Mirok Li
Iyagi
Mirok Li

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28. Wie der arme Namshani zu einer Frau kam

Vor vielen Jahren lebte eine arme Frau unter dem südlichen Berg der Königsstadt Seoul in Korea. Ihr Haus war nur eine Hütte, die an einem großen Felsen angebaut war. Unter dem schiefen Strohdach war nur ein Zimmer und eine kleine Küche. Aus dieser Hütte kam sie jeden Morgen heraus, wenn die Sonne noch nicht über dem Berg aufgegangen war. Sie ging Kräuter sammeln, die sie dann zum Markt trug. Den ganzen Tag mußte sie am Markt sitzen und auf Käufer warten. Oft kam sie erst gegen Abend mit etwas Reis und Gemüse zu ihrer Hütte zurück und kochte in der Küche. Dann stieg der Rauch lustig aus der Hütte über den Felsen in die klare Bergluft hinaus. Das war der freudige Ruf der Mutter für den kleinen Knaben, ihren einzigen Sohn, der draußen spielte. Sobald er 153 den Rauch erblickte, ließ er sein Spiel und lief schnell zur Hütte, um den guten Reis und die schmackhaften Gemüse zu essen.

Aber ach, nicht alle Abende stieg der Rauch aus der Hütte. Oft sah er vergeblich von seinem Spielplatz zu dem hohen Felsen hinauf, von dem kein Rauch aufsteigen wollte. Dann wußte der Knabe, daß seine Mutter nichts verkauft und keinen Reis zum Kochen heimgebracht hatte. Er schnürte seinen Gürtel enger und spielte mit seinen Steinen und dem Lehm weiter, bis es dunkel wurde. Langsam schlich er dann in die Hütte und kroch unter die Decke, um gleich schlafen zu können. Wenn er eingeschlafen war, steckte die Mutter ihre Hand unter die Decke um zu fühlen, ob dem Buben der Magen ganz eingefallen wäre.

Die Jahre flossen dahin, wie das Wasser des eilenden Stroms. Namshani wuchs heran zu einem schönen Jüngling. Der Mutter Sorge wurde immer 154 größer. In dem zerlumpten Jäckchen und der schmutzigen Hose wurde er von niemandem geachtet. Nirgends konnte er Geld verdienen. Alle Menschen dachten, er sei ein Bettler oder ein Dieb und ließen ihn nicht in die Nähe kommen. »Ich will in die Welt hinaus gehen!« sagte er eines Abends zu seiner kummervollen Mutter, die jetzt leider so alt geworden war. »Ich bin schon erwachsen und darf nun nicht mehr den wenigen Reis essen, den du nach Hause bringst. Wenn ich zurückkomme, bringe ich dir viel Gold und Silber mit, daß du nicht mehr zum Markt gehen mußt.« So verließ unser Namshani seine Mutter in der kleinen Hütte und ging in die Stadt. Mit einem kleinen Rucksack auf der Schulter, einem Bambusstab in der Hand, in Gamaschen und Strohsandalen richtete er seinen Schritt nach Süden. Es war an einem schönen Herbstmorgen. Überall stieg der Rauch aus den Dächern, unter denen die reichen Menschen ihr gutes 155 Frühstück aßen. Seine Mutter mußte wieder mit hungrigem Magen zum Kräutersammeln gehen! Er drehte sich um und blickte zu dem Felsen und der kleinen Hütte zurück, und es kamen ihm bittere Tränen in die Augen. »Liebe, arme Mutter, lebe wohl!«

Der blaue Himmel wölbte sich über das weite Koyangtal, die Bächlein plätscherten munter von dem Dreihörnerberg herab, sammelten sich zum Fluß, ergossen sich in den großen Han-Strom. »Lebt wohl!« sagte er und wanderte immer weiter nach Süden. Viele Wildgänse begleiteten ihn, rufend und schreiend in der freien Luft. »Fliegt voran, ich komme nach, ich bin ein Mensch und darf die Erde nicht verlassen.«

Bald waren die Heimatberge hinter ihm.

Unter einem hohen Kieferbaum sitzend, ließ er seine müden Beine ausruhen. Die liebe Sonne verschwand hinter dem westlichen Berg, die Kälte 156 drang durch seine dünne Jacke. Dann wurde es bald dunkel um ihn. Er stand auf und ging weiter. In den Gebüschen leuchteten die Tigeraugen, und die Füchse schrieen unheilverkündend aus dem tiefen Wald. Er wanderte und wanderte auf einem schmalen Pfad.

