder voneinander, weil es zur guten Sitte gehört.«

Mudhoni lehnte sich an den Türpfosten und schluchzte. Die Mutter tröstete sie. Sie weinte aber lange.

Als der Abend kam, brach sie wieder in Tränen aus, dann noch einmal am nächsten Morgen.

Umul wurde ferngehalten. Er tobte dagegen, es half ihm aber nichts. Zu streng war noch die gute Sitte, welche befahl, daß auch solche Kinderfreundschaften vergessen werden mußten, wenn das Mädchen das heiratsfähige Alter erreicht hatte. Je höher die Mauer, je dichter der Vorhang war, desto größer war die Verehrung für das Mädchen, das dahinter saß.

Mudhoni fügte sich ihrem Schicksal. Sie ging nicht mehr zu Frau Munhoa, klagte auch nicht mehr bei ihrer Mutter – still und wortkarg ging sie ihrer Arbeit im Hause nach. Nur einmal noch fand die Mutter sie in Tränen. »Er geht!« sagte sie schluchzend. 230

»Hast du ihn gesehen?«

»Ja, heute am Fluß. Er ist traurig, weil er mich nicht sehen kann. Er ist krank geworden. Nie wieder will er hierher kommen.«

»Er kommt schon wieder.«

»Nein, er geht ganz weit fort.«

Die Mutter ließ sie stehen und schaute in den Korb hinein, den Mudhoni auf den Boden gestellt hatte. Es war nichts darin, Mudhoni hatte kein Fleisch geholt.

»Bist du nicht zum Oberdorf gegangen?« fragte sie.

Mudhonis Tränen flossen immer noch in Strömen. Der kleine Mund verzog sich im Schmerz, die Augen waren rot.

»Ich habe ihn am Fluß getroffen und bin gleich wieder zurückgekommen«, erklärte sie mit halberstickter Stimme.

»Weine jetzt nicht mehr, Kind. Morgen habe ich Geburtstag, da wollen wir nicht so traurig sein.«

Sie gingen ins Zimmer, Mudhoni 231 legte sich ins Bett. – »Sieh her, ich habe dir einen neuen Rock gemacht für morgen, damit du schön bist, wenn die Gäste kommen«, sagte die Mutter und holte das Kleidungsstück aus dem Schrank.

»Ich will keinen Rock«, murmelte Mudhoni und verbarg ihr Gesicht unter der Decke.

»Gut, dann werde ich auch meinen Geburtstag nicht feiern.«

Mudhoni blieb im Bett liegen. Ihr Körper zuckte und zitterte unter der Decke.

Die Mutter saß am Fenster und blickte aufs Meer hinaus. Die fernen Berge waren nicht mehr sichtbar; über dem Wasser schwebten die Abendnebel. Lange saß sie so, dann legte auch sie sich zur Ruhe.

Im Schweigen schritt der Abend fort. Die Neunweiher flossen weiter; unaufhaltsam gurgelte das Süßwasser durch das breite Bett ins Meer. Die Flut kam zurück; es brandete, zischte und tönte 232 immerfort durch die lange, schwarze, müde Nacht. Da kam im Dunkel Mudhonis Hand zu der Mutter:

»Mutter!«

»Ja?«

»Sei nicht böse, ich hole morgen früh das Fleisch!«

Die Jahre vergingen. Mudhoni veränderte sich zusehends, wurde voller und größer; sie verrichtete alle Bauernarbeiten, säen, jäten und ernten.

Aber die Hitze im Sommer, die von oben und von unten einen Menschen ausglühte! Man war erlöst, wenn die Sonne hinter dem blauen Berg verschwand, wenn man nach dem Abendessen vor dem Hause saß, um sich in der abgekühlten Abendluft zu erfrischen. Die Männer sammelten sich gerne bei dem Dorfvorstand neben dem Schnakenfeuer, rauchend, plaudernd. Die Frauen blieben daheim.

»Jetzt ist es schön kühl, wir wollen die Wäsche bügeln«, sagte Frau Suab und ging ins Haus, um den großen 233 Wäschekorb zu holen. – Mudhoni saß auf der Treppe auf einem Strohkissen. Sie rührte sich nicht. Die Mutter brachte das offene Bügeleisen mit dem langen Stiel. »Da, fache die Glut etwas an!« sagte sie. Mudhoni tat es, aber mit keinem großen Eifer. Dann saßen die beiden Frauen auf einer Matte und bügelten. Mudhoni hielt das Wäschestück an einem Ende und spannte es, soviel sie nur konnte, während die Mutter mit dem Eisen hin und her fuhr.

»Wenn es morgen wieder nicht regnet, wird es schlimm für uns«, sagte Frau Suab. »Noch so ein furchtbares Jahr könnten wir nicht ertragen!«

Die Tochter antwortete nicht, sie hielt nur die Wäsche krampfhaft fest mit ihren kleinen blassen Händen.

Im vorigen Jahr war wieder einmal eine Mißernte gewesen. Die Bauern hatten nicht viel für den Winter, noch weniger für das Frühjahr gehabt. Alles, was man an Vorräten besaß, mußte man für den Sommer aufbewahren, 234 weil man doch etwas essen mußte in der Zeit der anstrengendsten Arbeit. Der wiederholte Versuch vieler Bauern, den Winter über irgendwo arbeiten zu gehen, war ohne großen Erfolg geblieben. Auch Frau Suab war einen Monat von Hause weg gewesen, um bei einem hohen Beamten in der Stadt als Wäscherin zu arbeiten. Die ganze Arbeit dieser Zeit brachte ihr aber nur so viel ein, daß sie während derselben leben konnte. Für den kleinen Haarschmuck, mit dem sie ihre Tochter beim Wiedersehen überraschte, hatte sie viele Mahlzeiten opfern müssen. Als es Frühjahr wurde, war sie oft mit Meerschnecken in die Stadt gegangen, um sie zu verkaufen. Der Weg war weit, sie mußte den ganzen Tag wandern und kam erst am nächsten Tag wieder zum Dorf zurück, meistens mit leeren Händen. Doch machte sie den Weg oft, um für sich selbst nichts von dem kargen Vorrat für den Sommer abnagen zu müssen. Mudhoni wäre gerne 235 mitgegangen, wurde aber nicht mitgenommen. Kein anständiges Mädchen von sechzehn oder siebzehn Jahren liefe in der Stadt herum, erklärte ihr die Mutter, und ließe sich am hellen Tag von allen Männern beschauen, wie eine Konkubine oder eine Sängerin.

Der Mond war über das Dach emporgestiegen und beleuchtete hell die vorbeigehenden Menschen auf dem Dorfweg, während die im Schatten sitzenden nicht so leicht erkennbar waren.

»Da ist die Weinfrau!« sagte Mudhoni leise, als sich eine weiße Gestalt dem Hause näherte.

Diese kam auf sie zu und grüßte.

Das war ein seltener Gast und ein nicht gern gesehener, denn ihr Beruf war ein unehrlicher. Sie verkaufte Wein. An sich wäre das nicht so schlimm gewesen; aber das Bedienen der trinkenden Männer, das Mitsingen, das Tanzen mit ihnen, das war nicht schön! Warum kam sie denn gerade zu ihnen?

»Wie geht's denn hier im Hause?« 236 grüßte sie die beiden Frauen. – »Gut! – setzen Sie sich!« sagte Frau Suab und machte ihr Platz.

Die Weinfrau hatte einen Korb am Arm, in dem sie herumkramte.

»Da ist ein gebratenes Huhn drin«, sagte sie und gab Frau Suab ein kleines Päckchen. »Nehmen Sie das nicht übel, daß ich Ihnen etwas mitbringe. Es sieht uns ja niemand!«

»Von Übelnehmen kann keine Rede sein. Aber Sie können das doch selber brauchen.«

»Ach, ja, ich weiß wohl, daß es gewagt ist, wenn die Weinfrau jemandem etwas schenken möchte; aber doch . . .«

So fing sie immer an, sich entschuldigen, wenn sie mit anderen Leuten etwas zu tun hatte. Da kein Mensch sie für ebenbürtig hielt, niemand sie einlud, niemand sie gern in der Nähe haben wollte, entschuldigte sie sich immer mit solchen Redensarten. Wenn sie dann mit ihren Worten und irgendeinem Geschenk Einlaß bei einer 237 ehrbaren Frau gefunden hatte, erzählte sie derselben ihre Lebensgeschichte, um zu zeigen, daß ihr gar nichts anderes übrig blieb als so zu leben, wie sie es tat. Sie war in ihren ganz jungen Jahren geschieden worden, wegen einer vermeintlichen Untreue. Eine geschiedene Frau war die Verkörperung der Sünde, ein Schandfleck für die Familie. Es blieb ihr keine andere Wahl, als entweder eine Sängerin oder eine Konkubine zu werden. Da ihr Gesicht aber weder zu diesem noch zu jenem Beruf schön genug war, mußte sie sich entschließen, als Weinverkäuferin ihren Unterhalt zu verdienen. Im Tal der Kastanien hatte sie einen guten Platz gefunden und lebte nun schon über zwanzig Jahre in dem kleinen Häuschen am Dorfeingang.

