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Ich empfing natürlich zuerst nur einen allgemeinen Eindruck von Ost-London. Später erfaßte ich die Einzelheiten; und hier und da fand ich in diesem Chaos von Elend auch Stellen, wo bis zu einem gewissen Grade das Glück herrschte – ganze Häuserreihen, in denen Handwerker wohnten, die ein gemütliches Familienleben führten. Abends kann man Männer in den Türen sitzen sehen, die Pfeife im Munde und Kinder auf den Knien, die Frauen schwatzend, und Scherz und Lachen gehen um. Die Zufriedenheit dieser Menschen ist geradezu auffallend; im Vergleich mit dem Elend, das sie umgibt, sind sie ja wohlhabend.
Aber dennoch ist ihr Glück rein tierischer Art, die Zufriedenheit des vollen Magens. Ihre ganze Auffassung vom Leben ist materialistisch. Sie sind schwer, träge und phantasielos. Der Abgrund scheint giftige, betäubende Gase zu entwickeln, die zum Rande aufsteigen und die droben einhüllen und töten. Religion ist ihnen unbekannt; das Unbekannte enthält weder Schrecken noch Freude für sie. Der gefüllte Wanst, die Abendpfeife sowie der übliche »Halb-und-Halb« – das ist alles, was sie vom Dasein verlangen oder träumen.
Das wäre jedoch noch nicht das Schlimmste, aber die zufriedene Schlaffheit, in die sie verfallen, ist der Zustand, der der völligen Auflösung vorangeht. Sie kennen keinen Fortschritt, der Stillstand ist dasselbe für sie wie der Sturz in den Abgrund. Vielleicht beginnen sie nur den Fall und überlassen es ihren Kindern und Enkeln, ihn zu vollenden. Die Menschen erreichen immer weit weniger, als sie fordern, und so wenig fordern diese Menschen, daß das wenige, das sie erlangen, nicht genügt, sie oben zu halten.
Im allgemeinen ist das Leben in der Stadt der menschlichen Natur zuwider, das Leben in London aber ist in dem Maße unnatürlich, daß der Durchschnittsarbeiter zugrunde gehen muß. Körper und Geist werden unaufhörlich untergraben. Sowohl körperliche wie moralische Widerstandskraft werden gebrochen, und der gute Arbeiter vom Lande wird schon in der ersten Generation in der Stadt zum schlechten Arbeiter; in der zweiten Generation hat er Unternehmungslust und Draufgängertum verloren und ist tatsächlich außerstande, dieselbe Arbeit auszuführen, die sein Vater leisten konnte – er ist auf dem Wege zum Abgrund.
Schwächt nichts anderes ihn, so bricht die Luft, die er einatmet, bald seine Widerstandskraft, so daß er nicht mehr imstande ist, die Konkurrenz mit dem frischen, lebenskräftigen Strom aufzunehmen, der ständig vom Lande nach London hastet, um zu vernichten und vernichtet zu werden.
Ohne bei den Krankheitskeimen zu verweilen, mit denen die Luft in East End geschwängert ist, will ich mich hier nur mit dem Rauche beschäftigen. Sir William Thiselton-Dyer, der Direktor des Botanischen Gartens in Kew, hat den Einfluß des Rauches auf die Pflanzen untersucht und nachgewiesen, daß nicht weniger als vierundzwanzig Tonnen festen, aus Ruß und teerhaltiger Kohlenlösung bestehenden Stoffes sich allwöchentlich auf jeder englischen Quadratmeile in und um London niederschlagen. Kürzlich entfernte man vom Gesims unter der Kuppel der St.-Pauls-Kathedrale ein festes Stück kristallisierten schwefelsauren Kalks, der sich durch die Wirkung der atmosphärischen Schwefelsäure auf den kohlensauren Kalkstein gebildet hatte. Und all diese atmosphärische Schwefelsäure muß der Londoner Arbeiter tagein und tagaus sein ganzes Leben lang einatmen.