An einem einsamen Haus im Gebirge klopfte er an. »Ein armer Wanderer möchte die Nacht bei euch verbringen, öffnet die Türe, der Himmel wird es euch vergelten!« Es kam eine Frauenstimme aus dem Haus: »Das Gastzimmer ist leer, geh hinein und schlafe, bis die Sonne dich zur weiteren Wanderung aufweckt!«

Als Namshani am nächsten Morgen der Wirtin seinen Dank sagen wollte, wurde er sehr traurig, weil er sah, daß sie blind war. Sie tastete sich langsam aus der Küche heraus. »Sei nicht traurig, daß ich blind bin«, sagte sie zu ihm, »ich sehe mehr als du, ich weiß deinen Weg besser als irgendein Mensch. Du mußt heute weiter 157 wandern – immer nach Süden. Ein großes Glück wartet deiner, weil du ein guter Mensch bist.«

Als er bis über Mittag gegangen war, wurde das Tal immer schmäler, die hohen Berge rückten immer enger zueinander, so daß er von dem weiten Himmel nur noch einen schmalen Streifen sehen konnte. Der Pfad wand sich immer tiefer ins Gebirge hinein, schlängelte sich oft an steilen Abhängen entlang. Er fühlte sich einsam. Es war kein Menschenhaus in der Nähe, und die hohen Felsengipfel schlossen ihn immer enger ein.

Als es regnete, wurde er traurig, frierend und hungrig stellte er sich unter einen überhängenden Stein, um trocken zu bleiben. Da hatte er eine Freude, weil dort eine schöne Jungfrau stand. »Erlaubt mir, schöne Jungfrau, eine Bitte«, sagte Namshani zu ihr, »ich bin ein armer Wanderer und suche ein Obdach für die Nacht. Ist euer Haus in der Nähe?« 158

»Wohl ist es in der Nähe, wenn ihr mit mir gehen wollt, werde ich euch zu meiner Herrin führen, die gut und gnädig ist.«

So ging er mit ihr, als der Abend hereinbrechen wollte. Immer tiefer drangen die beiden ins Gebirge ein, bis ein riesengroßes Haus mit hundert beleuchteten Fenstern in der Ferne auftauchte. Das Haus war größer als ein Schloß. Er wagte kaum, der Jungfrau zu folgen und blieb außerhalb des großen Tores stehen. »Kommt nur herein, das ist erst das erste Tor!« Er folgte ihr zögernd und ängstlich. Über einen breiten Weg, der zwischen vielen Lotosteichen hindurchführte, gingen sie zum zweiten Tor. Hinter diesem standen links und rechts große Gebäude mit zahllosen Zimmern. »Das alles sind nur Zimmer für die Diener. Hier sind hundert Knechte und hundert Mägde untergebracht.« Dann gingen sie durch das dritte Tor. »Das sind die Schatzkammern«, erklärte die Zofe. Namshani 159 wurde immer ängstlicher. Das Mädchen sagte ihm aber, daß er keine Furcht haben solle. So ging er auch durch das vierte Tor hindurch, hinter dem noch größere und noch schönere Häuser standen. »Was sind dies für hell erleuchtete Gemächer?« fragte Namshani.

»Das sind die Gastzimmer, aber sie sind leer. Meine Herrin wird sich freuen, euch heute zu bewirten und zu begrüßen.«

Namshani aber sagte: »Ich bin nur ein armer Wanderer, der nichts hat, als seinen leeren Rucksack und den Bambusstock. Es ziemt sich nicht, daß so ein Mensch in dieses Schloß hinein komme.«

»Ihr seid sehr bescheiden, darum werdet ihr viel gelten bei der Herrin«, sagte sie und führte ihn in das erste schöne Gastzimmer.