Ihr Gesicht war häßlich. Die übermäßig tiefliegenden Augen schienen immer zu tränen, die Nase war unförmig dick, der Mund groß und das ganze Gesicht durch Pockennarben 238 verunstaltet. Wenn die Männer des Dorfes ab und zu doch zu ihr gingen und sich bei ihr vergnügten, so taten sie das nur, weil sie keine andere Weinfrau im Dorfe hatten. Vielleicht trugen auch die guten gebratenen Hühnchen dazu bei, die sie als Beilage zum Wein auftrug. Wenn die jungen Leute dann angeheitert waren, wurden sie gutherzig zu der Frau, scherzten mit ihr und forderten sie zum Singen auf. Es gab auch rohe Männer, die sie beschimpften, wenn sie etwas zu freundlich wurde. All das mußte sie sich gefallen lassen, weil sie wegen ihres Berufes unüberbrückbar tief unter dem Rang der Bauern stand.

»Alle meine Herren sind anständig, sehr anständig!« lobte sie ihre Gäste. »Gestern aber war ein wüster Mensch bei mir, ein Sänftenträger. Dieser wollte haben, daß ich ihm Wein einschenke. ›Nein‹, habe ich gesagt, ›wenn ich auch noch so verkommen bin: einem Sänftenträger schenke ich keinen Wein ein‹, habe ich zu meinen Herren gesagt, 239 und alle haben mir Recht gegeben.« Der Mond stieg immer höher und tauchte die drei Menschen in seinen Silberglanz. Die Mutter trug den Wäschekorb ins Haus, das Päckchen lag noch auf der Matte.

»Aber das Huhn nehmen Sie wieder nach Hause; Sie können das so gut brauchen für Ihre Gäste!« sagte Frau Suab, als sie wieder herauskam, und legte das Päckchen in die Hand der Weinfrau. »Wir haben ja selber so viel zu Hause.« Was man viel und was man wenig nennt, bestimmt jeder nach seinem eigenen Ermessen. Mudhoni hatte heute zum Abendessen eine Handvoll Hirse und zwei Gurken bekommen. Sie saß still, rührte sich nicht, jede Bewegung kostete Kraft – nur ruhig sitzen bleiben und dann schlafen, schlafen, bis es wieder hell wird! Dann gibt es wieder so ein gutes Essen! Ach ja – das Huhn war völlig überflüssig!

»Ach, denken Sie nicht so hart, Frau Suab!« sagte die Weinfrau und schob 240 das Päckchen in die Nähe von Mudhoni. »Wenn Sie mir das zurückgeben, kann ich wieder eine Nacht nicht schlafen. Dann muß ich immer denken, daß alles, was von mir stammt, schmutzig sei, weil ich eine unreine Frau bin. Ich darf niemandem etwas schenken, ich darf nicht vor den anderen erscheinen! Dann überkommt mich die Wut über mich selbst. Das ist so bitter! Ich habe schon so viel geweint.«

»Genug jetzt!« sagte Mudhoni plötzlich. »Ich esse das Huhn, Mutter! Ich habe solchen Hunger! Mir ist das wirklich gleich, von wem das Huhn kommt!«

»Freilich, ach freilich«, rief die Weinfrau, gerührt und glücklich. »Warten Sie, ich mache Ihnen das zurecht. Darf ich in die Küche gehen, darf ich etwas Nudeln machen und das Fleisch zerschneiden?« Sie verschwand eiligst mit dem Päckchen ins Haus.

»Mutter, Mutter, ich bin so schwach! 241 bitte nimm es nicht übel! Mir ist so elend, ich zittere am ganzen Körper!«

Frau Suab sagte nichts, nickte nur mit dem Kopf, dann ging auch sie hinein.

»Das Fräulein ist aber gewachsen; sie wird ihrem Vater immer ähnlicher«, sagte die Weinfrau, als sie bei der Suppe saßen. »Ja, Ihr Vater, das war ein Mann, so großzügig, so gutherzig! Er hat mich niemals merken lassen, daß ich nicht seinesgleichen war.«

»Sprechen Sie nicht so viel davon – alles ist nur Schicksal. Sie können nichts dafür. Die Hauptsache ist, daß man ein gutes Herz hat.«

»Ja, freilich, so denke ich auch.« Die Weinfrau machte eine kurze Pause, dann rückte sie mit ihrem Anliegen heraus: »Werden Sie es mir nicht verübeln, wenn ich Ihnen sage, daß ich so gerne Mudhonis Heiratsbote sein möchte?«

Das war sehr viel! Nur eine makellose, eine ehrbare Frau durfte ein 242 Heiratsbote sein. Wenn ihr dies gelänge, würde sie überall sagen können, welche große Ehre man ihr erwiesen hatte: ein sicheres Zeichen, daß sie keine gewöhnliche Weinfrau war, sondern nur eine »aus Not«. Ja, dann würde ihr die Welt offen stehen.

»Ich nehme gar nichts übel, reden Sie nur!« sagte Frau Suab sichtlich überrascht.

»Das habe ich mir gedacht!« rief die Weinfrau ganz beglückt. »›Die Frau Suab, diese Familie‹, habe ich gedacht, ›die rechne ich zu den feinsten. Die lassen einen Menschen leben!‹«

»War jemand bei Ihnen?« fragte die Mutter.

Mudhonis Augen wurden ganz groß.

»Ja, ich sage es Ihnen gleich gerade heraus: Frau Shin vom Oberdorf war gestern bei mir. Sie kennen doch die Familie und den Sohn, den hübschen Jungen?«

»Ja, ich kenne sie – ich kenne ihn gut.« 243

»Daß ich es nur richtig sage! Also Mudhoni war im Frühling im Oberdorf, um Maulbeerblätter zu holen . . .«

»Oft war sie dort, oft, auch im vorigen Jahr!«

»Ja, und da ist sie von der Familie Shin gesehen worden, mehrere Male. Alle drei, Vater, Mutter und auch der Sohn, haben sie gesehen. Die Eltern haben dann den Sohn gefragt, ob er Mudhoni heiraten möchte, und da hat er ›ja‹ gesagt.«

»Ach, Mudhoni!« rief die Mutter in höchster Aufregung.

Die Tochter sagte aber keinen Ton, stand wie ein Blitz auf und ging ins Haus.

Frau Suabs Aufregung war nicht grundlos. Die Familie Shin war die reichste vom Oberdorf, die Eltern waren gute vornehme Leute, er führte sogar einen Titel: Yigoan, was soviel wie »Landrat« heißt – und dann der einzige Sohn, der nette junge Mann! Nein, daran hätte kein Mensch gedacht! 244 Diesen vornehmen Leuten hatte Mudhoni gefallen.

»Gehen Sie jetzt, ich komme morgen oder übermorgen zu Ihnen, nein, kommen Sie morgen zu uns! Ich muß jetzt mit ihr sprechen. Gehen Sie!« sagte Frau Suab in Hast.

»Ja, ich gehe, ich gehe, hier ist noch sein Geburtsdatum, damit Sie gleich nachfragen können, ob die beiden gut zusammenpassen.«

»Mudhoni! Komm, Mudhoni!« rief die Mutter im Haus.

»Ja, ich komme!« Die Stimme klang schwach und zaghaft. Mudhoni kam aber nicht, sondern blieb in der Küche stehen, in einer Ecke, in die kein Mondlicht hineindrang.

»Komm, mein Kind!« sagte die Mutter zärtlich und nahm sie an der Hand. Mudhoni ließ sich ins Zimmer ziehen.

»Bitte kein Licht!« murmelte sie.

Sie setzten sich ans Fenster.

»Mein Kind, was sagst du dazu? Ich 245 weiß mich gar nicht zu fassen. Wie ist das möglich, Mudhoni? Du weißt doch, wer diese Familie ist? Gott der Himmelsherr, Mudhoni, sag!!«

Die Tochter schwieg.

»Sie ist eine sehr liebe Frau! Und er soll genau so gut sein. Denke doch nur, diese Schwiegereltern, mein liebes Kind! Und der Ilbong, der ist ein so höflicher, netter Mensch. Ach, Mudhoni, nun brauchst du nicht mehr zu arbeiten, nicht mehr zu frieren, mein Kind!«

Die Mutter weinte vor Freude.

»Ich mache doch Licht!« sagte sie dann – »ich möchte dich gerne sehen.«

Es glimmte in dem kleinen Ölbecher – ein schwacher Schimmer verbreitete sich langsam in dem kahlen Raum.

»Deine Haare sind ohne Glanz, du mußt etwas Öl nehmen! Und morgen koche ich dir etwas Gutes, du siehst so mager aus, mein armes Kind! Was für eine Mutter hast du auch bekommen in 246 diesem Leben, eine so unbrauchbare!«

»Mutter, wie kannst du nur so etwas sagen!« rief Mudhoni und setzte sich auf ihren Schoß. »Du hast auch viel hungern müssen, du arme Mutter!«

»Mein liebes Kind!«

»Mutter!«

»Ja, Kind?«

»Ich habe so Angst, eine so große Angst!«

»Mache dir gar keine Sorge. Ich hatte auch so Angst gehabt, als ich deinen Vater heiratete, und nachher war ich so glücklich. Ilbong ist ein lieber Mensch, du wirst sehr glücklich sein, so glücklich, mein Kind, wie du es gar nicht weißt . . . Wann hast du ihn zum letztenmal gesehen?«

»Ich weiß nicht – ich weiß nicht, ob ich ihn gesehen habe.«

»Freilich kennst du ihn, das ist der mit den großen schwarzen Augen und mit den abstehenden Ohren!«

»Mutter – der war da!«

»Was, wie, wann war er da?« 247

»Ach – das war er! Ich saß vor dem Haus und machte Bohnen auf. Da kam er, zuerst wollte er bloß vorbeigehen, dann aber kam er schnell zu mir her und fragte, wo das Haus von Toldari-Onkel wäre. So schnell kam er, daß ich gar nicht ins Haus gehen konnte!«

»Macht nichts, Kind, das tut jeder Verliebte! Wie hat er dir gefallen?«

»Ich weiß es nicht.« Mudhoni errötete.