Es ist unwiderlegbar, daß die Kinder im Heranwachsen zermürbt werden. Ohne Kraft und Ausdauer werden sie zu einem knieweichen, engbrüstigen, schlaffen Geschlecht, das einschrumpft und zugrunde geht in dem rohen Kampf ums Dasein mit den vom Lande herzuströmenden Horden. Eisenbahner, Fuhrleute, Omnibusführer, Getreide- und Holzträger und alle, die auf Körperkraft angewiesen sind, sind stark vom Lande gekommen; in der Polizei der Hauptstadt sind rund 12 000 Männer vom Lande gegen 3000 in London geborene.
Wenn ich die kleinen Seitengassen mit den satten Handwerkern in den Türen durchschritt, taten sie mir fast mehr leid als die vierhundertfünfzigtausend Verlorenen, die unten im Abgrund sterben. Die sterben doch, während diese hier noch die langsame vorausgehende Qual vor sich haben, die Qual, die vielleicht zwei, drei Generationen dauern kann. Und doch ist das Material gut. Es besitzt alle menschlichen Möglichkeiten. Unter den richtigen Bedingungen könnte es noch Jahrhunderte lang leben und große Männer, Helden und Meister hervorbringen, die die Welt vorwärts führen.
Ich sprach mit einer Frau, einer ausgezeichneten Repräsentantin derer, die schon aus den kleinen hübschen Seitengassen verdrängt und auf dem Wege zum Abgrund sind. Ihr Mann arbeitete als Gasmonteur und war Mitglied der Maschinistengewerkschaft; daß als Maschinist nicht viel mit ihm los war, konnte man schon daraus ersehen, daß er keine ordentliche Arbeit erhalten konnte; er besaß weder genügend Energie noch Tüchtigkeit, um sich eine feste Stellung zu schaffen oder zu halten. Das Ehepaar hatte zwei Töchter, und alle vier Familienmitglieder wohnten in ein paar Löchern, die man nur optimistisch Zimmer nennen kann, und für die sie sieben Schilling die Woche bezahlten. Sie hatten keinen Herd und mußten sich ihr ganzes Essen auf einem kleinen Gaskocher bereiten. Da sie nichts besaßen, genossen sie nicht den üblichen Kredit für ihren Gasverbrauch, sondern mußten einen Automaten haben, der ihnen ein gewisses Quantum lieferte, so oft sie ein Pennystück hineinsteckten. »Für einen Penny Gas ist im Augenblick verbraucht,« erklärte sie mir, »manchmal habe ich das Essen noch nicht halb fertig gekocht.«
Seit vielen Jahren lebten sie an der Grenze der Not. Tag für Tag waren sie halb satt von Tisch aufgestanden. Ist man erst auf dem Wege abwärts, dann zehrt schon chronische Unterernährung an den Kräften und beschleunigt die Katastrophe.
Und dabei rackerte diese Frau sich ab. Von halb fünf morgens bis in die Nacht hinein nähte sie Tuchröcke mit Ansätzen und zwei Volants für sieben Schilling das Dutzend. Tuchröcke mit Ansätzen und zwei Volants – bedenkt wohl – für sieben Schilling das Dutzend!
Der Mann mußte, um überhaupt Arbeit nehmen zu können, der Gewerkschaft angehören, und die verschlang einen Schilling sechs Pence wöchentlich. Wenn Streik war und er zu den Glücklichen gehörte, die nicht davon berührt wurden, hatte er zeitweise bis zu siebzehn Schilling an die Streikkasse der Gewerkschaft abführen müssen.
Die älteste Tochter hatte für einen Schilling sechs Pence die Woche als Lehrmädchen in einer Nähstube gearbeitet. Als die stille Zeit kam, wurde sie entlassen, obwohl ihr Lohn so niedrig angesetzt war, weil sie etwas Ordentliches lernen und hinterher fest angestellt werden sollte. Dann war sie drei Jahre bei einem Fahrradhändler gewesen, der ihr fünf Schilling die Woche gab; sie hatte einen Weg von zwei Meilen bis zu ihrer Arbeitsstelle, und wenn sie zu spät kam, wurde es ihr vom Lohn abgezogen.
