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Die Kinder

Einen hübschen Anblick gibt es in East End, aber auch nur einen einzigen, und das ist der Tanz der Kinder, wenn der Leierkastenmann durch die Straße kommt. Es ist bezaubernd, die Kleinen, die kommende Generation zu sehen, wie sie sich im Tanz bewegen, mit den süßesten kleinen mimischen Bewegungen und graziösen Einfällen, während ihre Muskeln schnell und sicher arbeiten und ihr federleichtes Hüpfen auf eine Weise rhythmisch verschmilzt, die sie nicht in einer Tanzschule gelernt haben können.

Ich habe hier und in vielen andern Orten mit den Kindern gesprochen, und es fiel mir auf, daß sie froh wie andere Kinder und in mancher Beziehung fast noch lebhafter waren. Sie haben eine sehr rege Einbildungskraft, und ihre Fähigkeit, sich in das Reich der Phantasie zu begeben, ist ganz merkwürdig. Die Freude eines ganzen Lebens rauscht in ihrem Blut. Sie lieben Musik, Bewegung und Farbe, und oft offenbart sich unter ihrem Schmutz und ihren Lumpen eine erstaunliche Schönheit des Gesichts und der Gestalt.

Aber irgendwo in London muß ein Zauberer wohnen, der alle Kinder stiehlt. Sie verschwinden. Man sieht sie nie wieder, man sieht nie jemand, der ihnen gleicht. Vergebens wird man in der erwachsenen Generation nach ihnen suchen; unter den Erwachsenen wird man nur verkrüppelte Formen, häßliche Gesichter und schlaffe, dumme Wesen finden. Grazie, Schönheit, Phantasie, alle Reste geistiger und körperlicher Geschmeidigkeit sind verschwunden. Zuweilen sieht man aber doch, daß eine Frau, nicht gerade alt, aber gebeugt und ohne einen Rest von früherer Schönheit, aufgedunsen und vertrunken, ihre schmutzigen Röcke hebt und ein paar lächerliche, plumpe Tanzschritte auf dem Bürgersteig macht. Das kann darauf deuten, daß sie einmal eine dieser Kleinen gewesen ist, die zur Musik des Leierkastenmannes tanzten; diese lächerlichen, plumpen Tanzschritte sind alles, was von den Versprechungen übriggeblieben ist, die sie in ihrer Kindheit machte. In den benebelten Winkeln ihres Hirns ist eine dunkle Erinnerung daran erwacht, daß sie einst ein Kind war. Die Menge drängt sich zusammen. Kleine Mädchen umtanzen sie mit all der Grazie, deren sie sich schwach erinnert, und die sie mit ihrem Körper nur parodieren kann. Dann stöhnt sie, schnappt nach Luft, sie ist ganz erschöpft und wankt aus dem Kreis hinaus ... die kleinen Mädchen tanzen weiter.

Die Kinder des Ghettos besitzen alle Eigenschaften, die zu edler Menschlichkeit und Weiblichkeit entwickelt werden können. Aber das Ghetto selbst kehrt sich gegen sie, überfällt wie eine rasende Tigerin die eigenen Jungen und vernichtet all diese Keime, verlöscht alles, was hell war, und läßt das Lachen verstummen; und die es nicht tötet, formt es um zu häßlichen, verlorenen Geschöpfen, die entwürdigter und elender sind als die Tiere des Feldes.

Ich habe in den vorangehenden Kapiteln ausführlich beschrieben, wie die Veränderung vor sich geht, jetzt wollen wir Professor Huxley das Wort überlassen:

»Wer Kenntnis von der Lage der Bevölkerung in allen großen Industriezentren, hier oder in andern Ländern hat, wird bemerkt haben, daß bei einem großen und ständig wachsenden Teil der Bevölkerung in ausgeprägtem Maße der Zustand herrscht, den die Franzosen la misère nennen. Es ist dies der Zustand, in dem es unmöglich ist, sich die Nahrung, die Wärme und die Kleider zu verschaffen, die notwendig sind, wenn die Körperfunktionen aufrechterhalten werden sollen – der Zustand, in dem Männer, Frauen und Kinder gezwungen werden, sich in Höhlen zusammenzupferchen, wo kein Anstand gedeihen kann, und wo es unmöglich ist, auch nur die geringste Rücksicht auf die Gesundheit zu nehmen – der Zustand, in dem die einzigen Genüsse, die man hat, Vertiertheit und Trunkenheit sind – in dem die Leiden die Menschen zusammenführen, da Unglück und Not, vernachlässigte Entwicklung und moralische Erniedrigung gemeinsame Interessen schaffen – der Zustand, in dem selbst der eifrigste, ehrlichste Fleiß nur Aussicht auf ein Leben voll von hoffnungslosem Kampf mit dem Hunger schafft, das mit einem Begräbnis im Armengrab endet.«

Unter solchen Verhältnissen sind die Aussichten der Kinder hoffnungslos. Sie sterben wie die Fliegen, und die, welche lebensfähig sind, leben nur, weil sie eine alles besiegende Lebenskraft und eine besondere Fähigkeit besitzen, sich in der sie umgebenden Erniedrigung zurechtzufinden. Sie kennen keine Pflege. In den Höhlen, in denen sie wohnen, sind sie allem ausgesetzt, was häßlich und unzüchtig ist. Und wie ihr Geist vergiftet wird, so auch ihr Körper mangels hinreichender Pflege und infolge von Übervölkerung und Unterernährung.