Nach langem Schweigen sagte die Mutter: »Die richtige Liebe kommt erst in der Ehe. Es gibt viele Mädchen, die ihren Bräutigam überhaupt nicht gesehen haben, bis sie verheiratet werden. Die Liebe kommt erst viel später.«

Mudhoni legte sich zu Bett.

»Es war noch jemand da, Mutter«, sagte sie nachdenklich. »Ich glaube, die Wahrsagerin, die vorgestern da war, die war gar keine Wahrsagerin. Die hat mich immer so seltsam angesehen und so viel mit mir gesprochen. Dann auch 248 die Seidenverkäuferin, die mich fragte, ob ich schon verlobt wäre, die war auch sicher von den Leuten geschickt.«

»Das wird wohl stimmen!« Die Mutter lachte, ging zu dem Bett hinüber und streichelte ihr Kind. »Die Hochzeit wird wahrscheinlich im nächsten Jahr sein. Dann bist du 17 Jahre alt, die beste Zeit, um verheiratet zu werden. Er ist jetzt zwanzig, er ist also . . .«, sie rechnete eifrig: »Er ist ein Baum im großen Wald, und du – du bist das Feuer an einem Weg . . . Wie ist das zu verstehen? Doch – das muß gut sein. Er wird in dir brennen, das ist gut! Schlecht wäre es, wenn er Wasser wäre.«

Mudhoni legte ihre Arme um die Mutter, die ihr Kind immer inniger an sich preßte. »Es ist so schön, mein Herz, wenn man einen Mann hat.«

Draußen brandete das Meer.

Mudhonis Brust hob und senkte sich. »Ist das wirklich wahr?« fragte sie leise.

»Ja, Kind! Sage nur ›ja‹, wenn die Weinfrau kommt!« 249

»Sag es du!« – Die Weinfrau mußte noch mehrere Male die beiden Familien besuchen; denn der Tag der Hochzeit machte Schwierigkeiten. Der Lehrer des Unterdorfes, der ein ausgezeichneter Horoskopdeuter war, hatte Frau Suab gesagt, daß die beiden Ehepartner sehr gut zusammenpaßten, aber noch nicht in diesem Jahr in die Ehe gehen durften. »Am 17. März des nächsten Jahres ist der beste Tag«, hatte er gesagt. Die Familie Shin hatte aber Eile; noch im Herbst des gleichen Jahres wollte Frau Shin eine Schwiegermutter werden. Frau Suab ging noch einmal zum Lehrer: »Bitte, sehen Sie doch noch einmal im Buche nach, ob es wirklich nicht geht!« Er studierte lange Zeit und sagte dann: »Keineswegs noch in diesem Jahr; frühestens am 18. Januar!« Frau Shin willigte ein.

Das Brautgeschenk mit dem Verlobungsbrief kam noch im Sommer, damit Frau Suab rechtzeitig alle Hochzeitskleider anfertigen konnte. Ein 250 großer schwarzlackierter Kasten wurde an einem Spätabend ins Haus gebracht, und Mudhoni mußte ihn von dem Rücken eines Mannes in Empfang nehmen. Das Brautgeschenk durfte nur von einem guten Freund der Familie, einem ehrbaren Mann überbracht werden, der selbst in einer glücklichen Ehe lebte.

»Die Seide fließt, so zart und fein – wie kann man das nur verarbeiten?« sagte Frau Suab. Mudhoni holte in Schweigen alles aus dem Kasten. »Probiere einmal die Ringe, ob sie dir passen!« Mudhoni hörte nicht, sie legte immer neue Sachen auf den Boden: Schmuck, Schmuck und wieder Schmuck. Dann kam ein steifer, großer Umschlag mit dem inhaltsschweren Brief. »Das ist der Verlobungsbrief, ihn können wir nicht lesen, weil er auf chinesisch geschrieben ist. Da steht, daß er dich bittet, seine Frau zu werden, und daß er dir ewig treu bleiben wird.« Dann kam eine Rolle durchlöcherter 251 Messingmünzen, die Mudhoni verwundert betrachtete. »Das ist bloß eine Formsache«, erklärte die Mutter, »das richtige Geld liegt hier unten, in diesem Tuch. Jetzt tu' aber alles wieder hinein, ich muß zu den Gästen!«

Im Gastzimmer waren viele Menschen versammelt, die bewirtet werden mußten. Sie hatten alle mit Frau Suab gearbeitet, um das Haus herzurichten, frisch anzustreichen und sauber zu machen. Auch der Bauer, von dem sie die zwei meterlangen Lampen aus bunter Seide geliehen bekam, mit denen das Tor verziert wurde, um dem Glücksboten den Weg zu der werdenden Brau zu zeigen, war heute eingeladen. All diese Leute saßen mäuschenstill im Gastzimmer, bis der Bote und seine Gefolgschaft wieder fortgegangen war. »Schön war's«, gratulierten die Männer der Mutter. Damit meinten sie, daß Mudhoni alles gut gemacht hätte. Sie war heute zum erstenmal in ihrem Leben in Seide gekleidet. In dem 252 rotschimmernden Licht der Lampen hatte die weiße Gestalt ungemein reizend und vornehm ausgesehen, als sie im Rahmen des Tores erschienen war.

Das halbe Jahr ging schnell vorbei. Es war Januar geworden, und das kleine Häuschen belebte sich. Frau Suab nähte die halbe Nacht hindurch, sie kochte, briet, buk und scheuerte jeden Tag. Die Frauen des Dorfes gingen ein und aus, um gute Ratschläge zu geben; die jüngeren versammelten sich oft bei der Braut, um die zukünftige Schicksalsgenossin zu belehren. Jede von ihnen brachte eine andere Erfahrung und neue Weisheiten mit. Mudhoni sagte nichts, fragte nichts, obwohl ihr nicht alles, was die Frauen so durch die Blume erzählten, verständlich sein konnte. Schwiegermütter und Schwiegerväter wurden ausgiebig besprochen – und dann der Bräutigam, der Mittelpunkt aller Gespräche! Da sagte man ganz verschiedene Dinge: dem einen 253 gefiel die ruhige, sonnige Landschaft besser, dem anderen die stürmische Nacht. Einer liebe die lose fließende Frisur, ein anderer die feste, straffe, scharf umgrenzte. Nur in einem Punkt wären alle jungen Ehemänner gleich: sie wären dumm und ungeschickt, dächten nur an sich und wollten doch immer gelobt sein wie die Kinder. Auf alle Fälle wäre es besser, den Mann nicht zu verwöhnen. »Nur nicht gleich ›ja‹ sagen, höchstens einmal nach zehn Fehlbitten!«

Diese und viele andere Regeln aber konnten Mudhoni nicht viel nützen; denn alle die Frauen, die herkamen, waren arme Bäuerinnen. Die Bauern leben einfach und sind leicht zufrieden, wenn die Schwiegertochter ein gutes Herz mitbringt; ein wenig aufmerksam, folgsam, fleißig und sparsam sein; das wäre ungefähr alles, was man sich merken mußte. Aber die reichen Leute, die vornehmen Leute?!

»Mutter, weißt du, wie die 254 Vornehmen leben?« fragte Mudhoni eines Abends.

»Das wirst du ja selbst sehen. Du mußt nur folgsam sein und immer zuerst fragen, ob du dies oder jenes tun sollst. Dann wird alles gut gehen.«

»Wenn ich aber etwas kochen soll, was ich nicht kann?«

»Alles lernt man ja von der Schwiegermutter.«

»Wenn ich es aber trotzdem nicht kann?«

»Du kannst es schon. All dies ist nur Nebensache. Die Hauptsache ist, daß du ein gutes Herz hast.«

»Das gilt aber nur bei uns.«

»Nein, sie sind auch Menschen, sie zeigen nur nicht, was sie fühlen. Sei nur höflich und denke nie an dich selbst; immer an die Schwiegermutter zuerst, dann an den Schwiegervater und dann an den Mann! Wenn viele Menschen da sind, dann blicke nicht umher, als ob du den anderen gefallen möchtest. Niemals sollst du denken, daß du etwas 255 Besseres seiest als die anderen; alle anderen sind besser als du!«

Nun die letzte Nacht bei der Mutter!

Frau Suab hatte noch in der Küche zu tun. Die Braut saß allein im Zimmer. Also morgen! Mudhoni hatte oft gehört, wie die Zeremonie der Eheschließung war. Die war nicht schlimm: der Mann machte eine Verbeugung vor der Braut, die Braut eine solche vor ihm, dann verneigten sie sich miteinander vor dem Himmel. Darauf tranken sie Wein aus einem Glas – nur nippen, nicht richtig trinken! Dann wurde der Bräutigam von dem Vater oder Vormund, also diesmal von Toldari-Onkel, ins Gastzimmer geführt und bewirtet, während die Braut mit vielen jungen Frauen, Verwandten und Freundinnen eine feierliche Mahlzeit einnehmen mußte. Die erste Nacht verbrachte das junge Paar im Hause der Braut. Mein Gott, also morgen abend würde sie ihn hier empfangen! Was würde man wohl reden? Ob das wahr ist, daß der 256 Bräutigam der Braut hilft, sich auszuziehen, und daß er das Licht durch dreimaliges Blasen auslöscht?

