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Der Kutscher und der Zimmermann

Den Kutscher mit dem regelmäßigen Gesicht, dem Backenhart und der glattrasierten Oberlippe hätte ich in Amerika für alles mögliche halten können, vom Arbeiter bis zum gutsituierten Landmann. Der Zimmermann – ja, in ihm würde ich gleich den Zimmermann erkannt haben. Das konnte man an seiner mageren, muskulösen Gestalt, seinem scharfen, schnellen Blick und seinen Händen sehen, die das Werkzeug in siebenundvierzigjähriger Mühsal und Plackerei gekrümmt hatte. Das Unglück dieser beiden Männer war, daß sie alt geworden und daß ihre Kinder, die ihnen hätten helfen können, gestorben waren. Die Jahre hatten sie gezeichnet, und jüngere und stärkere Menschen hatten sie vom Arbeitsmarkt verdrängt.

Diese beiden, die sich unter denen befanden, die vom Asyl in Whitechapel abgewiesen waren, gingen jetzt mit mir zusammen auf dem Wege nach Poplar. Sie rechneten kaum noch auf diese Chance, aber es war die einzige; entweder Poplar oder noch eine Nacht auf der Straße. Die Frage, ob sie ein Bett erhalten würden, beschäftigte die beiden sehr, denn sie waren »bald fertig«, wie sie sagten. Der Kutscher, der achtundfünfzig Jahre alt war, hatte seit drei Nächten weder Obdach noch Schlaf gehabt, während der fünfundsechzigjährige Zimmermann fünf Nächte hindurch auf der Straße zugebracht hatte.

Oh – ihr lieben, guten Menschen mit reichlichem Fleisch und Blut, mit weichen Betten, die allabendlich in luftigen Zimmern auf euch warten – wie soll ich euch begreiflich machen, was ihr leiden würdet, solltet ihr auch nur eine einzige lange Nacht auf den Straßen Londons zubringen? Ihr würdet meinen, daß Tausende von Jahrhunderten vergingen, ehe der Morgen im Osten zu dämmern begänne; ihr würdet vor Schmerz in jeder Muskel laut weinen, ihr würdet erstaunt sein, daß ein Mensch so leiden und doch leben kann. Und wenn ihr euch auf eine Bank setztet und eure Augen vor Müdigkeit zufielen, verlaßt euch darauf, daß augenblicklich ein Schutzmann käme und euch wach rüttelte und brutal aufforderte, weiterzugehen. Man darf sich auf Bänken ausruhen, aber wenn Ruhe dasselbe wie Schlaf ist, muß man weitergehen, seinen müden Leib durch die endlosen Straßen schleppen. Wollte man in seiner Verzweiflung einsame Gassen oder dunkle Passagen suchen und sich niederwerfen, so würde sich der allgegenwärtige Schutzmann wieder zeigen. Es ist seine Arbeit, Obdachlose aufzustöbern. Wenn aber der Tag graute, und der böse Traum zu Ende wäre, so würdet ihr euch heimschleppen, um wieder zu Kräften zu kommen, und bis zu eurem Todestage würdet ihr Scharen bewundernder Freunde von diesem Erlebnis erzählen. Es würde zu einem Ereignis werden. Eure kleine achtstündige Nacht könnte zu einer Odyssee werden, und ihr selbst zu einem reinen Homer.

Wie anders erging es den Obdachlosen, die ich nach dem Asyl in Poplar begleitete. Und in dieser Nacht erging es fünfunddreißigtausend Frauen und Männern in London wie diesen.

Denkt nicht daran, wenn ihr gerade zu Bett gehen wollt; seid ihr so weichherzig, wie ihr sein solltet, ihr würdet vielleicht nicht gut schlafen. Alte Männer von sechzig, siebzig, achtzig Jahren, schlecht ernährt, ohne Saft und Kraft, gehen dem Tag entgegen, ohne Ruhe gehabt zu haben, wanken den Tag hindurch herum, um ein paar Brocken zu finden, bis die kalte Nacht sie wieder umfängt – und das fünf Tage und Nächte nacheinander.

Oh – ihr lieben, guten Menschen mit eurem reichlichen Fleisch und Blut, wie solltet ihr es verstehen können? Zwischen dem Kutscher und dem Zimmermann ging ich die Mile-End-Straße hinab. Die Mile-End-Straße ist ein breiter Damm, der das Herz Londons mitten durchschneidet, und hier gingen außer uns mindestens zehntausend Menschen. Ich erwähne das zum Verständnis des Folgenden.