Wenn ein Vater und eine Mutter mit drei oder vier Kindern in einem einzigen Zimmer hausen, und die Kleinen abwechselnd wachen und die Ratten von den Schlafenden verjagen müssen – wenn diese Kleinen nie genügend zu essen bekommen, sondern selbst Nahrung für Scharen von Ungeziefer abgeben, kann man sich leicht vorstellen, was für Männer und Frauen sich aus diesen Kindern entwickeln.

Ein Mann und eine Frau heiraten und lassen sich in einem einzigen Zimmer nieder. Ihre Einnahmen vermehren sich nicht mit den Jahren, hingegen die Zahl ihrer Kinder, und der Mann kann sich ganz besonders glücklich schätzen, wenn er sich seine Gesundheit und seine Arbeit bewahrt. Ein Kind nach dem andern wird geboren, was bedeutet, daß mehr Platz geschaffen werden müßte; aber die kleinen Münder bedeuten ja vermehrte Ausgaben und machen es der Familie ganz unmöglich, etwas für eine geräumigere Wohnung zu opfern. Es kommen noch mehr Kinder, und bald kann man sich in der Stube nicht mehr umdrehen. Die Größeren müssen auf der Straße spielen, und wenn sie zwölf bis vierzehn Jahre alt sind, wird die Raumfrage auf die einfache Art gelöst, daß sie ein für allemal das Heim verlassen; von jetzt an sind Straßen und Gassen ihr Heim.

Ein Knabe kann, wenn alles andere fehlschlägt, eines der öffentlichen Asyle aufsuchen, wo er sein Leben auf verschiedene Art und Weise enden kann. Ein Mädchen aber, das unter solchen Verhältnissen schon im Alter von vierzehn bis fünfzehn Jahren gezwungen ist, das Zimmer zu verlassen, das es sein Heim nennt, und das höchstens imstande ist, lumpige fünf oder sechs Schilling die Woche zu verdienen, hat nur die Möglichkeit, auf eine einzige Art zu enden: wie die Frau, deren Körper die Polizei heute morgen in einer Haustür in der Dorset-Straße in Whitechapel fand. Sie hatte kein Heim, keine Unterkunft; krank und einsam in ihrer letzten Stunde, war sie im Laufe der Nacht verschieden, da sie ihre Leiden nicht mehr ertragen konnte. Sie war zweiundsechzig Jahre alt und hatte vom Verkauf von Streichhölzern auf der Straße gelebt. Sie starb, wie die wilden Tiere sich zum Sterben legen.

Das Bild eines Knaben auf der Anklagebank in einer Polizeistation von East End ist mir noch in frischer Erinnerung.

Er reichte mit dem Kopf kaum über die Schranke. Er war schuldig erklärt worden, einer Frau zwei Schilling gestohlen zu haben. Das Geld hatte er nicht für Bonbons und Kuchen verbraucht, sondern um sich Essen dafür zu kaufen.

»Warum hast du die Frau nicht gebeten, dir etwas zu essen zu geben?« fragte die Obrigkeitsperson sehr beleidigt. »Sie würde dir sicher etwas gegeben haben.«

»Wenn ich sie um etwas gebeten hätte, hätte die Polizei mich wegen Bettelei verhaftet«, antwortete der Junge.

Die Obrigkeit runzelte die Brauen und steckte den Vorwurf ein.

Niemand kannte den Knaben oder ahnte, wer seine Eltern waren. Er war ohne Anfang und ohne Ursprung, ein rastloses Geschöpf ohne Zuflucht, ein junges, verirrtes Tier, das sich seine Nahrung in der Dschungel des Reiches suchte und die Schwächeren überfiel, wie die Stärkeren es überfielen.