Und wenn die Nacht vorbei ist, dann wird Mudhoni mit ihrem Mann nach Hause gehen. Dann ist sie eine reiche Frau. Und ihre Mutter? Sie wird hier in diesem Zimmer schlafen, allein, grenzenlos allein! Sie wird möglicherweise nicht heizen, um zu sparen. Sie wird allein hier sitzen, allein essen! Wer wird Fische kaufen, wer wird den Schnee wegfegen?

Sie schaute durchs Fenster; es schneite wieder. Dann blickte sie im Zimmer umher, zu den Betten, zu den Schränken, zu den Fenstern. Ja, die letzte Nacht!

Am nächsten Tag schneite es weiter. Ilbong kam im Hochzeitsanzug und in Begleitung von mehreren Männern, und Mudhoni mußte reich geschmückt und von zwei Frauen begleitet in den Hof hinausgehen und unter das Zelt treten. Dort wartete schon der Bräutigam, und 257 die Zeremonie ging schnell vorbei.

Schnell kam der Abend heran; alle Gäste waren weggegangen. Frau Suab blieb noch eine Weile bei der Tochter im Brautzimmer.

»Wo schläfst du heute?« fragte Mudhoni.

»Ich schlafe im Gastzimmer.«

»Ist sonst jemand im Hause?«

»Nein.«

»Wo ist er jetzt?«

»Im Gastzimmer. Ich muß dich jetzt allein lassen, Kind, er wird bald zu dir kommen.«

»Nein, bleibe noch etwas bei mir!« Sie griff nach dem Rock der Mutter.

»Bist du sehr müde?« fragte diese.

»Nein.«

»Bist du unruhig?«

»Nein!«

»Hier sind Früchte und hier etwas Honigwasser. Gib ihm das, wenn er Hunger oder Durst hat!«

Mudhoni richtete sich auf. »Bleib hier, bitte bleib hier, Mutter!« 258

Die Mutter richtete die Betten, umarmte die Tochter, schob sie sanft von sich und ging aus dem Zimmer.

Nach einer kurzen Weile hörte man sie mit dem Bräutigam reden; sie öffnete die Türe und ließ ihn eintreten.

Mudhoni erhob sich und stand an der Wand neben der Türe.

Ja, das war er, der mit den großen schwarzen Augen und den abstehenden Ohren. Er war größer als sie. Die Stirn war hoch, der Mund klein, die Nase nach unten etwas breit. Sein dunkles Gesicht zeigte einen entschlossenen, klugen, etwas harten Ausdruck. In der Zimmermitte stehend blickte er zu der Braut hinüber und errötete. Sie sah schnell zu Boden. Sie nahm ihren Kopfschmuck ab, hielt ihn in der Hand und stand regungslos da.

Zögernd näherte er sich ihr und nahm ihr den Schmuck aus der Hand, den sie willenlos fallen ließ; er legte ihn auf ein Kästchen und setzte sich daneben. Sie löste ihre Haare auf und begann einen 259 Zopf zu flechten. Ilbongs Hände bewegten sich leicht hin und her, als ob er den Zopf mitflechten wollte. Sein Blick haftete auf der weißen Gestalt, auf ihrem Gesicht, auf den Händen, auf dem gefalteten Rock, auf den kleinen Füßen.

Ja, das war sie, der er damals, als er sie zum dritten- oder viertenmal gesehen hatte, in einer großen Aufregung gefolgt war, ohne von ihr gesehen zu werden. Heute, unter dem Zelt, in der bunten Brauttracht, hatte sie anders ausgesehen – zu vornehm, zu feierlich unter der schweren Frisur. Ihr Gesicht war eher einer frühzeitig aufgeblühten Sonnenblume gleich gewesen als einer großen, zarten, eingeschlossenen Lotosknospe. Aber jetzt war sie wieder die alte Mudhoni mit ihrem warmherzigen Gesicht – die makellose Rundung, das weiche Ohrläppchen, der milde lebendige Blick! Hier stand sie vor ihm, in dem einfachen seidenen Kleidchen mit ihrem Zopf, den 260 sie spielend betrachtete. Er näherte sich ihr und nahm ihre rechte Hand von dem Zopf weg, die sie ihm aber wieder entzog. Da wurde er verlegen. Ihr Blick war ängstlich, wich aber dem seinen, dem großen, schwarzen nicht aus. Scheu und zögernd streckte sie dann ihren Arm aus und legte ihre Hand auf die seinen, die das kleine Händchen zärtlich umschlossen. »Setzen sie sich!« flüsterte sie fast unhörbar.

Er setzte sich neben den Leuchter, stützte sein Gesicht auf beide Hände und blieb mit geschlossenen Augen sitzen. Mudhoni ging zu der Obstschale, schälte einige Früchte und setzte sie ihm vor. Dann ging sie zum Fenster und blickte durch das Guckloch in den Hof hinaus. Es schneite nicht mehr. Der Zaun, die großen Krüge, die Treppenstufen, alles war weiß umhüllt von der dichten Schneedecke. Sie legte ihre Hände an die Scheibe, dann auf ihr Gesicht. Da kam er wieder zu ihr.

»Sie haben mich früher nicht 261 gesehen?« – »Nein!«

»Ich habe Sie aber oft gesehen, ich bin Ihnen oft gefolgt, in der Hoffnung, von Ihnen erblickt zu werden. Sie kamen aber so selten zu uns herauf, daß ich immer umsonst zu den Maulbeerbäumen ging.«

»Wir hatten ja bloß so wenig Seidenwürmer«, sagte sie leise, ihr Gesicht in den Händen vergraben.

Schweigend stand er lange und blickte ins Licht. Sanft berührte er ihre Stirn, ihre Haare, die Hände, dann sagte er: »Schlafen Sie gut, liebe Frau!«

Er löschte das Licht und legte sich nieder.

Unbeweglich saß sie vor dem Fenster. Dachte sie oder schlief sie?

Sein Atem ging schwer, sein Gesicht war verhüllt im Dunkel der Zimmerecke – sie konnte es nicht sehen.

Als sein Atem leichter und ruhiger wurde, erhob sie sich, setzte sich aber gleich wieder – er hatte sich bewegt.

»Ist es nicht kalt am Fenster?« kam 262 seine Stimme aus dem Dunkel.

Sie fuhr erschrocken zusammen, blieb aber sitzen, ohne etwas zu sagen.

»Bitte legen Sie sich zu Bett; Sie erkälten sich sonst!«

Sie gab keine Antwort, rückte nur etwas vom Fenster weg und lehnte sich leicht an die Türe zur Kammer.

Schneelicht erhellte allmählich den ganzen Raum. So blieb sie sitzen, bis der Hahn zum drittenmal schrie. Dann erhob sie sich leise, ging durch die Türe in den dunklen Gang und tastete sich bis zum Gastzimmer. Von innen kam die Stimme der Mutter:

»Es ist ja noch nicht hell!«

»Nur ein bißchen will ich bei dir schlafen!«

Die Mutter machte Licht, umarmte die Tochter, legte sie in ihr Bett und küßte sie.

Mudhonis Augen fielen zu; unmerklich lächelnd schlief sie ein.

Am Morgen schien die Sonne auf den glitzernden Schnee. Gegen Mittag 263 schon stand die Brautsänfte mit dem Tigerfell auf dem Dach vor dem Haustor. Frau Suab führte die junge Frau in die Sänfte, und der Schwiegersohn verabschiedete sich von ihr:

»Ich danke Ihnen herzlich, Schwiegermutter, für alles, was Sie für meine Frau getan haben. Mein Leben soll nur für ihr Glück bestimmt sein«, sagte er feierlich.

»Nur ein kleines dummes Bauernmädchen war sie, bevor du zu uns kamst. Sei nachsichtig, wenn sie noch nicht so viel von der guten Lebensart versteht!« sagte Frau Suab, seine Hand drückend.

Als die Sänfte schwebte, blickte die Mutter noch einmal zu ihrer Tochter hinein. Mudhoni hatte ihr Gesicht mit dem Taschentuch verhüllt und weinte.

Die Sänfte bog um die Ecke des Hauses. Da streckte Mudhoni ihren Kopf aus dem Fenster. »Mutter, Mutter, leben Sie wohl!«

Der Fluß war ganz zugefroren. 264 Mehrere Male konnten die Sänftenträger über das Eis gehen, wenn sie den Weg kürzen wollten, der den Windungen des Flusses folgte. Das war der Weg, den Mudhoni so oft gewandert war, wenn sie in ihrem Baumwollkleid, arm und dürftig, einen großen Korb an der Seite, zu den Maulbeerbäumen ging. Jetzt wurde sie in der Brautsänfte getragen von vier Männern; voraus ging die Magd des Schwiegerhauses, die als Empfangszofe entgegengekommen war. Neben der Sänfte schritt ihr Mann, und hinten folgte die Begleitmannschaft, die gestern den Bräutigam hergebracht hatte.

Einige Male ging der Weg steil aufwärts; nun an der Stelle vorbei, wo die Maulbeerbäume standen. Es begann das Oberdorf. Vor allen Häusern standen Frauen und betrachteten den Zug. Endlich setzte man die Sänfte in einem großen Hof nieder. Von der Eingangstreppe kam die Schwiegermutter entgegen, nahm die junge Frau an die 265 Hand und führte sie schweigend ins Haus vor die Ahnentafel, vor welcher das Brautpaar sich mehrmals. neigte.