Während wir dahinwanderten, wurden meine Kameraden bitter und verfluchten das Land. Ich fluchte mit ihnen, wie ein amerikanischer Landstreicher es getan hätte, wenn er in ein fremdes und schreckliches Land geraten wäre. Es war mir geglückt, sie glauben zu machen, daß ich Seemann war, und sie dachten, ich hätte mein Geld durchgebracht und meine Kleider verloren, wie es einem Seemann an Land so oft begegnet, und wartete jetzt auf Heuer. Das erklärte auch meine Unkenntnis von englischen Verhältnissen im allgemeinen und von Asylen im besonderen.

Der Kutscher konnte kaum mit uns Schritt halten. Er sagte, es käme daher, daß er den ganzen Tag noch nichts zu essen bekommen hätte. Aber der Zimmermann – mager und hungrig, in einem grauen, zerlumpten Überzieher, der traurig im Winde flatterte – ging mit weiten, rastlosen Schritten, ein Gang, der mich an Wölfe oder Coyoten gemahnte.

Sie hielten beide den Blick auf das Pflaster geheftet, hin und wieder bückte sich einer von ihnen und hob etwas auf. Ich glaubte, es wären Zigarren- oder Zigarettenstummel, die sie auflasen, und dachte zuerst nicht weiter darüber nach. Dann aber merkte ich, was sie vorhatten.

Sie lasen von den schleimigen, bespienen Bürgersteigen kleine Stücke Apfelsinenschalen, Äpfelschalen und Weintraubenschlauben auf, die sie verzehrten. Die Kerne zerbissen sie, um den Inhalt herauszubekommen. Sie fanden Brotkrumen, nicht größer als Erbsen, Apfelkerne, so schmutzig, daß man nicht mehr erkennen konnte, was es war, und alles steckten sie in den Mund, kauten und verschluckten es. Das geschah zwischen sechs und sieben Uhr nachmittags am 20. August im Jahre des Herrn 1902 im Herzen des größten und mächtigsten Reiches, das je in der Welt existiert hat.

Die beiden Männer sprachen miteinander. Sie waren nicht dumm, nur alt. Aber die Därme voller Rinnsteinschmutz, sprachen sie über die rote Revolution. Sie sprachen, wie Anarchisten, Fanatiker und Landstreicher sprechen würden. Und wer kann sie deshalb tadeln? Ich gestehe, daß ich trotz meinen drei guten Mahlzeiten täglich, meinem warmen Bett, zu dem ich heimgehen konnte, wenn ich wollte, meinen sozialen Anschauungen, meinem festen Glauben an Entwicklung und Veränderlichkeit aller Dinge – daß ich trotz alledem die Lust verspürte, rot wie sie zu reden. Die Toren! Es sind gar nicht Leute ihres Schlages, die Revolution machen. Und wenn sie gestorben und zu Staub verwandelt sind, was nicht sehr lange dauert, werden andere Toren von blutiger Revolution reden, während sie Abfall von dem bespienen Bürgersteig auf dem Wege von Mile End nach dem Arbeitshaus auflesen.

Da ich Ausländer und jung war, erteilten Kutscher und Zimmermann mir gute Ratschläge, ihre Worte waren klar und deutlich: ich sollte sehen, so schnell wie möglich aus dem Lande zu kommen.

»Ja, so schnell, wie Gott mir helfen wird.«

»Der Zufall kann einen Mann zum Verbrecher machen«, sagte der Zimmermann. »Sieh mich an, ich bin alt, Jüngere stehlen mir die Arbeit, meine Kleider werden immer schlechter, und das macht, daß ich schwer etwas zu tun kriege. Ich gehe ins Asyl, um ein Bett zu bekommen. Wenn ich nicht um zwei, drei Uhr nachmittags da bin, werde ich nicht hineingelassen. Du hast selbst gesehen, wie es geht. Aber wie soll ich mir Arbeit suchen? Wenn ich wirklich ins Asyl hineingelange, so behalten sie mich morgen den ganzen Tag. Ich komme erst übermorgen heraus. Was dann? Dann sagt das Reglement, daß ich in keinem Asyl im Umkreis von zehn Meilen aufgenommen werde, und ich muß mich beeilen, um rechtzeitig anderswohin zu kommen. Wann soll ich da auf die Arbeitssuche gehen? Und wenn ich jetzt nicht ins Asyl gehe, sondern versuche, etwas zu tun zu kriegen, so wird es Abend, ehe ich es weiß, und dann stehe ich da – ohne zu wissen, wo ich schlafen soll. Kein Schlaf und nichts zu essen, da soll es dann am nächsten Morgen gut gehen. Ich kann in einem Park schlafen. Gewiß. (Ich mußte an die Christuskirche beim Spitalfield-Park denken, als er das sagte.) So steht es. Ich bin alt und habe keine Aussicht, je wieder in die Höhe zu kommen.«

