Hermann Löns
Kraut und Lot
Hermann Löns

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Im Schweinebruch

Der Kuckuck rief die ganze Nacht über, so sternklar und mondhell und warm war es. Gegen Abend war eine weiße Wetterwand hinter den Wäldern aufgestiegen, aber der Mond litt es nicht, daß sie hoch kam; er jagte sie dahin, wo sie hergekommen war.

So wird es wieder einen solchen Tag geben, wie gestern und vorgestern, mit hohem, wolkenlosem Himmel, aus dem die Sonne siedeheiß heruntersengt; schon jetzt, in der dritten Morgenstunde, geht die Luft lau und sichtig, denn es ist fast gar kein Tau gefallen; nur in den tiefen Wiesen steht ein dünner Nebel und über der Ferne ein weißer Dunst.

Der Kuckuck ist schon wieder im Gange. Sein Ruf vermischt sich mit dem des Wiedehopfes, mit dem Flöten der Brachvögel und dem Balzen der Birkhähne. Die Nachtschwalbe spinnt nicht mehr, die Himmelsziege hat ausgemeckert, die Mooreule ist verstummt; dafür erschallt vom Moore das Trompeten der Kraniche, aus den Eichen des Pfingstvogels Flöten und aus der Höhe das Dudeln der Heidlerchen. Von dort kommt auch ein rauher, herber Ruf: die Kolkraben sind es, sie warnen sich vor mir. Die Warnung ist unnötig, stolzer Vogel, du bist sicher vor mir. Deinetwegen habe ich gestern mittag bei sengender Sonne den Bock eine Viertelstunde lang aus dem Bruche nach den Sandbergen geschleppt, denen du jetzt zustreichst! Über den braunen Höhen, deren Kahlheit nur hier und da ein grauer Irrstein oder ein schwarzer Wacholder unterbricht, kreisen die fünf Raben, schrauben sich hinab, steigen wieder und lassen sich endlich bei dem Bocke nieder, ab und zu wieder aufflatternd, denn zuwenig traut heute Wodes heiliges Tier dem Menschen.

Gestern traf ich den Bock von der Kösterbult zu dritten Male an; sein hohler Husten verriet ihn mir. Ein zweijähriger Bock war es, mit lauscherhohen, engestellten, ungefegten Spießen, tief eingefallenen Flanken und einem Widerrist, zackig wie ein Hahnenkamm. Er stand breit da und äugte mich auf anderthalb hundert Gänge groß an. Ich schlug das Fernrohr auf und setzte ihm die Kugel auf das Blatt. Sein Wildbret war ungenießbar, darum verehrte ich ihn den Raben. Eine Stunde später hatten sie ihn schon erspäht.

Jetzt bin ich mit dem Frühstück fertig, und nun will ich am Schweinebruch entlang pirschen. Viel Zweck hat es nicht, denn alle Rehe sind noch grau, und ich will einen roten Bock haben. Aber der Winter war zu lang und zu bitter, und nur einen einzigen Spießbock traf ich an, der rot am Halse war. Der starke Sechserbock von der großen Besamung kam mir drei Abende bis vor die Leiter in der Birke; aber erstens wäre es schade um ihn, denn er kann noch zwei bis drei Jahre für Nachzucht sorgen, und dann, so grau wie er ist und mit dem eben erst gefegten Gehörn macht es keine Freude, ihn auf die Decke zu bringen.

Es ist überhaupt lange nicht so schön hier wie vor einem Jahre. Zwar schimmern die Blüten des Wollgrases so silbern wie ehedem in den Torfstichen, zwar leuchtet der Zwergginster so golden wie damals von den Heidhügeln, zwischen den Ellernbüschen blühen die Ebereschen, die Wacholder begrünen sich, die Birken sehen wie smaragdene Springbrunnen aus, und die krausen Kiefern strotzen vor Blüten und jungen Trieben, aber das Gras in den Wiesen ist kurz und dünn, es fehlt an Blumen, die Heide schläft immer noch, nur hier und da zeigt sich ein frisches Spitzchen. Sie kann sich von dem harten Winter noch nicht so recht erholen.

Den Rehen geht es nicht anders; zu trocken war der Nachsommer, zu dürr der Herbst, zu schlimm der Winter. Die alte Ricke dort mit den beiden jährigen Kitzen, sie zeigen alle drei noch kein rotes Haar. Es ist die einzige Ricke, die ich in den drei Tagen zu Gesicht bekam; sie wird dieses Jahr gelt sein, denn die andern Ricken sind jetzt heimlich, wie der alte Bock vom Kanal. Auf den habe ich es abgesehen. Es ist nun das dritte Jahr, dass ich seinetwegen hier umherschleiche; so manchen guten Bock hätte ich anderswo schießen können, aber es zog mich immer wieder nach der Bruchwildnis, nach dem Ellernbusch, nach den Porstdickungen, in denen der stärkste Bock hier seinen Stand hat. Aber es hält schwer, ihm beizukommen, denn allzu nass ist es dort, selbst zu dürren Zeiten, und mannstief steht der weiche, schwarze Boden dort, und zu vorsichtig ist der Bock. Versuchen will ich es heute darum doch wieder einmal.