Für die Eltern war das Spiel aus, sie hatten den Boden unter den Füßen verloren und rollten dem Abgrund zu. Aber die Töchter? Welche Möglichkeit hatten sie, dem Abgrund zu entgehen, der ihnen seit ihrer Geburt entgegenklaffte – unter solchen Verhältnissen, von Unterernährung geschwächt, ausgesogen, sowohl geistig wie moralisch und körperlich?
Während ich dieses niederschreibe, hallt die Luft bald seit einer halben Stunde wider von einer rücksichtslosen, rohen Schlägerei in einem Hofe, der an den meinen stößt. Als ich es zuerst bemerkte, dachte ich, es wären ein paar Hunde, die sich anbellten und knurrten; es dauerte eine Weile, bis ich mir klar darüber wurde, daß Menschen, sogar Frauen, dieses unheimliche Geräusch hervorbringen konnten. Betrunkene Frauen im Kampf! Häßlich zu denken, noch schlimmer anzuhören. Es kann etwa folgendermaßen vor sich gehen:
Zuerst ein unbestimmbares Durcheinander, bei dem man nur unterscheidet, daß eine Menge Frauen gleichzeitig aus voller Kraft ihrer Lungen durcheinander rufen; dann eine Pause, in der ein Kind weint und man ein junges Mädchen hört, das mit tränenerstickter Stimme zu Worte zu kommen sucht. Eine Frauenstimme erhebt sich plötzlich, hart und durchdringend: »Du hast mich geschlagen! Du hast mich geschlagen!« Man hört einen Schlag, der wütende Kampf nimmt seinen Fortgang.
Die Hoffenster der umliegenden Häuser sind von begeisterten Zuschauern besetzt. Das Geräusch von Schlägen, von Flüchen, die einen schauern machen können, dringt zu mir. Ich bin froh, daß ich die Kämpfenden nicht sehen kann.
Wieder eine Pause. »Du läßt das Kind in Ruhe!« Das Kind, das nur ein paar Jahre ist, schreit vor Angst. »Warte nur! Warte nur!« wird ein dutzendmal in schriller Stimme wiederholt. »Ich schmeiß dir diesen Stein an den Kopf!« Und nach dem Schrei zu urteilen, der jetzt ertönt, hat der Stein offenbar den Kopf getroffen.
Für einen Augenblick tritt Ruhe ein; eine der Kämpfenden ist offenbar kampfunfähig gemacht. Wieder kann man das weinende Kind hören, wenn auch sein Schreien vor Angst oder Erschöpfung schwächer geworden ist. Kurz darauf erheben die Stimmen sich wieder:
»Na –?«
»Na!«
»Na –?«
»Na!«
»Na –?«
»Na!«
Dann scheinen sich beide über die gegenseitige Ansicht klar geworden zu sein, und der Kampf beginnt von neuem. Die eine der Kämpfenden erlangt die Übermacht und verfolgt offenbar ihren Sieg, nach dem Mordgeschrei der andern zu urteilen. Der Schrei ertönt immer schwächer, als würde er von einem würgenden Griff zurückgedrängt.
Neue Stimmen; ein neuer Angriff von der Seite; der würgende Griff erschlafft wohl, so daß der Ruf »Mord!« wieder eine Oktave höher erklingt – wahnsinnige allgemeine Verwirrung, alle beteiligen sich am Kampfe.
In der nächsten Pause hört man eine neue Stimme, die eines jungen Mädchens: »Ich will meiner Mutter helfen«; und dann, vier- oder fünfmal hintereinander: »Ich tue, was ich will, verstehst du!« »Das möchte ich sehen!« Wieder rast der Kampf, an dem Mütter und Töchter und alle Umstehenden sich beteiligen. Meine Wirtin ruft ihre jüngste Tochter von der Hintertreppe herein, und ich denke darüber nach, welche Wirkung alles das wohl auf die moralische Auffassung des jungen Mädchens haben kann.