»Hier ist früher ein Schlagbaum gewesen«, sagte der Kutscher. »In alten Zeiten, als ich noch fuhr, habe ich hier oft Chausseegeld zahlen müssen.«

Nach einer längeren Pause sagte der Zimmermann: »Ich habe seit zwei Tagen nichts zu essen gehabt als drei Brötchen. Zwei davon aß ich gestern, das dritte heute.«

»Ich habe heute gar nichts gekriegt«, sagte der Kutscher. »Ich bin ganz elend. Meine Beine tun so weh.«

»Das Brot, das man in der Penne kriegt, ist so hart, daß man es nicht herunterkriegt, wenn man nicht einen halben Liter Wasser dazu trinkt«, sagte der Zimmermann, um mich zu warnen. Und als ich ihn fragte, was »Penne« sei, antwortete er:

»Die Penne, das ist so ein Wort, das der Pöbel gebraucht.«

Was mich am meisten erstaunte, war, daß es ein Wort wie Pöbel in seinem Wortschatz gab. Ehe wir uns trennten, hatte ich erkannt, daß seine Sprache durchaus nicht gewöhnlich war.

Ich fragte sie nach der Behandlung, die meiner wartete, wenn es mir glückte, ins Asyl in Poplar eingelassen zu werden, und ich erhielt viele interessante Auskünfte. Zuerst würde ich ein kaltes Bad erhalten, und zum Abendbrot würde ich sechs Unzen Brot und drei Teile Grütze kriegen, drei Teile sind drei Viertel eines Halblitermaßes, und die Grütze besteht aus drei Maß Hafermehl in dreieinhalb Eimern warmen Wassers verrührt.

»Und dazu Milch und Zucker und einen silbernen Löffel«, sagte ich.

»Nee, da brauchst du nicht bange zu sein. Du kannst Salz kriegen. Ich hab' schon erlebt, daß man gar keinen Löffel kriegte, man mußte den Teller hoch halten und sich die Grütze in den Mund laufen lassen. So macht man's da.«

»In Hockney bekommt man doch eine gute Grütze«, sagte der Kutscher.

»Ja, prachtvoll«, bestätigte der Zimmermann, und dann wechselten sie einen beredten Blick.

»In St. Georg ist es nur Mehl und Wasser«, sagte der Kutscher.

Der Zimmermann nickte, er war offenbar überall gewesen.

»Und was dann?« fragte ich. Ich erfuhr, daß man dann zu Bett geschickt würde.

»Es ist wohl nicht immer alles da«, berichtete der Kutscher.

»Nee, das stimmt; und das Brot kann so sauer sein, daß man es kaum runterkriegt. Anfangs konnte ich nichts davon essen, jetzt könnte ich gut zwei Portionen bewältigen.«

»Ja, und ich drei«, sagte der Kutscher. »Heut habe ich nicht einen Bissen in den Mund gekriegt.«

»Na, und?«

»Dann mußt du dich an die Arbeit machen; du mußt vier Pfund Werg pflücken oder scheuern und schrubben oder Steine klopfen. Ich brauche keine Steine zu klopfen, weil ich über sechzig bin; aber dir hilft es nichts, du bist jung und kräftig.«

»Das Schlimmste, finde ich, ist, in eine Zelle eingeschlossen zu werden, um Werg zu pflücken. Das schmeckt zu sehr nach Gefängnis«, brummte der Kutscher.

»Wenn man nun aber da übernachtet hat, und sich dann weigert, Werg zu pflücken, Steine zu klopfen und überhaupt etwas zu tun, was dann?« fragte ich.