Der Wind ist nicht schlecht. Wenn ich hier an dem Bache entlang schleiche, komme ich zu dem Brink, in dem der alte Mutterbau ist; da steht eine kranke Kiefer, und in der habe ich mir einen Sitz gebaut, von dem aus ich weit in das Bruch hineinsehen kann. So manches Mal habe ich von dort her die Kraniche beobachtet, wenn sie ihre halbbeflogene Brut die Schneckensuche lehrten, und die Dächsin, die ihren Jungen das kunstgerechte Stechen nach Untermast beibrachte, habe dem Brachvogel und der Bekassine, dem Birkhahn und der Krickente zugesehen und der Kreuzotter nachgeschaut, die am Grund des Hügels die Maus übertölpelte. Langweilig ist es dort nie. Auch jetzt ist es das nicht. Und wenn weiter nichts zu sehen wäre als das verschiedenfarbige Grün der Ellern, des Porstes, der Birken, Eichen und Kiefern, als der Rohrammerhahn, der von dem Weidenbusche herab sein dürftiges Liedchen zirpt, als die Hasen, die sich im Sandwege trocken laufen, als die hellen Tauben auf den dunklen Fichten und die Kiebitze auf der anmoorigen Wiese, als der Reiher, der würdevoll nach dem Flusse hinstreicht, es wäre schon genug für mich. Aber dann sind da noch Jungkrähen, die von den Alten geatzt werden, Stare streichen hin und wieder, ein Birkhahn, riesengroß aussehend auf der kahlen Weidekoppel, balzt, und über die Porstdickungen schaukelt ein heller Weih hinweg.

Nur Rehe sind nicht da. Doch, vor dem breiten Wacholderbusche, der in der Sonne halb schwarz, halb grün aussieht, tauchen eben zwei Lauscher aus dem gelben Ried auf. Ein Gabelbock ist es, ein Zukunftsbock, denn höher als die Lauscher ist sein weit ausgelegtes Gehörn; aber grau wie ein Esel ist er noch, und das Schmalreh, das sich zwischen den Ellernbüschen äst, weist gleichfalls kein bißchen Rot auf. Sie ziehen beide auf mich zu, und ich sehe mir den Bock ganz genau an, wie er, ab und zu verhoffend, hier ein Gräschen und da eine goldene Blüte von dem Zwergginster pflückt. Und dann fegt er an einem schlanken, jungen Wacholder, daß die jungen Triebe weit umherfliegen, und plätzt, daß Sand und Renntiermoos nur so stieben. Jetzt aber wirft er auf und sein Schmalreh auch; beide äugen mit langen Hälsen dorthin, wo die Ellernbüsche und der Porst sich verfilzen, und dann ziehen sie eilig in die Heide hinein. In den Porstbüschen blitzte etwas auf, verschwindet wieder, blitzt abermals auf und ist schon wieder fort. Ich spanne, denn das muß der alte Bock sein. Anstreichen kann ich auf dem dicken Zweige vor mir; gibt der Bock nur den Hals frei, so bekommt er die Kugel; ich will nicht noch ein Jahr hinter ihm herpirschen in dieser Sumpfecke, in der die Luft zur Hälfte aus Mücken und Gnitten besteht und über der die Hitze wie gemauert steht. Aber er gibt den Hals nicht frei; ab und zu sehe ich die Lauscher und anderthalb Hände hoch darüber die weißen Enden und das Geäse, das die Zweige abstreift; einmal sehe ich auch den Spiegel, weiter aber nichts und jetzt ist er ganz verschwunden.

Ich sitze und rauche und blicke immer dahin, wo der Bock verschwand. Meine ich da seinen Spiegel zu erblicken und nehme das Glas, so ist es eine Ebereschenblüte, und denke ich, dort ist das Gehörn, so sagt mir das Glas, daß es eine Geißblattblumenknospe ist, die ein Vogel bewegt. So begnüge ich mich damit, den balzenden Hahn unter das Glas zu nehmen, den Brachvogel, der kopfnickend über die magere Wiese stelzt, die Heidlerchen, die unter mir im Sande umhertrippeln, den Raubwürger, der auf der toten Fichte bäumt, schaue den Tauben nach, die zu Felde streichen, ärgere den Kuckuck, der vor mir auf dem Wacholder sitzt, mit seinem eigenen Rufe, freue mich, daß der Schwarzspecht im Porst seinen Anderwetterruf herüberklingen läßt, denn den Regen haben wir alle nötig, die Bauern sowohl als auch ich, wundere mich, woher die Seeschwalbe kommt, die mit klirrendem Schrei über die Heide fliegt, höre zu, was die Grillen und die Grasmücken geigen, und dann geht plötzlich durch mich ein Ruck, denn auf achtzig Gänge steht der Bock, steht breit da und zeigt mir sein volles Gebäude.

