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London, am 5. Dezember 1782
Ich war genötigt, eine große Anzahl von Anmerkungen hinzuzufügen, und mehrere derselben sind ein wenig lang. Daher habe ich mich dafür entschieden, sie unter genauem Nachweis der Stellen, zu denen sie gehören, an das Ende zu verweisen. Dies Verfahren lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers weniger ab und wird an ein anderes Werk erinnern, wo ich es zu meinem Vorteil ebenfalls angewandt habe.
Linguet.
Ich befinde mich in England: ich muß beweisen, daß ich nicht umhin konnte, dahin zurückzukehren. Ich befinde mich nicht mehr in der Bastille: ich muß beweisen, daß ich nie verdient habe, hineinzukommen.
Ich muß mehr thun: ich muß zeigen, daß nie jemand es verdient hat – die Unschuldigen nicht, weil sie unschuldig sind, die Schuldigen nicht, weil sie nur nach Maßgabe der Gesetze überführt, verurteilt und bestraft werden dürfen und man in der Bastille kein Gesetz befolgt oder vielmehr sie sämtlich übertritt; ferner weil es, wenn nicht vielleicht in der Hölle, nirgends Strafen giebt, die denen in der Bastille nur annähernd gleichkommen, und weil, wenn auch die Einrichtung der Bastille an sich möglicherweise zu rechtfertigen ist, doch in keinem Falle das Verwaltungs-System in derselben gerechtfertigt werden kann. Ich muß zeigen, daß dies ebenso schmachvolle wie grausame System allen Prinzipien der Gerechtigkeit und Menschlichkeit, den Sitten der Nation, der Milde, welche das königliche Haus von Frankreich auszeichnet, und vor allem der Güte und dem Billigkeitsgefühl des Fürsten Hohn spricht, der zur Zeit den Thron dieses Landes einnimmt.
Durch diese Erörterung will ich die Wiederaufnahme meiner Arbeit und den Wiedereintritt in meinen mühevollen Beruf feiern.
Die beiden ersten Abschnitte scheinen rein persönlich zu sein und nur mich anzugehen. Man wird indessen sehen, daß sie unzertrennlich mit dem dritten verknüpft sind und einen wesentlichen Teil desselben bilden. Alle drei zusammen schildern eine Reihenfolge von Unterdrückungen, eine Kette von Ungerechtigkeiten und Leiden, für die sich seit der Geschichte Hiobs sicherlich nur wenige Beispiele finden.
Würde ich übrigens würdig sein, den dritten zu erörtern, wenn ich nicht mit den Aufschlüssen über die beiden ersten Punkte begänne? Von welchem Gewichte würden meine Vorstellungen sein, wenn ich nur ein rachgieriger Überläufer oder ein durch die Begnadigung gebrandmarkter Verbrecher wäre?
Hat man aber die Beweise für meine Unschuld kennen gelernt, so wird man um so tiefer von der Schilderung der Schrecken ergriffen werden, vor denen sie mich nicht hat bewahren können. Diese Teilnahme wird sich noch vermehren, wenn man bedenkt, daß es unter den in Frankreich Reisenden weder einen Franzosen noch einen Ausländer giebt, der sicher sein darf, diese Schrecken niemals zu empfinden. Die französischen Bastillen verschlangen und verschlingen noch täglich Menschen aus allen Ständen und aus allen Nationen. Mit Recht könnte man über die Zugänge zu diesen Schlünden (I) die an die Vorübergehenden gerichtete Mahnung setzen, die über der Pforte mancher Friedhöfe zu lesen ist: Hodie mihi, cras tibi.
Wer in der That darf erwarten, einem Lose zu entgehen, vor dem weder die Eigenschaft als präsumptiver Erbe der Krone einen Ludwig XII., noch die errungenen Lorbeern einen Condé (II), noch Tugend und Wissenschaft einen Sacy samt so vielen andern, noch die Würde des Richterstandes einen Pucelle, noch das Völkerrecht so viele Engländer, Deutsche, Italiener u. s. w. bewahren konnte, deren Namen, infolge feindlicher Bosheit mit diesen verhängnisvollen Mauern verknüpft, dort allerorten eine Art Erdkunde abgeben, die ebenso mannigfaltig wie erschreckend ist?