Die Menschen, die Hilfe zu bringen versuchen, die hin und wieder Kinder des Ghettos auflesen und sie auf ganze Tage aufs Land schicken, glauben, daß die allermeisten Kinder im Alter von zehn Jahren mindestens einmal auf dem Lande gewesen sind. Über diese Ausflüge habe ich folgenden Bericht gelesen:

»Die geistige Veränderung, die ein solcher Tag bewirkt, ist nicht zu unterschätzen. Unter allen Umständen lernen die Kinder, was Felder und Wälder für Begriffe sind, so daß die Beschreibungen von Landschaften in den Büchern, die sie lesen, und die bisher nicht den geringsten Eindruck auf sie gemacht haben, ihnen jetzt deutliche Vorstellungen geben können.«

Ein einziger Tag in Wald und Feld – wenn sie das Glück haben, von den Menschen, die Hilfe zu bringen versuchen, ausgewählt zu werden! Aber ich sage, daß sie schneller geboren werden, als sie zusammengelesen und in die Wälder und Felder gefahren werden können, um den einen Tag ihres Lebens dort zu verbringen. Ein Tag! Ein einziger Tag in ihrem ganzen Leben! Und den Rest ihres Lebens – da geht es ihnen wohl, wie ein Knabe zu einem gewissen Bischof sagte: »Mit zehn Jahren brennen wir durch, mit dreizehn mausen wir, und mit sechzehn liegen wir im Krieg mit der Polizei.« Mit andern Worten: Mit zehn Jahren sind sie Tagediebe, mit dreizehn Diebe und mit sechzehn sind sie Schwerverbrecher, jederzeit bereit, einen Schutzmann niederzumachen.

Rev. J. Cartmel Robinson erzählt von einem Knaben und einem Mädchen seiner eigenen Gemeinde, die sich eines Tages auf den Weg machten, um den Wald zu finden. Sie gingen und gingen durch die endlosen Straßen, immer in der Hoffnung, den Wald auftauchen zu sehen, bis sie sich zuletzt erschöpft und unglücklich auf das Pflaster setzen mußten und von einer freundlichen Frau gefunden wurden, die sie dorthin zurückbrachte, wo sie herkamen. Sie sind doch sicher von den Menschen übersehen worden, die auf die erwähnte Art und Weise Hilfe zu bringen versuchen.

Er erzählt auch von einem Mitglied der Gemeinde, das an ein Ehepaar einen Kellerraum vermietete. »Als sie mieteten, sagten sie, sie hätten zwei Kinder, als sie aber einzogen, zeigte es sich, daß sie vier hatten. Kurze Zeit darauf wurde die Familie durch ein fünftes Mitglied vermehrt, und der Wirt kündigte ihnen. Darum kümmerten sie sich nicht, aber eines Tages kam der Gesundheitsinspektor, der so oft durch die Finger sehen muß, und drohte meinem Freund mit gerichtlicher Verfolgung. Er blieb dabei, daß es ihm unmöglich sei, die Familie zum Ausziehen zu bewegen, und die Familie erklärte, daß man sie für die Miete, die sie bezahlen konnte, mit ihren vielen Kindern nirgends aufnehmen würde, die übliche Klage, die man von den Armen hört. Was war hier zu tun? Der Wirt befand sich in einer argen Klemme. Zuletzt wandte er sich an die Polizeibehörde, die einen Mann schickte, um ein Protokoll aufzunehmen. Seitdem sind an drei Wochen vergangen, und noch ist nichts geschehen. Ist dies ein Ausnahmefall? Leider nicht; es ist etwas ganz Alltägliches.«

Vorige Woche unternahm die Polizei eine Razzia in einem berüchtigten Hause. In einem Zimmer des Hauses fand man zwei Kinder; sie wurden von der Polizei mitgenommen und saßen jetzt auf der Anklagebank, weil sie sich, ebenso wie die Frauen, die man verhaftet hatte, unerlaubterweise in dem Hause aufgehalten hatten. Der Vater der Kinder war vorgeladen und erklärte, daß er selbst, seine Frau und zwei ältere Kinder außer den beiden, die die Polizei mitgenommen hatte, das betreffende Zimmer bewohnten; er fügte hinzu, daß er dort nur wohnte, weil er für die zwei Schilling sechs Pence, die er wöchentlich bezahlen konnte, kein anderes Zimmer bekommen könnte.

Die Polizei ließ die kleinen Gesetzesübertreter los und erteilte dem Vater eine Warnung, in der ausgesprochen wurde, daß er die Kinder in unverantwortlicher Weise erzöge.

Es hat keinen Zweck, weitere Beispiele zu nennen. In London findet ein Blutbad unter den unschuldigen Kindern statt, desgleichen die Weltgeschichte nicht kennt.

Und ebenso überwältigend unbegreiflich ist die Gewissenlosigkeit vieler Menschen in dieser Beziehung, die an Jesus glauben, sich zu Gott bekennen und regelmäßig jeden Sonntag in die Kirche gehen. Die ganze Woche hindurch belustigen sie sich für die Miete und den Verdienst, den sie aus East End ziehen, und der von dem Blut der unschuldigen Kinder besudelt ist. So merkwürdig ist ihr Gedankengang, daß sie zu andern Zeiten wieder halbe Millionen von diesem Mietertrag und Verdienst nehmen und fortschicken, um kleine schwarze Knaben im Sudan erziehen zu lassen.


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