Hermann Löns
Kraut und Lot
Hermann Löns

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Des Täubers Ruf

Es klingt ein dunkler Laut durch den hellen Wald; der Täuber ruft; manche Erinnerung lebt in mir auf.

Ein Junge von zwölf Jahren bin ich wieder, der mit der Büchsflinte in den Händen von Stamm zu Stamm schleicht. Mein Herz klopft, mein Atem pfeift, Schweiß perlt mir über die Stirn.

Meinen ersten Täuber soll ich erlegen auf der Pirsch; der alte Hegemeister mit dem langen weißen Barte lehrt es mich. Die Finken schlagen, die Drosseln pfeifen, die Meisen klingeln und die Spechte trommeln, weiße Blumen leuchten und gelbe Falter taumeln dahin. Ich höre alles das nicht und sehe nichts von dem. Ich spähe nach dem Täuber, der dort hinten von dem Hornzacken des alten Eichenüberhälters mit seinem dunklen Rufe die hellen Stimmen überschattet.

Gang auf Gang tue ich auf ihn zu; doch ein jedes Mal, wenn ich das Gewehr hochnehme, klappert er davon, verschweigt eine Weile und stimmt endlich wieder sein Liebeslied an. Und ich steige hinter ihm her mit klopfendem Herzen, wildem Atem und nasser Stirn, sehe nicht nach dem Gabelweih, der hell schreiend über den Kronen schwebt, nicht nach dem Hirsch, der vor mir abspringt, nicht nach der Blauracker, die mit hartem Gekrächze davonfunkelt. Den Täuber suchen meine Augen, nach ihm horche ich hin; bis der Schuß knallt, der schwere Vogel in die Blumen schlägt und hinter ihm ein Gestöber weißer Federn herniederschwebt.

Fünfunddreißig Jahre sind das her. Der Täuber ruft wieder sein abenddunkles Lied in den morgenhellen Wald hinein, dessen Boden weiß und blau und rot und gelb von Blumen ist, dessen Kronen von jungem Laube leuchten und in dem die goldenen Schmetterlinge hin und her taumeln. Die alte Jungenslust, die einstige Gier packt mich wieder; ich fasse nach dem Lauf unter meiner Achsel, lausche und lausche, bis ich den einen Ruf, den mit einem doppelten Schlußreime, im Kopfe habe, und gehe darauf zu. »Ku ku kukurru« klingt es, und abermals und noch einmal von den hohen Altbuchen her, und zuallerletzt: »Ku, ku.« Der soll es sein und keiner von den anderen, die dort und da rucksen. Hinter dem anmoorigen Lichtschlage ruft er, wo die Schlüsselblumen wie Gold leuchten und Morgenrotfalter um die nebelfarbigen Schaukrautblüten tanzen, Birkenlaubduft und des jungen Grases frischer Hauch sich vermengen und die Luft von silbernen Fliegen blitzt. Vorsichtig gehe ich, daß ich keine von den fröhlichen Blumen zertrete, und mache einen Umweg, um nicht das dichte Milzkraut hineinzustampfen, das den lustigsprudelnden Spring umsäumt, um die Hummeln nicht zu stören, die um die rosenroten und himmelblauen Lungenblumen brummen.

Zauberischer Glockenton hallt durch den Wald; der Schwarzspecht ist es, der seine Frau ruft. Über mir hängt er an dem höchsten Aste, trommelt, daß es weithin dröhnt, ruft wieder mit sehnsuchtsvoll jauchzendem Ton und wendet den Kopf hin und her, daß sein Scheitel wie eine helle Flamme lodert. Aber ich habe nicht Zeit, nach ihm hinzusehen, denn vor mir ruckst mein Täuber. »O du, du, du du!« ruft er. Von Stamm zu Stamm schleiche ich, achte des Rehes nicht, das vor mir abspringt, und nicht des Hasen, den ich aus der Sasse trete, horche nicht auf den Kuckuck, den ich dieses Jahr zum ersten Male läuten höre, und atme nicht tiefer da, wo das Moschuskraut alles in schwülen Geruch hüllt, und auch da nicht, wo die Schlüsselblumen in der Sonne Pfirsichdüfte ausatmen; meinen Täuber will ich haben, den da vor mir mit dem gedoppelten Schlußreime.

Er ruft nicht mehr. Die Finken schlagen, die Drosseln pfeifen, die Meisen klingeln und die Spechte trommelt, doch der eine tiefe schwere volle Laut fehlt. Hoch über dem schimmernden, flimmernden Kronen schwebt mein Vogel, klatscht mit den Schwingen, daß es laut knallt, tanzt auf und ab und senkt sich dahin, wo die schwarzen Fichten starren. Eine brummige Wolke schiebt die frohe Sonne beiseite, ein herber Wind pfeift den Wald an, daß er vor Angst schweigt, ein Regenschauer rasselt durch Knospen und junge Blätter in die Blumen hinein.

Ich stehe da und warte, daß der Vogel mit der abendrotfarbenen Brust und dem silbernen Halbmonde um den Hals wieder rufe. Aber er bleibt still, und nur von irgendwoher krächzt eine schwarze Erinnerung mich an, ein Gedenken an den Tag, da ich es mir gelobte, keinen Täuber mehr zu schießen im hellen Frühlingswalde. Denn sein Ruf brachte Hand zu Hand, Auge in Auge und Mund an Mund. »O du, du, du, du!« rief er seiner Täubin zu, und wir beide befolgten seinen Ruf.

Die Wolke ist vorüber; die Sonne scheint, und der Wald besinnt sich wieder auf seine Lieder; der Regen läßt nach, und die Erinnerung krächzt nicht mehr. Ich gehe weiter durch die himmelblauen Leberblumen über das goldene Milzkraut und in die schneeweißen Osterblumen, denn den Täuber will ich haben, meinen Täuber da, der von neuem an zu rufen beginnt: »O du, du, du, du!«

Ich hatte gelobt, ich wollte keinen mehr herunterholen im angrünenden Walde. Aber da der eine mich belogen hat, bin ich meines Gelübdes ledig. Ich warte, bis er wieder ruft, schleiche mich von Baum zu Baum, harre, wenn er verschweigt, pirsche voran, meldet er abermals, stehe endlich unter der alten Samenbuche, um deren Zweige die jungen Blätter wie lauter grüne Schmetterlinge aus dem Lande Nirgendswo spielen, suche ihn und finde ihn, richte den Lauf empor, drücke, höre ihn in die bunten Blumen schlagen und sehe ein weißes Federgestöber hinter ihm herunterschweben.

Ein doppelter Aufschrei aus Kindermund folgt dem Schuß. Zwei flachsköpfige Mädchen, Waldmeisterbündel in den braunen Händen, stehen auf der Blöße und blicken mich erschrocken an. Ich schenke ihnen den Vogel. »Sagt eurer Mutter, den soll sie braten.« Und dann nehme ich ihnen die Sträuße ab und gebe ihnen viel mehr Geld dafür, als sie sonst bekommen. Aber sie danken mir kaum, und ihre himmelblauen Augen sehen mich vorwurfsvoll an.

Und während ich weitergehe, um zu sehen, wo ein guter Bock gefegt hat, daß ich ihn mir für späterhin merke, denke ich an mein Gelübde und daß ich es vergaß, weil mich einst im Frühlingswald eines Täubers Ruf betrog.


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