Ludwig XII., damals noch Herzog von Orleans, empörte sich, um die Vormundschaft über Karl VIII. an sich zu reißen, wurde aber bei Saint-Aubin geschlagen, gefangengenommen und von 1488-1491 im Turm von Bourges verwahrt. Heinrich II. von Condé, der Vater des großen Condé, wurde wegen mannigfacher Umtriebe und Intriguen am 1. September 1616 im Louvre verhaftet und erst in die Bastille, dann aber in das Staatsgefängnis zu Vincennes gebracht, aus dem ihn Luynes am 16. Oktober 1619 befreite; von ihm ist in Linguets Anmerkung II die Rede. Der oben im Text genannte große Condé selbst wurde während der Unruhen der Fronde auf Anstiften Mazarins am 18. Januar 1650 mit Conti und Longueville im Palais Royal verhaftet und zuerst nach Vincennes, dann nach dem Schlosse Marcoussi und endlich nach Havre de Grace geführt, wo er am 13. Februar 1651 wieder in Freiheit gesetzt wurde. Der Marschall von Luxembourg begab sich freiwillig in die Bastille, als der Giftmischer Le Sage ihn vor der
chambre ardente des Mordes beschuldigt hatte; seine Haft dauerte vierzehn Monate. Den Jansenisten Le Maistre de Sacy führte seine religiöse Überzeugung in die Bastille. Der ebenfalls jansenistische Pucelle, ein Neffe Catinats und Parlementsrat, wurde wegen seiner beißenden Kritik der Maßnahmen des Kardinals Fleury verhaftet und dann, als seine Kollegen für ihn eintraten, verbannt. Am schwersten endlich verging man sich gegen Mahé de La Bourdonnais. Dieser hatte, nachdem er schon 1741-44 den Engländern in den indischen Gewässern den größten Abbruch gethan, i. J. 1746 Madras erobert, gegen eine Kontribution von neun Millionen Livres aber wegen der Schwäche seiner Streitkräfte wieder geräumt. Dies wurde zum Verbrechen gestempelt, und La Bourdonnais, als er 1748 nach Paris zurückkehrte, sogleich in die Bastille geschickt. Erst 1752 wurde er wieder entlassen und starb bereits am 9. September 1753. Vgl. den Abschnitt BB im Anhang.
D. Übers. Ich habe also hier sozusagen den Charakter einer
Epidemie festzustellen, die für die ganze Menschheit gefährlich ist.
Trotz der überreichen Menge von Zeugen, die diesen Schlünden wider ihren Willen einen Besuch gemacht haben, ist über die innern Einzelheiten nur sehr wenig bekannt. Die Memoiren von La Porte, Gourville und Frau von Staal geben fast gar keine Auskunft darüber, und das, was sie sagen, bildet nur den Beweis für eine unbestreitbare Thatsache: daß nämlich dieser Tartarus zu ihrer Zeit eine Art elysischer Gefilde gegenüber dem war, was er heute ist.
Über La Porte, Gourville und Frau von Staal siehe S. 73. 74. 87. 88.
D. Übers.
Die Gefangenen empfingen damals Besuche, sie besuchten sich untereinander, sie gingen zusammen spazieren, und die Stabsoffiziere sprachen und aßen mit ihnen und waren für sie ebensowohl Tröster als Wächter. La Porte redet mit eigenen Worten von den »Freiheiten der Bastille«; er bezeichnet mit diesem Ausdrucke alle die eben erwähnten Begünstigungen, die ihm und seinen Unglücksgefährten zu Teil wurden.
Und La Porte spricht von der Regierung des Kardinals Richelieu! La Porte war einer von den Männern des Reichs, die am wenigsten geschont werden sollten! Der Despotismus des unversöhnlichen Ministers hatte ein persönliches Interesse daran, ihm ein wichtiges Geheimnis zu entreißen, dessen Vertrauter er war, seiner Rachsucht lag daran, ihn zu quälen! Die Bastille hatte also zu jener Zeit keine Bitterkeit, die er nicht hat hinunterschlucken, keine Marter, die er nicht hat erdulden müssen. Nun aber vergleiche man seine Schilderung mit der meinen (IIl).
Auf welche Weise hat dies Wachstum an Barbarei sich vollzogen? Das weiß ich nicht, eine schmerzliche Erfahrung aber hat mich die Wirklichkeit desselben nur zu gut kennen gelehrt. Während heute alles in Sitten und Gebräuchen eher zur Milde als zur Strenge zu neigen scheint, während der Fürst, der jetzt über Frankreich herrscht, nur milde Absichten an den Tag legt, während auf seinen Befehl humane Veränderungen in den gewöhnlichen Gefängnissen sogar den überführten Verbrechern Erleichterungen gesichert haben, beschäftigt man sich in der Bastille nur damit, die Martern für die Unschuld zu vervielfältigen. Die Kerker der Bastille haben an Grausamkeit mehr gewonnen, als die übrigen verloren haben.
Diese unglaubliche Verschlimmerung enthüllen, heißt unter einem gerechten Fürsten eine Reform derselben erzwingen. Diese letzten Abschiedsworte an mein Vaterland sind daher noch ein Dienst, den ich demselben erweise: diese letzte Huldigung wird für den tugendreichen König, der es beherrscht, eine Gelegenheit mehr sein, Gutes zu thun, wie er es liebt und sucht.