Es kamen Diener und geleiteten ihn zum Bad. Dann eilten Mägde herbei und brachten ihm ein schönes seidenes 160 Gewand. Darauf bekam er eine große Tafel voll der seltensten und köstlichsten Speisen, die er nicht einmal dem Namen nach kannte. Als die Diener die Tafel weggetragen hatten, und er sich über das herrliche Zimmer mit den seidenen Wänden und Perlenvorhängen wunderte, erschien die Herrin in Begleitung vieler Dienerinnen bei ihm. »Habet Dank für eueren Besuch!« Namshani verneigte sich höflich, fand aber kein Wort. Ihr Antlitz war so schön, so erhaben, daß er kaum wagte, sie anzublicken. Nach langer Zeit sagte er endlich: »Es ist hier wohl eine göttliche Welt, vergebt mir, wenn dieser arme irdische Wanderer sich über euere Schwelle gewagt hat!«

»Ich lebe ganz allein in diesem einsamen Gebirge. Ich habe alles, was ein Menschenherz begehrt. Seid mein willkommener Gast und bleibt bei mir, solange es euch gefällt«, erwiderte sie und kehrte zu ihren Gemächern zurück.

So lebte nun unser Namshani 161 umgeben von hundert Dienern und hundert Mägden. Er ritt im Gebirge, er jagte mit Falken und übte sich im Bogenschießen. Wenn er ins Schloß zurückkehrte, empfing ihn die lieblichste Musik. Doch fühlte er sich nicht wohl, weil er immer daran denken mußte, daß seine alte Mutter jeden Morgen Kräuter sammeln ging.

»Sagt mir eueren Kummer, edler Gast, ich möchte alle Sorgen tilgen und euch glücklich sehen«, sagte die Herrin.

»Ich habe eine alte Mutter unter dem südlichen Berg der Königsstadt. Sie ist so arm, daß sie jeden Tag zum Markt gehen muß, um Kräuter zu verkaufen.«

»Ich schicke ihr heute noch zehn Pferde mit Gold beladen, damit es ihr gut gehe.«

Von diesem Tage an seufzte Namshani nicht mehr. Die Sonne schien ihm wärmer als früher, der Mond sah schöner aus als in dem schönsten Traum. Die Bäche sangen die süßesten Melodien und die Berge trugen die 162 schönsten Blüten. Tag wie Nacht war das Leben so schön, daß er nun alles vergaß, was draußen in der Welt war. Er träumte auf dem Kahn im Lotosteich, er spielte die fröhlichste Musik, er merkte gar nicht, daß es Winter wurde, daß es schneite und die entlaubten Bäume und die Berge sich mit Schnee umhüllten, daß die armen Fasanen hungrig gackerten, und die Rehe an den Wurzeln nagten. Er merkte gar nicht, daß dieser hohe Schnee hinwegschmolz, daß die Bäche und Flüsse die Ebene überschwemmten, daß der Kuckuck wieder rief, die Azaleen wieder blühten, Schmetterlinge schwebten und Bienen summten. Wolken zogen dahin, wurden Regen, ließen die Bäume und Gräser in Üppigkeit blühen.

Da wurde Namshani auf einmal wieder traurig.

»Mein edler Gast, alles sollt ihr haben, alle Räume sind voll von Edelsteinen und Gold, Schimmel und Rappen können euch tausend Meilen weit 163 tragen. Alle meine Diener sind euch untertan. Was kann euch fehlen?«

»Was nützt mir alles? Warm ist die Sonne, die meine Flügel bescheint, klar ist das Wasser, über dem ich schwebe, saftig grün die Wiese, auf der ich taumle, doch bin ich ein unglücklicher Schmetterling, der nicht zu seiner Blume kann.«

»Ich bin eure Blume, wenn sich euere Flügel müde geflogen haben.«

Da umschloß er die himmlische schöne Frau mit seinen Armen. Nun war Namshani glücklich wie kein anderer Mensch auf Erden. Er heiratete sie und wurde Herr über das Schloß. Die schönste Frau streichelte seine Haare, küßte und umarmte ihn, begleitete ihn auf der Kahnfahrt, auf der Jagd. Sie übergab ihm die Schlüssel aller Zimmer und zeigte ihm die ganzen Schätze des Schlosses.

Namshani ritt nach Seoul, um seine Mutter zu holen. Sie sollte diese Herrlichkeit sehen, die schönste 164 Schwiegertochter begrüßen und in seinem Haus die prächtigsten Zimmer bekommen.

Er fand die Mutter in einem wunderschönen Haus in der Mitte der Stadt. Die glückliche Mutter kam bis ans Tor, um ihn zu empfangen. Namshani erzählte ihr von seiner himmlisch schönen Frau und bat sie, sofort mit ihm zu reisen. »Eine Nacht mußt du aber in dem schönen Zimmer schlafen, das ich schon lange für dich hergerichtet habe«, sagte sie und führte ihn ins Haus.