»Endlich, mein Kind!« sagte die Schwiegermutter liebevoll zu ihr. Mudhoni verbeugte sich. »Dies ist dein Vater!« Noch eine Verneigung; dann würde sie in ihr Zimmer geführt und umgekleidet. Sie legte die schwere Brauttracht ab und zog ein leichtes, hellseidenes Gewand an. Dann begann die Feier, bei der die Braut alle Verwandten, die Freunde und zum Schluß auch die Dienerschaft des Hauses kennenlernte. Sie selbst hatte dabei nicht viel zu tun; sie saß auf dem Ehrenplatz, um den sich immer neue Gruppen von bewundernden und lobenden Frauen scharten.

Endlich gingen die Gäste weg, und nun saßen nur noch die vier Menschen im großen Mutterzimmer beim Abendlicht beisammen. Die Schwiegermutter, deren Gesichtszüge auffallend groß geschnitten waren, sprach viel und 266 lebhaft. Sie erkundigte sich immer wieder nach dem Befinden des neuen Kindes, das sie mit Stolz »Shiagi« – Schwiegertochter – nannte. Auch der Schwiegervater bezeigte der neuen Tochter viele Aufmerksamkeiten. Er war ein schmächtiger Mann, an dem alles klein und zierlich war mit Ausnahme des wallenden, schon ergrauten Vollbarts. Er redete vornehm und gebrauchte viele Fremdwörter. »Nachher soll sich unsere Shiagi gleich in ihr Gemach zurückziehen, damit sie sich von der Müdigkeit der beiden Festtage erholen kann«, sagte er in gewichtigen Pausen; er lächelte, wenn er Mudhoni ansah – ein sicheres Zeichen, daß sie ihm gut gefiel. Nach dem Abendessen stellte er sich vor sie hin und sagte mit tiefer, gerührter Stimme: »Es ist nicht viel, was wir in deine Hand legen können, doch hoffe ich, daß du mit uns glücklich leben wirst. Schlafe wohl!«

Mudhoni schwieg.

»Die Hauptsache ist doch«, sagte die 267 gesprächige Schwiegermutter, »daß wir nicht hungern, daß wir nicht frieren. Das brauchst du nicht, um Himmels willen nicht! Jetzt aber geh zur Ruhe!«

Mudhoni schwieg wieder. Sie wußte nicht, was sie auf all diese Reden antworten sollte. Außerdem hatte ihre Mutter gesagt, daß sie nicht viel reden durfte. ›Nur sprechen, wenn es nötig ist, wenn man direkt gefragt wird!‹

In ihrem Zimmer legte sie sich hin und verhüllte ihr Gesicht mit der Decke.

Ihr Mann trat herein.

»Heute muß ich noch hier schlafen!« sagte er errötend, als ob es etwas Unerlaubtes wäre, daß er zu seiner Frau kam.

Mudhoni blickte ihn an und wischte die Tränen weg.

»Sind Sie sehr traurig?« fragte er befangen.

Sie schüttelte ihren Kopf und streckte ihren Arm aus, den er streichelte. Stumm saßen sie beisammen, dann fragte er: 268

»Denken Sie an Ihre Mutter?«

Sie nickte.

Das Zimmer war klein, aber reich ausgestattet mit großen Schränken, den seidenen Betten, Sitz- und Lehnkissen. Eine vielgegliederte spanische Wand umschloß eine Ecke des Raumes.

»Wann darf ich wieder zu meiner Mutter gehen?« fragte sie.

»In zehn Tagen!«

»So spät?«

»Es kann auch früher geschehen. Ich werde aber in einigen Tagen zu ihr gehen und ihr erzählen, wie es Ihnen geht.«

»Was wollen Sie von mir sagen?«

»Daß Sie sehr vornehm seien, daß meine Eltern Sie gerne haben, daß Sie aber eine große Sehnsucht nach der Mutter hätten und ihren Mann gar nicht mögen!«

Mudhoni zog hastig ihre Hand aus den seinen zurück. »Das ist nicht wahr. Ich habe keine Sehnsucht nach ihr und ich habe Sie gern!« murmelte sie. 269

Er holte unter dem Schrank ein Paar Schuhe hervor. »Wollen Sie sie anprobieren?«

Sie steckte ihren rechten Fuß in den Schuh. »Er paßt! Woher hat man das Maß gewußt?«

»Die Weinfrau hat doch ein Paar Schuhe und ein Kleid von Ihnen hergebracht.«

»Wo sind sie, diese Sachen?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht im Schrank!«

Sie ging zu den Schränken hinüber und öffnete die Türen. In dem einen, der drei Abteilungen enthielt, waren ihre Kleider, in den Schubladen die Schmucksachen und Schüsseln. In dem anderen, der nur in einem einzigen Raum mit vielen Regalen und Schubladen bestand, und dessen Tür nach unten aufgeklappt werden konnte, lagen seine Anzüge. Sie entdeckte hier zwei Päckchen und öffnete sie. Das eine enthielt die Kaufbriefe über die Äcker, in dem anderen waren die 270 gesuchten Sachen: ein Frauenjäckchen und ein Rock aus grobem Baumwollstoff und ein Paar Strohschuhe. Hastig wickelte sie die Sachen wieder ein und warf sie in die Ecke. »Das tue ich weg aus dem Schrank!« sagte sie. Ihr Gesicht wurde blaß und rot, als sie ihren Mann ansah.

»Das sind Ihre lieben Sachen, die dürfen Sie nicht wegwerfen!« sagte Ilbong und schloß den Schrank zu.

»Ich habe nichts mitgebracht!« murmelte sie.

»Jetzt gehört aber alles Ihnen, alles, was wir zu Hause haben. Ihnen sollte mehr, viel mehr gehören: Silberne Teiche, goldene Säulen sind nicht gut genug für Sie.«

Er umarmte sie und zog sie auf seinen Schoß. Mudhonis Gesicht war feuerrot geworden; sie wollte sich befreien, während er sie immer fester umschlang. »Das ist nicht schön!« sagte sie. Da ließ er sie gehen.

»Bin ich heute nicht dumm 271 gewesen?« fragte sie nach einer Weile.

»Nein! Alle Leute haben Sie gelobt und mir das Glück von Kum und Shil gewünscht.«

»Was ist das: Kum und Shil?« fragte sie ganz erschrocken.

»Das sind zwei Musikinstrumente. Eins davon spielt der Mann, das andere die Frau. Wenn ein Ehepaar sich gern hat, klingen die beiden Instrumente gut zusammen«, erklärte Ilbong.

»Ich kann aber nicht spielen«, sagte sie ängstlich.

Er lächelte und breitete das Bett. Ihr Blick wurde immer scheuer und unruhiger.

»Ich habe heute auch nicht alles verstanden, was der Vater gesagt hat. Ist das nicht schlimm?«

»Nein, das ist nicht schlimm!«

»Werden Sie mich nicht fortschicken, weil ich so dumm und ungeschickt bin?«

»Jetzt legen Sie sich nieder und beruhigen Sie sich! Niemand schickt Sie 272 nach Hause.« – Er löschte das Licht, sie zündete es aber wieder an, als er lag, und starrte in die Flamme.

Was tat wohl jetzt die Mutter?

Am nächsten Morgen begann der Alltag. Die beiden Männer erschienen zum Frühstück; sie bekamen eine Tafel miteinander, während Mudhoni mit der Schwiegermutter an einer anderen saß. Die Tische waren so klein, daß nur zwei Menschen daran sitzen konnten. Scheu und schweigsam blickte Mudhoni auf ihren Reis, während Ilbong oft verstohlen zu ihr hinübersah. Zu sprechen wagte er noch nicht mit ihr vor den Eltern.

Nach der Mahlzeit gingen die Männer an die Arbeit. Mudhoni mußte ihre vielen Kleider, eines nach dem andern, anprobieren, heften und ändern. Sie nähte den ganzen Vormittag; dann kam das Mittagessen, dann wieder Näharbeit.

»Dein Schwiegervater nimmt es sehr genau mit den Kleidern; darin ist er 273 etwas kleinlich«, meinte die Schwiegermutter. »Ich habe ihm oft erzählt, wie der große Konfutse einmal seine Jacke verkehrt anhatte, weil seine Frau sie so gemacht hatte, und wie alle seine dreitausend Schüler vom nächsten Tag an in verkehrten Jacken erschienen waren. Der Meister fragte, warum alle so verkehrt angezogen wären. Sie sagten, daß sie seinem Beispiele folgten. Da sagte der Meister, daß er nur deshalb die verkehrte Jacke anhätte, weil sie von seiner Frau gemacht wäre und ein gebildeter Mann nichts bei seiner Frau bemängeln dürfe!« »Unser Ilbong ist nicht so heikel«, fuhr sie fort, »er ist nur ein wenig hartnäckig, wenn er etwas im Kopf hat. Er kann sehr rücksichtslos sein.«

Am selben Abend wurde Ilbong von einer Schar von Ehemännern des Dorfes abgeholt. Sie kamen mit Musik und nahmen ihn ins Weinhaus mit, um dort die landesübliche Tongsangnje zu feiern. Das war eine Zeremonie, die bei 274 einer guten Eheschließung nicht fehlen durfte, eine Feier, durch die der Bräutigam gewissermaßen unter die Ehemänner aufgenommen wurde. Singend und musizierend gingen die etwa zwanzig jungen Männer auf dem Dorfweg ins Haus der Weinfrau, die schon alles für den Abend vorbereitet hatte. Der Anführer der ganzen Sache war ein breitbackiger, dreißigjähriger Bauer; er hielt einen nachgemachten grünen Ast in der Hand und setzte sich an eine Wand, während sich die anderen Männer entweder mit einem Stock oder einem Fächer bewaffnet links und rechts von ihm postierten. Den Bräutigam setzte man in die Mitte des Zimmers und fesselte ihn mit langen dünnen Seidentüchern. Nun begann das Verhör mit vielen verfänglichen Fragen, zum Beispiel, wie oft er seine Frau geküßt hätte, wie oft sie ihn? Blieb er eine Antwort schuldig, so knallten die Männer mit Stöcken und Fächern, um seine verdienten Schläge anzudeuten. 275 Nach dem Verhör erschien die Weinfrau und bewirtete die lustigen Männer, welche an diesem Abend die Gäste der Bräutigamseltern waren. Der Wein floß in Strömen, ununterbrochen wurden Fleisch- und Fischgerichte, gebratene Hühner, Nudeln und köstliche Früchte aufgetragen. Je weiter der Abend fortschritt, desto ausgelassener wurden die jungen Menschen. Sie sangen, tanzten und musizierten, machten Witze und verrieten ihre Ehegeheimnisse. Auch Ilbong mußte viel trinken, auch er mußte von seiner Frau erzählen.