»Das versuchst du kaum mehr als einmal; du wirst eingesteckt«, antwortete der Zimmermann. »Versuch' bloß das nicht, mein Junge.«

»Dann kommt das Mittagessen«, fuhr er fort. »Acht Unzen Brot und anderthalb Unzen Käse, dazu kaltes Wasser. Dann hast du deine Arbeit fertig zu machen und kriegst wieder Abendbrot, immer dasselbe; dann ins Bett, und am nächsten Morgen um sechs wirst du losgelassen, wenn du mit deiner Arbeit fertig bist.«

Wir waren längst über die Mile-End-Straße hinausgekommen und trotteten durch eine Menge enger, krummer Straßen, bis wir das Asyl von Poplar erreichten. Auf einer niedrigen Steinmauer breiteten wir unsere Taschentücher aus und legten all unser Eigentum hinein, mit Ausnahme des Tabaks, der in den Strumpf glitt, und endlich – endlich, als das Licht von dem graugelben Himmel verschwand und ein kalter Windhauch über die Erde strich – standen wir drei armen Verlorenen mit unseren armseligen kleinen Bündeln in der Hand vor dem Tor des Armenasyls.

Drei junge Arbeiterinnen kamen vorbei, und die eine warf mir einen mitleidigen Blick zu; ich sah ihr nach, und sie blieb stehen und sah mich wieder mitleidig an. Die alten Männer beachtete sie gar nicht. Großer Gott, mich bedauerte sie. Ich war doch jung, lebenskräftig und stark. Mit den beiden Alten, die bei mir waren, hatte sie kein Mitleid.

Sie war ein junges Weib, ich ein junger Mann, und dieser Unterschied, der unwillkürlich ihr Mitleid bewirkte, verringerte gleichzeitig den Wert ihrer Gefühle. Mitleid mit Alten ist ein Gefühl, das alle hegen, und alte Männer im Eingang des Armenhauses sind kein ungewöhnlicher Anblick. Deshalb zeigte sie mir mehr Mitgefühl als den andern, und doch verdiente ich es am wenigsten oder gar nicht. Nicht in Ehren können die Grauköpfe sich in ihrem Grab in der Großstadt zur Ruhe betten.

Auf der einen Seite des Eingangs befand sich ein Glockenzug, auf der andern ein Drückknopf.

»Zieh die Glocke«, sagte der Kutscher.

Und ich zog, wie ich an jedem beliebigen Glockenzug gezogen hätte.

»Oh!« riefen sie ganz erschrocken. »Nicht so heftig!«

Sie sahen mich vorwurfsvoll an, als hätte ich jede Aussicht auf Bett und Grütze vernichtet. Niemand kam und öffnete. Ich hatte also glücklicherweise die falsche Glocke benutzt.

»Drück' auf den Knopf«, sagte der Zimmermann.

»Nein, nein, wart' ein bißchen«, rief der Kutscher.

Und aus alledem wurde mir klar, daß der Torwart eines Armenasyls, der wohl im allgemeinen mit sieben oder neun Pfund jährlich gelohnt wird, eine sehr vornehme und bedeutungsvolle Persönlichkeit ist, die – von den Armen – nicht behutsam genug behandelt werden kann.

Wir warteten – zehnmal so lange, wie es der Anstand erfordert –, bis der Kutscher endlich bescheiden seinen Zeigefinger auf den Knopf setzte und so schwach und kurz wie möglich drückte.

Ich habe Männer warten sehen, wenn es sich um Tod und Leben handelte, aber auf ihren Gesichtern war die Erwartung weniger deutlich geschrieben, als die Spannung auf denen dieser beiden Männer, während wir warteten, ob der Pförtner öffnen würde.

Endlich kam er. Er warf uns nur einen einzigen Blick zu. »Besetzt«, sagte er und schlug die Tür wieder zu.

»Wieder eine Nacht«, stöhnte der Zimmermann. Der Kutscher sah bleich und elend aus.

Wohltätigkeit ohne Ansehen der Person ist ein Fehlgriff, sagen die professionellen Philanthropen. Ich beschloß, einen Fehlgriff zu begehen.

»Komm mit deinem Messer«, sagte ich zum Kutscher und zog ihn in eine dunkle Seitenstraße.

Er starrte mich erschrocken an und leistete Widerstand. Vielleicht hielt er mich für einen neuen Jack-the-Ripper, der alte männliche Armenhäusler zu seiner Spezialität gemacht hatte. Oder er glaubte, ich wollte ihn zum Mitschuldigen irgendeines verzweifelten Verbrechens machen. Jedenfalls fürchtete er sich.