Aber giebt es nichts, was mir diese Enthüllung verbieten könnte? Kann ich alle Gegenstände, die ich hier behandle, auch ohne Bedenken behandeln? Kann ich mit gutem Gewissen dem Publikum das Geheimnis der fürchterlichen Mysterien enthüllen, in die der 27. September des Jahres 1780 mich eingeweiht hat?
Die Schergen der Bastille haben allerdings nicht das Wasser des Lethe zur Verfügung, um im Gedächtnis ihrer Opfer die Erinnerung an ihre Grausamkeiten zu verwischen – aber sie suchen diesen Mangel zu ersetzen. Der Despotismus, der das Schweigen zu einer der Martern der Bastille macht, wenn man drinnen ist, sucht dasselbe
zu einer religiösen Pflicht zu machen, wenn man sie verläßt: man zwingt alle die Jonasse, die sie wieder ausspeit, zu dem Schwure,
daß sie nie, weder unmittelbar noch mittelbar, etwas von dem enthüllen werden, was sie etwa darin erfahren oder erlitten haben.
Vgl. bezüglich dieses Versprechens das Formular für die Entlassung aus der Bastille im Anhang unter P.
D. Übers.
Ein Beamter in anscheinend der Gerechtigkeit geweihter Tracht (IV), Kriegsleute, geschmückt mit dem augenscheinlichen Lohne für unbescholtene Dienste, für ein der Verteidigung der Bürger geweihtes Leben (V), sind es, die diesem letzten Akte einer Bedrückung vorstehen, deren Werkzeuge sie bis dahin waren. Man zeigt dem Halb-Erstandenen die Pforte, die ihn allein dem Leben wiedergeben kann, zur Hälfte geöffnet und bereit, sich wieder zu schließen, wenn er zögert: man will ihm nur die Wahl lassen zwischen dem Schweigen, dem Meineid und dem Tode.
Fühlende Männer aller Nationen, strenge Kasuisten, die ihr wißt, was Ehr- und Zartgefühl gebieten, sprecht das Urteil. Soll meine Feder gebunden bleiben, weil meine Hände ungerechterweise gebunden waren? Nein! Einstimmig ruft ihr mir zu, daß der Bruch dieser schmählichen Verpflichtung kein Meineid ist, daß es ein Verbrechen ist, ein solches Versprechen zu fordern, nicht, es zu brechen.
Ihr habt den berühmten Dellon für schuldfrei erklärt, als er sich der Fessel entledigte, die von einer religiösen Inquisition geschmiedet worden, welche, da sie dieselben Grundsätze hat wie die hier in Rede stehende, auch die nämlichen Mittel anwendet, um das Schmähliche und Empörende derselben zu verdecken.
C. Dellon war um 1649 geboren. Nachdem er einige Zeit Medizin studiert hatte, schiffte er sich 1668 in Port-Louis nach Ostindien ein, bereiste die Küste von Malabar bis Cananor, ging dann nach China und kehrte von dort zu Lande nach Daman zurück, wo er sich der Ausübung seines Berufs widmete. In Daman wurde er 1674 auf Befehl der Inquisition verhaftet, nach Goa gebracht und dort im Gefängnis mit ausgesuchter Grausamkeit behandelt. Schließlich verurteilte ihn die Inquisition zur Konfiskation seines Vermögens und zu fünfjähriger Galeerenstrafe. Zur Abbüßung dieser Strafe nach Portugal geschickt, fand er in dem Leibarzte der Königin einen Beschützer und wurde auf dessen Verwenden begnadigt. Er kehrte nun, im August 1677, nach Frankreich zurück und ließ sich in Bayonne nieder, wo er sich als Arzt binnen kurzem eines großen Rufs erfreute. I. J. 1685 begleitete er den Prinzen Conti auf einer Reise nach Ungarn. Über seine weitern Schicksale ist nichts bekannt. Der Bericht über das Verfahren der Inquisition gegen ihn erschien zuerst 1687 in Leyden unter dem Titel:
Relation de l'inquisition de Goa.
D. Übers. Ihr vereint euch mit
mir, um eine für die Gesellschaft unendlich wertvolle Wahrheit von neuem festzustellen, und für alle Zeiten zu bestätigen, eine Wahrheit, deren Verleugnung den mit der Macht gewappneten Bösewichtern einen zu großen Vorteil gewähren würde, die Wahrheit, daß der Eid eingeführt ward, um die gesetzmäßigen Übereinkünfte zu verbürgen, um die Beobachtung der Gesetze zu sichern, nicht aber, um die Mißbräuche, die gegen diese Gesetze verstoßen, zu schirmen und verewigen zu helfen.
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