Nach Mitternacht ging er leise in sein Haus. Vor dem Zimmer seiner Frau blieb er eine kurze Weile stehen, atmete einige Male tief auf und öffnete vorsichtig die Türe. Im gleichen Augenblick wurde die Kerze angezündet, und Mudhoni wich in eine Ecke zurück, als er eintrat.

»Ich komme von der Tongsangnje«, erklärte er. Sein Gesicht war von der Kälte und vom Wein gerötet. 276

Sie kauerte in ihrer Ecke, wie eine Maus vor der Katze.

»Seien Sie nicht so ängstlich! Ich gehe gleich wieder hinaus. Ich mußte etwas trinken mit den anderen.« Er lachte. »Ja, Sie kommen auch einmal dran, wenn Sie bei Ihrer Mutter sind. Dann kommen die Frauen und tun das gleiche mit Ihnen.«

»Nein«, sagte sie und sah ihn prüfend an.

»Kommen Sie doch etwas zu mir!« bat er und zog sie aus der Ecke heraus. Sie sträubte sich aber und sagte:

»Gehen Sie hinaus!«

»Gut – Sie jagen mich fort!« brummte er und verschwand.

Der dritte Tag begann.

Mudhoni übernahm die Küche. Drei Frauen warteten auf sie, als sie in Begleitung ihrer Schwiegermutter eintrat.

»Warum hast du nicht geheizt?« fragte die Schwiegermutter die junge Magd Poksami, die schnell einen Blick 277 auf Mudhoni warf und purpurrot wurde. »Ich habe auf die junge Herrin gewartet.«

»Heizen kannst du auch selber, meine Tochter heizt nicht!«

Poksami zitterte, als sie schnell einige dürre Ästchen unter den Kessel schob und sie anzündete.

»Dies ist die Tafel der beiden Männer, hier der Topf deines Vaters, der kleinere ist für deinen Mann, und der neue gehört dir,« erklärte die Schwiegermutter und ging dann hinaus.

»Wie viele Eier darf ich kochen, Herrin?« fragte die jüngere von den beiden anderen Frauen.

Mudhoni betrachtete noch die Töpfe. Sie blickte die Fragende groß an.

»Fünf Eier hatten wir gestern gekocht. Das war etwas zu wenig. Darf ich heute sechs nehmen?«

»Ja!« sagte Mudhoni und stellte die Schalen auf die Tafel.

»Darf ich diese zwei Stücke braten?« fragte die junge Frau wieder und zeigte 278 ihr zwei mittlere Stücke von einem Rochen.

»Ja!« sagte Mudhoni.

Die andere Dienerin kam und legte ihr ein Fleischstück vor, ob das gekocht werden dürfe.

Sie nickte.

Dann ging die Arbeit weiter. Der Reis kochte, die Sauce brodelte, die Fische wurden braun.

Poksami machte den Reiskessel auf und reichte Mudhoni einen Löffel.

»Was soll ich damit?« fragte dieselbe.

»Versuchen, ob der Reis fertig ist.«

»Ja!« sagte sie.

Mudhoni hatte in ihrem Leben höchstens zwanzigmal Reis gegessen. Sie wäre glücklich gewesen, wenn sie nur immer genug Hirse gehabt hätte.

Nun bekam sie einen Schöpflöffel überreicht, und Poksami kam mit dem Topf des Schwiegervaters an ihre linke Seite. Als die vier Töpfe mit Reis und die Schalen mit Sauce gefüllt waren, sagte Poksami, daß sie das andere jetzt 279 selbst besorgen dürfe. – Nun hatte Mudhoni zum erstenmal gekocht und wurde von den Männern gelobt.

Ilbongs Zimmer war weit entfernt von dem eigentlichen Wohngebäude der Familie. Am linken Flügel des Hauptgebäudes war ein kleines Häuschen für die beiden bediensteten Familien angebaut, und neben diesem hatte er sich seine Stube eingerichtet. Auf der rechten Seite des Hauses befanden sich die luftigen Räume für die Seidenraupen und Kokons. All diese Baulichkeiten kannte Mudhoni noch nicht, weil sie in den ersten Ehetagen, der guten Sitte gemäß, nur in den inneren Räumen geblieben war. Da kam Ilbong an einem Spätabend, drei oder vier Tage nach der Tongsangnjefeier, wieder einmal in das Zimmer seiner Frau und fragte sie, ob sie heute abend einmal seine Stube ansehen und dann mit ihm zum Unterdorf gehen möchte, wenn die anderen alle schliefen.

»Wenn wir aber gesehen werden!« 280 fragte Mudhoni zaghaft, »wir müßten uns ja zu Tode schämen.« Dann aber willigte sie doch ein, als er sie wiederholt darum bat.

Sie zog sich winterlich an und umhüllte ihren Kopf mit einem braunen Tuch. Als die Lichter ausgelöscht waren, gingen die beiden auf den Zehenspitzen aus dem Zimmer, die Treppe hinunter zum Hof, dann durch einen langen dunklen Gang. »Rechts sind die Matten aufgestapelt!« flüsterte er ihr zu. Leise, leise die Gartentür auf – dann schnell durch den äußeren Hof in sein Zimmer. Er zog sich einen dicken Mantel an und führte sie hinaus. Leise flüsterte er: »Hier schlafen die Leute.« Nun um die Ecke, immer der Wand entlang! »Jetzt müssen wir springen!« Er sprang über einen Zaun, sie folgte ihm nach.

Endlich draußen!

»Jetzt geht's zum Unterdorf!« sagte er aufatmend.

»Wirklich?« fragte sie lachend. »Ach, 281 das ist schön!« – Sie hing bei ihm ein und lief.

»Obacht, da ist ein Bächlein!« Wieder sprangen sie.

»Dort den Hügel hinauf!«

Dann gingen sie durch die enge Schlucht, über eine schmale Holzbrücke, und nun dehnte sich die Ebene vor ihnen aus, die weiße Ebene! Die Bäume waren im Schnee nur schwach vom Hintergrund zu trennen. Das Unterdorf wurde sichtbar – das Meer – die Inseln.

Es begann zu schneien.

»Etwas langsamer, ich kann nicht atmen!« rief Mudhoni. Sie blieb stehen; ihr Gesicht war durch die Kälte rot geworden.

Dann gingen sie Hand in Hand weiter den zugefrorenen Fluß entlang.

Die Flocken wurden größer, fielen immer dichter herunter.

Sie wischte sie vom Gesicht, vom Kopftuch, von den Schultern weg; er aber ließ den Schnee auf seinen Haaren 282 ruhen und ging schweigend weiter.

Immer weiter den Weg, in der stillen weißen Schneenacht!

Alles schlief, nichts rührte sich.

Es kam das erste Haus, das Haus der Weinfrau. Vor der Tür stand ein Kessel voll Schnee. Wie ausgestorben lag es da, das sonst so belebte. Weiter um die Ecke! Dann noch vier Häuser!

Alles still, totenstill!

Noch einige Schritte, dann blieben sie stehen.

Oh, das vertraute Tor! Die Treppe, auf der Mudhoni so oft gesessen! – Sie gingen durch den Hof, auf dem sie morgens und abends den Schnee gefegt hatte.

Sie berührte mit der Hand die Türe, die Fenster, lehnte sich an eine Säule und weinte.

Er führte sie zum Strand.

Im Schweigen gingen sie den schwarzen Meerboden entlang, auf den die Flocken herunterkamen, um gleich zu vergehen. Er setzte sich auf einen 283 Felsen und zog sie auf seinen Schoß. Sie verbarg ihr Gesicht an seinem Hals.

Schnee hüllte die beiden ein.

»Jetzt müssen wir aber nach Hause gehen«, sagte sie endlich und befreite sich von ihm. Er zog sie aber wieder an sich. »Es ist so schön, hier allein zu sein!« Sie fegte den Schnee von ihm und von sich ab.

»Haben Sie immer noch Sehnsucht nach der Mutter?«

»Nein!«

Nach einer Pause: »Aber ich habe Angst.«

»Angst? Wovor?«

Sie sprachen leise, als ob die Nacht nicht gestört werden dürfte.

»Ich habe geträumt. Ich war ein Schmetterling. Ich flog in einem Garten. Wo das war, weiß ich nicht. Da kamen Sie und wollten mich fangen. Ich sagte, daß ich Ihre Frau sei und daß Sie mich fliegen lassen sollten. Da hörte ich jemanden lachen. Das war die Weinfrau, und ich war auf einmal wieder in 284 meinem früheren Zimmer. Man sagte mir, daß ich gar nicht verheiratet wäre und daß alles nur ein Kinderspiel gewesen sei.«

»Darum waren Sie traurig?«

»Ja, ich war sehr traurig, und als ich aufwachte, hatte ich Angst, daß ich weggejagt werden könnte und daß ich wieder zu meiner Mutter gehen müßte.«

Er drückte sie fester an sich und streichelte sie.