Aber wie man sich vielleicht erinnert, hatte ich, ehe ich aufbrach, ein Goldstück in die Achselhöhle meines Heizerhemdes genäht. Es sollte mein Reservefonds sein, und jetzt hatte ich zum erstenmal Lust, meine Zuflucht dazu zu nehmen.

Erst als ich mich gedreht und gewendet hatte, um zu zeigen, wo die Münze eingenäht war, konnte ich den Kutscher bewegen, mir zu helfen. Aber seine Hand zitterte dermaßen, daß ich fürchtete, er würde mich schneiden, und schließlich selbst das Messer nahm. Das Goldstück – ein Vermögen für ihre hungrigen Blicke – rollte heraus, und dann marschierten wir nach dem nächsten Kaffeehaus. Jetzt mußte ich ihnen natürlich erzählen, daß ich eigentlich eine Art Forscher auf sozialem Gebiet war und das Leben der Armen studieren wollte. Und das hatte zur Folge, daß sie sofort ihrer Offenherzigkeit einen Riegel vorschoben. Ich war nicht mehr einer von den Ihren; meine Rede war anders geworden, mein Tonfall hatte sich verändert – kurz, ich gehörte zur Oberklasse, und dessen waren sie sich bewußt.

»Was wollt ihr haben?« fragte ich, als der Kellner kam.

»Zwei Scheiben Brot und eine Tasse Tee«, sagte der Kutscher bescheiden.

»Zwei Scheiben und eine Tasse Tee«, sagte der Zimmermann ebenso bescheiden.

Wir wollen uns die Situation klarmachen: Hier saß ich mit zwei Männern, die ich in das Kaffeehaus eingeladen hatte. Sie hatten gesehen, daß ich ein Pfund Sterling in Gold besaß, und wußten also, daß ich nicht arm war. Der eine hatte den ganzen Tag nichts als ein Brötchen zu einem halben Penny gegessen, der andere überhaupt nichts. Und jetzt baten sie mich um »zwei Scheiben Brot und eine Tasse Tee«! Was sie verlangten, kostete zwei Pence.

Es war dieselbe Demut, die ihr Auftreten auch dem Armenhauspförtner gegenüber gekennzeichnet hatte. Aber mir gefiel das nicht. Allmählich brachte ich sie dazu, mehr zu bestellen – Eier, Speck, noch mehr Eier, mehr Speck, mehr Tee und mehrere Stück Butterbrot – sie sagten immer, daß sie nicht mehr haben wollten, verschlangen es jedoch gierig, so schnell es gebracht wurde.

»Das ist meine erste Tasse Tee seit vierzehn Tagen«, sagte der Kutscher.

»Eine herrliche Tasse Tee«, sagte der Zimmermann. Sie tranken jeder zwei halbe Liter, und ich gebe euch mein Wort darauf, daß es das reine Spülwasser war. Es hatte weniger Ähnlichkeit mit Tee, als Weißbier mit Champagner. Es war Spülwasser und erinnerte nicht im geringsten an Tee.

Es war interessant, die Wirkung des Essens auf sie zu beobachten. Anfangs waren sie melancholisch und sprachen von den verschiedenen Perioden, in denen sie an Selbstmord gedacht hatten. Der Kutscher hatte vor kaum einer Woche auf einer Brücke gestanden, ins Wasser hinabgesehen und hineinspringen wollen. Das Wasser war nach Ansicht des Zimmermanns nicht das beste Mittel. Er wußte, daß er kämpfen würde, um sich zu retten. Eine Kugel war viel leichter; aber wo in aller Welt sollte er einen Revolver hernehmen? Das war das schwierigste.