Am nächsten Morgen meldete ein Diener, daß ein alter Mann den Herrn zu sehen wünsche. Namshani empfing den ehrwürdigen Gast mit einer tiefen Verbeugung. Ein langer Bart zierte das würdevolle Antlitz, und auf dem weißhaarigen Haupt ruhte der Hut höchster Weisheit. »Ich bin gekommen, um dich zu retten«, sagte der Gast, nachdem er Platz genommen hatte. »Du bist ein guter Mensch und des himmlischen Schutzes würdig.« 165 Namshani verneigte sich wieder. »Die Frau, die dich verführt hat, ist eine hundertjährige Tausendfüßlerin. Weil sie so alt geworden ist, kann sie sich jetzt in einen Menschen verwandeln. Sie wird dich in einigen Tagen vergiften, wenn du sie nicht rechtzeitig tötest.«

Namshani erschrak zu Tode. »Wie aber kann ein so niederer Wurm zu einer solch himmlisch schönen Frau werden?« fragte er zitternd.

»Wenn du mir nicht glaubst, dann sieh ihr selbst einmal zu, wie sie in ihren eigenen Körper zurückkehrt. Reite heute noch zurück, gehe durch ihr Zimmer, mache die verborgene Tür hinter ihrem Schrank auf und schau in das geheime Badezimmer. Du wirst sie als eine Tausendfüßlerin baden sehen.«

Nach diesen Worten ging der Greis aus dem Zimmer und verschwand wie schwebend aus dem Hause.

Namshani kaufte in der Stadt das schärfste Gift, ritt ins Gebirge und kam gegen Abend in das Zimmer seiner 166 Frau. Wie der weise Mann gesagt hatte, fand er die versteckte Tür und öffnete sie. Oh, welch ein Schreck befiel ihn! Vor ihm dehnte sich ein großer Teich, den er noch nie gesehen hatte. Das Wasser sprudelte, als ob es kochte, und es kam ein endlos langer Tausendfüßler heraus, dessen einzelner Fuß von Armesdicke war. Am Kopfende aber saßen zwei Menschenaugen, die wütend zu ihm herüberblickten. Er schlug schnell die Tür wieder zu.

Als es Abend wurde, kam seine Frau zu ihm herein. Das schöne Antlitz war kreidebleich geworden. Kraftlos hingen die Arme herab, der Mund bebte und aus den sanften Augen flossen Tränen.

»Du niedriger Wurm!« schalt er sie und nahm das Gift aus seiner Tasche.

Die Frau wurde immer trauriger, wie versteinert stand sie vor ihm. Er gab ihr das Gift und befahl ihr zu trinken. Zitternd nahm sie den Becher in die Hand und sah zu ihm empor. Da nahm er das Gift zurück und schüttete es aus. 167 »Nein, liebste Frau, lieber werde ich von deinem Gift sterben, als daß ich dich sterben sehe. Du hast meiner Mutter so viel geschenkt, du hast mir das schönste Leben gegeben.« Er umarmte und küßte sie.

Wie die Wolken vom Wind, so war die Traurigkeit von ihrem Gesicht weggeblasen, und sie lachte vor Glück. »Ja, ich bin eine Tausendfüßlerin, ich war verdammt, hundert Jahre lang in der Haut dieses Wurmes zu leben, weil ich im Himmel eine Sünde begangen hatte! Jetzt aber hast du mich mit deiner Liebe erlöst. Der Mann, der zu dir gekommen ist, war mein Bruder, der in eine Riesenschlange verwünscht worden ist. Morgen noch wird er als Schlange sterben, weil kein Mensch ihn erlöst hat. Er war neidisch auf mein Glück und wollte mich durch dich töten.«

So kam unser Namshani mit seiner schönen Frau zusammen zu seiner Mutter. Dort hörten sie, daß man am gleichen Tag unter dem nördlichen 168 Berg der Stadt eine Riesenschlange tot aufgefunden hätte.

Namshani lebte nun glücklich mit seiner schönen Frau. Hundert Knechte und hundert Mägde pflegten sie und ihre Kinder bis an ihr seliges Ende. 169

 


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