»Was hat wohl der Traum zu bedeuten?«

Er schwieg.

»Ist es ein schlechter Traum?«

»Ich weiß es nicht.«

»Dann muß es wohl ein schlechter sein . . .« »Sie haben mich gestern auch gar nicht angesehen«, sagte sie nach einer Weile, »da dachte ich, daß Sie mich nicht mehr möchten.«

»Oft und oft habe ich Sie angesehen! Ich tat es nur heimlich, weil die Mutter so eigentümlich lächelte, wenn sie 285 meinen Blick auffing. Ich schämte mich etwas vor ihr. Ich will auch nicht, daß die Leute sagen, ich sei verliebt. Man sagt, daß ein Ehepaar, das sich so schnell verliebt, kein langes Glück hätte. Wenn wir nur einmal allein sein könnten! Dann würde ich Sie den ganzen Tag anschauen!«

Nun heimzu!

Wieder den Weg, wieder in die Stille! Wieder im Schweigen.

Arm in Arm – hier sah sie ja niemand, hier brauchte sie sich nicht zu schämen. Sie gingen über die Brücke durch die Schlucht.

»Ich weiß, woher der Traum gekommen ist«, sagte er plötzlich.

»Woher?«

»Wir sind ja noch nicht ganz verheiratet, noch nicht vollkommen!«

»Was müssen wir noch tun?« fragte sie hastig.

Er schwieg – dann sagte er leise: »Wir müssen einmal unter einer Decke schlafen. Dann wird der Traum 286 wirkungslos.« – »Darf man das?« fragte sie. Ihre Stimme zitterte.

Sie gingen weiter.

»Darf ich morgen kommen?« fragte er.

Sie nickte, dann aber sagte sie schnell: »Nein, nicht morgen . . . in drei Tagen!«

Leise schlichen sie ins Haus. Er kam bis vor die Türe seiner Frau.

»Nein – übermorgen! Nicht in drei Tagen!« flüsterte sie.

Er verließ sie und sie wischte den Schnee von den Schuhen.

Am nächsten Tag wurde von einem Besuch gesprochen, den Mudhoni in Begleitung der Schwiegermutter machen sollte.

In einem benachbarten Dorf wohnte eine Großtante von 60 Jahren. Lahm lag sie seit 20 Jahren, freute sich über jeden Besuch, und war sehr gekränkt über jede vermeintliche Vernachlässigung. Sie sah schlecht, hörte schwer, wollte aber alles wissen und brannte vor 287 Ungeduld, näheres über Ilbongs Heirat zu erfahren und die neue Verwandte zu sehen. Zu dieser Tante mußte Mudhoni unbedingt gehen – je früher desto besser!

»Weiße Jacke und grünen Rock!« hatte die Schwiegermutter befohlen. Mudhoni probierte die beiden Kleidungsstücke an. Sie waren noch zu groß und mußten schnell geändert werden. »Sie stehen dir so gut, daß ich heute gar kein anderes Kleid für dich wünsche. Die alte Dame soll sehen, was für eine schöne Schwiegertochter ich zu Hause habe.« Mudhoni errötete. »So, hier noch etwas enger, da etwas kürzer! So – jetzt ist es schön, jetzt passen sie – nein, noch etwas kürzer! So! Ach, du bist so reizend in dem Kleid, ich bin so stolz auf dich!«

Ilbong erschien. Er stand vor den Frauen und sah der Arbeit zu.

»Was wollen Sie, Herr Sohn?«

Sie sagte in der letzten Zeit häufig »Sie« zu ihrem Sohn. Das war natürlich 288 ein Scherz; doch konnte eine Spur ihres Mutterstolzes in dem Scherz enthalten sein, des Stolzes, einen erwachsenen Sohn zu haben, der eine so schöne Braut ins Haus geführt hatte. Der Sohn sagte, wie es alle gebildeten Erwachsenen zu tun pflegten, »Sie» zu seiner Mutter. »Ich wollte Sie fragen, ob ich Sänften kommen lassen soll?«

»Nein. Wir können zu Fuß gehen. Es ist ja nicht weit. Sie geht ja außerdem mit mir, mit ihrer Schwiegermutter. Da ist es nicht schlimm, wenn man sie sieht; alle sollen sie sehen.«

Ilbong lächelte und sagte: »Es ist aber ein glatter, gefährlicher Weg bis dahin. Soll ich nicht mitgehen?«

»Wir nehmen unsere Poksuri mit. Du brauchst nicht mitzukommen.«

Ilbong schwieg, blieb aber stehen.

»Das ist nicht ratsam«, sagte seine Mutter, »daß so junge Leute wie ihr schon zusammen ausgehen. Ihr könnt noch einige Jahre warten . . . Erscheine 289 auch nicht so oft im Frauengemach!« fügte sie hinzu, als er verschwand.

»Er ist schon tüchtig verliebt in dich«, sagte sie lachend. »Das ist schön, aber nur nicht so eilig! Man braucht nicht den ganzen Krug auf einmal zu leeren; er ist für das ganze Leben!«

Mudhoni schwieg und nähte, Frau Shin setzte sich neben sie.

»Er soll froh sein, daß seine Mutter mit seiner Frau ausgeht. Ich hatte nicht das Glück. Ich mußte überall allein hingehen. Ja, das war hart. Niemand war da, als wir beide.«

»War der Vater ganz allein, als er Sie heiratete?«

»Ja, ganz allein. Ich mußte alle Gäste selber bewirten, selber kochen und nähen. Alles mußte ich vom ersten Tag an allein machen. Niemand schmückte mich, niemand wollte mich schön machen.«

»Aber schön muß es gewesen sein, so allein!« sagte Mudhoni. 290

Oh, Himmel!

Was hatte sie da gesagt!

»Findest du, daß das schön ist, ohne Schwiegermutter zu leben?« fragte die beleidigte Mutter, die ganz blaß geworden war.

Entsetzt über ihre eigene Rede blickte Mudhoni hilflos bald zum Fenster hinaus, bald zur Schwiegermutter hinüber.

»Bin ich dir denn so lästig?«

Das letzte Wort war kaum hörbar, doch deutlich ausgesprochen.

Die junge Frau schwieg und stichelte verzweifelt an ihrem Kleide herum.

»Du kannst ja mit ihm gehen, wenn es dir lieber ist. Ich verstehe dich. Es ist nur unschicklich, wenn ein so junges Paar sich öffentlich zeigt und so schamlos dem ersten Eherausch nachgibt. Das tun nur die ungebildeten Menschen.«

»So habe ich es nicht gemeint!« sagte Mudhoni.

Es entstand eine lange Pause, ein peinliches Schweigen! 291

Wie konnte sie auch so gedankenlos sein! Sie hatte freilich nur an Ilbong gedacht, der sie auf Händen tragen und den ganzen Tag liebevoll anschauen würde. Er dürstete danach, er sehnte sich danach, ganz allein mit ihr zu sein, so allein, daß er tun konnte, was er wollte.

Aber die Schwiegermutter! Sie war so stolz auf die neue Tochter – so stolz darauf, sie überall zu zeigen. Wie gut war sie zu ihr. Hatte sie doch für sie das halbe Jahr Tag und Nacht genäht, war glücklich, den Reis zu essen, den Mudhoni kochte! Und diese Schwiegermutter hatte sie so bitterlich gekränkt!

Mudhoni weinte. Sie ging zu ihr hinüber und umarmte sie wie ein Kind, das den drohenden Blick der Mutter mit Zärtlichkeit besänftigen möchte. »Ich bin bloß ein dummes Bauernkind, verzeihen Sie mir!«

»Schon gut, weine nicht!« sagte die Ältere und fuhr mehrere Male mit der Hand über Mudhonis Kopf. 292

»Ich habe es wirklich nicht so gemeint! Ich kann nicht klar reden, daß Sie es verstehen; aber glauben Sie mir: ich habe es nicht so gemeint.«

»Ja, ja, es ist schon gut.« Die Schwiegermutter weinte auch.

Der Besuch wurde aufgeschoben.

Der Nachmittag verging in Schweigen. Nach dem Abendbrot zog sich Mudhoni in ihr Zimmer zurück. Lange saß sie im Dunkeln, legte sich nieder, stand wieder auf, ging hin und her, legte sich wieder und ging dann endlich in die Küche, wo sie Poksami fand.

»Bitte, sage dem Herrn, daß ich ihn zu mir bitte!«

Als Ilbong hereinkam, fand er sie nicht im Zimmer. Er machte Licht und besah den Raum, als ob er den Grund suchen wollte, warum sie ihn hatte rufen lassen. Nichts hatte sich im Zimmer geändert. Nur die Bilder an der spanischen Wand leuchteten im flackernden Licht silberhell aus dem Halbdunkel. Es waren teilweise Landschafts-, teilweise 293 Märchenbilder. Ilbongs Blick blieb auf einem Jüngling haften, der mit einem Frauengewand hinter einem hohen Felsen verschwand. Eine alte Sage berichtet, daß dieser Holzfäller das Glück hatte, einmal die Himmelsfrauen baden zu sehen, die in einem hohen Gebirge zur Erde gestiegen waren. Er stahl eines ihrer Gewänder und versteckte es. Als die Frauen wieder in den Himmel stiegen, mußte eine von ihnen dableiben, weil sie ihr Gewand nicht finden konnte. So wurde sie die Frau des Holzfällers – ein erzwungenes, doch ein schönes Glück!