So habe ich ihn nur einmal vor mir gehabt, aber es war im Spätherbst, als ich auf die alte Geltricke ansaß, und damals hätte ich ihm beinahe die Kugel angetragen, sah aber zum Glück noch durch das Zielfernrohr, daß er schon halb geworfen hatte. Ja, er ist es, es ist mein Bock, der älteste, der heimlichste Bock weit und breit, ein Bock mit einem Gebäude, daß ich ihm fünfundvierzig Pfund aufgebrochen gebe, und eine Gehörn, hoch, stark, gut geperlt, dunkelbraun bis auf die weißen Enden und weit gestellt. Nur schade, schade daß er noch das Winterkleid trägt! Darum bleibe ich auch so kalt. Wäre er rot, leuchtete er aus dem Grün heraus, dann vernähme ich wohl den eigenen Herzschlag und rückte mich nicht so gelassen zurecht, um die Spitze des Fadenkreuzes auf das Blatt zu bringen. Soll ich, oder soll ich nicht? Ich hänge mir ja das Gehörn an die Wand und nicht die Decke! Aber trotzdem: ich weiß, ich schieße auf ihn, wie auf eine Geltricke und hinterher werde ich mich ärgern, wenn er grau und ruppig zu meinen Füßen liegt. Andererseits: an sechzig Abende und Morgen hat er mich gekostet, und er hat mich oft genug zum besten gehalten, und ist erst die Wiese hoch, dann bekomme ich ihn bestimmt nicht. Darum will ich jetzt Schluß machen mit ihm, zumal er hier keinen andern Bock stehen läßt.

Aber wo ist er? Eine Viertelminute hat es gedauert, daß ich die Wendung machte, und fort ist er. Ich warte eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, aber der Bock läßt sich nicht mehr sehen. Na, dann ein anderes Mal! Schließlich ist es mir auch so lieber. Die anderen würden mich ja auslachen, wenn ich ihnen erzählte, daß ich mich so lange besann, aber ich erzähle es ihnen nicht, denn diesen Bock behalte ich mir vor. Das Sitzen bin ich aber leid. Ich will noch ein bißchen hin und her bummeln und dann so langsam zum Krug gehen, denn heute gibt es die Keule von dem Bocke, der am vorletzten Mai meinen Freund anlief.

Ich schlage die Büchse über das Kreuz und gehe achtlos den Damm entlang. Die Hitze ist schon wieder ganz gefährlich; ich werde keinen Bock mehr antreffen und außerdem: grau sind sie ja doch alle noch! Nein, es ist besser im Kruge; man läuft sich hier dumm und albern. Ich habe nichts an als Jagdhemd und Hose und schwitze wie ein Schweizerkäse. Die andern wollten nicht aufstehen; die sitzen unter der Linde und spielen Skat, und ich mahle durch den weißen Sand! Doch was ist denn das da? Ein rotes Reh? Es wird ein dürrer Wacholder sein, dem die Sonne Feuerfarbe gibt. Aber es ist ein Reh, ein feuerrotes Reh, das sich dort zwischen den rauhen Kiefern an den Ginsterblumen äst. Eine alte Ricke, denn es ist ganz kahl zwischen den Lauschern, und wohl eine Geltricke; andere treiben sich hier in den öden Sandbergen nicht umher. Aber ich habe lange kein rotes Reh in der Nähe gesehen, und so will ich mich heranpirschen. Merkwürdig, für eine Ricke hat es einen reichlich kurzen Hals, und es schiebt beim Ziehen ganz so, wie ein Bock. Sollte es der alte Plattkopf sein? Der steht aber eine halbe Stunde weiter in der Osterheide. Jetzt steht das Stück breit. Es ist doch wohl eine Ricke! Und jetzt steht es spitz von hinten. Nein, es ist der Bock aus der Osterheide. Den muß ich haben; er soll sich nicht noch mehr vererben. Aber wie? Hier hört alle Deckung auf. Ein bißchen weit ist es sogar für das Fernrohr, doch ich glaube, wenn ich auf der Grabenkante auflege, geht es. Nur muß er sich wieder breit stellen. So, jetzt geht es. Ja, er ist es; ich sehe den Pinsel ganz deutlich. Und so steht er, wie er nicht besser stehen kann.

Das saß, die hohe Flucht war gut! Ich gehe langsam näher. Da liegt er in der von den Schnucken kurz gehaltenen braunen Heide; er leuchtet nur so. Ein guter Bock und vorzüglich durch den Winter gekommen und hat er auch nichts zwischen den Lauschern, er freut mich doch, denn kein graues Haar hat er mehr, rot ist er von oben bis unten, und rot muß er sein!


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