Mudhoni trat herein. »Können Sie heute bei mir bleiben?« fragte sie.

Er errötete und nickte stumm.

Nachts um drei Uhr fiel eine große Schneemasse vom Dach herunter in den Hof. Er richtete sich auf und blickte durchs Fenster. Mudhoni murmelte leise. Er neigte sich über sie und sah ihr ins Gesicht. Sie schlief, murmelte aber noch einmal und rief dann laut in 294 klagendem Ton einen Namen:

»Umul!«

Ilbong wich erschrocken zurück und machte Licht.

Mudhoni öffnete ihre Augen, träumte aber noch.

»Umul!« rief sie noch einmal.

Er schüttelte sie leise an der Schulter: »Was träumen Sie?«

»Ja, er ist tot.«

»Wer ist denn tot?«

Mudhoni drehte sich nach der Seite, sah das Licht, sah ihren Mann. Er saß neben ihr, nur halb zugedeckt. Dann blickte sie im ganzen Zimmer umher.

»Ich habe geträumt. Umul ist ertrunken, vor dem letzten Felsen! Er saß dort und angelte. Ich sagte ihm, daß die Flut komme, er solle schnell zum Strand kommen. Er aber sagte nichts und sprang ins Wasser, das schon tief war. Zweimal hatte er Wasser geschluckt. Ich habe es genau gesehen, wie er dann auf einmal weit draußen in den Wellen unterging. Ich wollte auch 295 hineinspringen, konnte aber nicht – etwas hielt mich zurück . . . ich war so schwer!«

»Haben Sie ihn so gern?«

»Ja, er ist so lieb, ich wollte ihn so gerne heiraten . . .«

Sie erzählte weiter, wie sie mit ihrer Mutter bei seinen Eltern war, wie sie zusammen gespielt und auch einmal zusammen geschlafen hatten. Dabei merkte sie nicht, wie Ilbong totenblaß geworden war und sie regungslos anstarrte. »Es war ja nur ein Traum!« tröstete sie sich selbst, wischte die Tränen weg und lächelte.

Dann aber verstummte sie und blickte ihren Mann an. Ihre Augen wurden größer; ein Schrecken dämmerte in ihnen auf. »Was ist denn?« fragte sie ihn.

Er war aufgestanden und hatte sich angezogen.

»Was wollen Sie jetzt? Was tun Sie? Wollen Sie weggehen?«

Er sagte nichts und ging zur Tür.

Mudhoni sprang aus dem Bett und 296 griff nach seiner Hand. Er warf einen Blick auf ihren Körper, sie zuckte zusammen, ließ seine Hand los, sank aufs Bett und sah dem verschwindenden Manne nach. Ihre Brauen zogen sich zusammen. Sie war blaß geworden und bebte am ganzen Körper. Sie schien nun die Gefahr, die große, drohende Gefahr erkannt zu haben. Sie zog sich an und zitterte wie ein Mensch im kalten Wasser. Sie blickte durchs Fenster. Er war nicht mehr zu sehen. Der Hof war voll Schnee – immer neue weiße Massen kamen vom Dach herunter und zerschellten auf dem Boden.

Sie ging aus dem Zimmer, schlich wie gestern durch den dunklen Gang und eilte zu seinem erleuchteten Zimmer.

»Was soll das bedeuten?« fragte sie mit zitternder Stimme, die Türklinke in der Hand.

Er sagte nichts, rührte sich nicht und sah seine Frau nicht an.

»Sagen Sie mir etwas . . . ich bin Ihre 297 Frau!« – Da erhob er sich und ging zu ihr hin – auch er zitterte:

»Ich bringe ihn um, den Sie so gern haben, der mir das Glück der reinen Liebe geraubt hat!«

Sie klammerte sich an ihn. »Nein, was reden Sie da!«

»Lassen Sie mich los und gehen Sie zu ihm . . . in die sittenlose Schule, in der man lernt, einander vor der Heirat zu lieben!« Sie ließ die Arme sinken und blickte ihn fassungslos an. Sie ging hinaus.

In ihrem Zimmer kauerte sie zitternd auf ihrem Bett.

»Mutter, Mutter!« flüsterte sie.

Es kamen wärmere Tage mit Regen und Wind. Unaufhörlich tropfte der schmelzende Schnee von den Dächern. Ilbong war schweigsam, wenn er zu Tisch erschien, und ging gleich wieder in sein Zimmer. Die Schwiegermutter war freundlich, wurde aber immer wortkarger und versank oft in Nachdenken. Sie begann, ihren Sohn zu 298 beobachten. Nie sah er seine Frau an, während diese oft und oft zu ihm hinüberblickte.

»Hast du ihm etwas von dem erzählt, was zwischen uns vorgefallen ist?« fragte sie Mudhoni eines Abends, als die Männer das Zimmer verlassen hatten.

Mudhoni schüttelte ihren Kopf.

»Ist etwas zwischen euch vorgekommen?«

Mudhoni schwieg.

Die Mutter forschte bei ihrem Sohn, erhielt aber keine klare Antwort. Sie grübelte.

Dem Vater fiel nichts auf. Er sprach lebhaft und vergnügt, erzählte der Familie von den guten Aussichten auf dem Seidenmarkt und lächelte wohlgefällig, wenn er Mudhoni ansah. Sie sah etwas müde aus, das kam wohl von der lauen Luft des Vorfrühlings.

Da ereignete sich etwas Unerhörtes.

Mudhoni, die scheue, die sich bisher nicht getraut hatte, von selber etwas zu 299 reden, die errötete, wenn Ilbong sie anblickte, diese Mudhoni stellte sich vor die Türe hin, als die beiden Männer nach dem Essen aus dem Zimmer gehen wollten. Sie richtete ihren Blick fest auf ihren Mann, der überrascht stehen blieb:

»Darf ich Sie bitten? Ich muß mit Ihnen reden!«

Vater und Mutter sahen den Sohn an. Wie gebannt stand er da.

»Ich habe mit Ihnen nichts zu reden«, sagte er.

In ihrem Blick wechselten Zorn und Verzweiflung.

»Gut! . . . gehen Sie!« sagte sie nur und gab den Weg frei.

An diesem Tag verließ Ilbong das Elternhaus, ohne jemandem zu sagen, wohin er ginge.

Dumpf und schwer schleppten sich die Tage hin.

Der Vater erschien nicht mehr im Mutterzimmer, die Mutter redete nicht. Ihr Lächeln war erstorben. Keiner wußte 300 Rat, was geschehen sollte. Man schickte Boten aus, um ihn ausfindig zu machen.

Nach zwei Monaten erfuhr man, daß er sich in einem Kloster aufhalte. »Es ist aus mit uns allen!« seufzte die Mutter. »Sein Nacken ist starr.« Sie bat ihren Mann, zu ihm zu gehen und ihn zu holen. Er ging, kam aber ohne ihn zurück. Dann ging sie selbst. Es war alles umsonst. Es wurde warm, der Boden taute rasch auf. In den Baumstämmen stieg der Saft. Zarte Keime schossen aus der Erde empor. Die Schwalben kehrten zurück.

»Willst du nicht doch einmal zu deiner Mutter gehen?«

»Nein!«

»Es ist schon über drei Monate her.«

»Ich gehe nicht ohne ihn!«

»Er wird nicht kommen.«

»Wird er kommen, wenn ich nicht da bin?«

»Vielleicht!«

»Gut, Mutter – Sie sollen Ihren Sohn wieder haben.« 301

Es war spät am Abend, als Mudhoni mit einem Päckchen unter dem Arm aus ihrem Zimmer trat. Die Schwiegermutter hatte sich schon zur Ruhe gelegt. Sie zauderte einen Augenblick vor dem Mutterzimmer, dann ging sie aus dem Haus.

Niemand war im Hof, nur zwei Knaben sah sie am Weg. Sie drehte sich um und blickte noch einmal nach dem großen Hause zurück. Eine rote Welle stieg in ihr mageres, blasses Gesicht.

Es dunkelte, nur der Fluß schimmerte in der trüben Frühlingsnacht.

Die weiße Gestalt schritt immer weiter dem Unterdorf zu.

Es begann zu regnen. Doch sie eilte nicht und setzte sich oft am Wege, um auszuruhen.

Regen prasselte auf den Weg, in den Fluß, auf die einsame Gestalt, die kraftlos dahinschritt.

Im Unterdorf war alles schlafen gegangen. Nur eine Bäuerin, die in später Nacht von der Stadt zurückkehrte, sah 302 eine Frauengestalt auf der Treppe von Frau Suabs Haus sitzen, lange Zeit, regungslos, im Regen und im Dunkel.

Am nächsten Tag hörte man, daß eine Frauenleiche angeschwemmt sei.

Das Frühjahr ging vorüber, der Sommer kam. Saftig grüne Maulbeerblätter ragten leicht bewegt in die Morgensonne. Man jätete im Unterdorf, man erntete. Die Flut kam und ging, doch alles ohne Sinn für das Leben der alternden Witwe. Sie hatte nichts mehr zu hoffen, nichts zu verlieren. Ihr liebes Kind war nicht mehr auf der Welt. Nur nachts, wenn sie müde einschlief, kam eine zarte Hand zu ihr und die schwache Stimme:

»Mutter, sei nicht böse, ich hole morgen das Fleisch!«

 


 


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