Je mehr der Tee sie belebte, desto offenherziger wurden sie, und desto mehr begannen sie von sich zu reden. Der Kutscher hatte Frau und alle Kinder auf den Kirchhof gebracht, mit Ausnahme eines Sohnes, der herangewachsen und ihm zur Hand gegangen war. Da aber geschah das Unglück: der Sohn starb plötzlich im Alter von einunddreißig Jahren an den Pocken. Kurz darauf mußte der Kutscher selbst auf drei Monate ins Krankenhaus; und dann war es aus mit ihm. Als er entlassen wurde, war er schwach und niedergebrochen, sein junger, starker Sohn war tot, sein kleines Geschäft vernichtet, und er besaß nicht einen Penny. Das Unglück war über ihn gekommen, und es gab keine Möglichkeit mehr für einen alten Mann. All seine Freunde waren ebenso arm wie er. Als die Stadt die Krönungsfestlichkeiten vorbereitete, hatte er versucht, ein wenig Arbeit zu bekommen. »Aber ich wurde schließlich ganz krank davon, daß ich immer wieder dieselbe Antwort zu hören bekam: Nein! Nein! Nein!« Das klang ihm nachts in den Ohren, wenn er zu schlafen versuchte. Noch vorige Woche hatte er sich auf eine Annonce in Hockney vorgestellt, als er aber sein Alter angab, hatte man ihm wieder geantwortet, daß er zu alt sei – viel zu alt.

Der Zimmermann war der Sohn eines Soldaten, sein Vater hatte zweiundzwanzig Jahre lang gedient. Auch seine beiden Brüder waren ins Heer eingetreten; der eine starb in Indien als Husarenwachtmeister nach dem Aufruhr; der andere, der neun Jahre lang unter Lord Roberts gedient hatte, war in Ägypten umgekommen. Der Zimmermann hatte nicht die militärische Laufbahn eingeschlagen, und deshalb wankte er noch auf dieser Erde einher.

»Aber kommen Sie, geben Sie mir Ihre Hand«, sagte er und riß sein Hemd auf. »Ich bin reif fürs Anatomische Museum. Ich schwinde hin, werde zu nichts aus Mangel an Nahrung. Fühlen Sie nur meine Rippen.«

Ich steckte die Hand unter sein Hemd und fühlte. Die Haut spannte sich wie Pergament über die Rippen, und das Gefühl, das ich hatte, kann nur mit dem verglichen werden, das man hat, wenn man die Hand über ein Waschbrett gleiten läßt. »Ich habe sieben gesegnete Jahre gehabt,« sagte er, »eine gute Frau und drei reizende Mädelchen. Aber sie sind alle gestorben. Die Mädchen starben alle im Laufe von vierzehn Tagen an Scharlach.«

»Jetzt, glaube ich,« sagte der Kutscher, um das Gespräch auf einen angenehmeren Gegenstand zu bringen, »wäre es mir unmöglich, morgen früh ein Armenhaus-Frühstück zu essen.«

»Nein, das könnte ich auch nicht«, gestand der Zimmermann; und jetzt begannen sie die Essensfrage zu erörtern und erzählten von den leckeren Gerichten, die ihre Frauen ihnen seinerzeit bereitet hatten.

»Ich hatte jetzt drei Tage hintereinander gefastet«, sagte der Kutscher.

»Und ich fünf«, fügte sein Kamerad düster hinzu. »Fünf Tage – ohne etwas anderes in den Leib zu kriegen als ein Stück Apfelsinenschale; das kann eine niedergebrochene Gesundheit nicht vertragen, es wäre fast mein Tod geworden. Manchmal, wenn ich nachts auf der Straße ging, wurde ich so verzweifelt, daß ich zu allem imstande gewesen wäre. Sie verstehen, was ich meine – irgendeinen großen Raub zu begehen. Wenn es aber Morgen wurde, stand ich, schlaff vor Hunger, da, und konnte keiner Katze etwas zuleide tun.«

Als ihre Lebensgeister durch die Zufuhr neuer Nahrung ein wenig erwachten, begannen sie aus sich herauszugehen und sich über Politik zu verbreiten. Ich muß gestehen, daß sie über Politik genau so gut wie ein Durchschnittsmensch der Mittelklasse sprachen, und ich habe verschiedene Angehörige des Mittelstands gehört, die weniger davon verstanden. Was mich in Erstaunen setzte, war, wieviel sie von der Welt in bezug auf Geographie, Völker und Geschichte der neueren Zeit wußten. Wie gesagt, dumm waren sie nicht, die beiden. Sie waren nur alt, und es war ein Jammer, daß ihre Kinder nicht aufgewachsen waren und ihnen ein Plätzchen an ihrem Herde geben konnten.

Noch eine kleine Beobachtung machte ich, als ich mich an der Ecke von ihnen verabschiedete, nachdem ich sie mit ein paar Schilling und der sicheren Aussicht auf ein Bett beglückt hatte. Als ich mir eine Zigarette angesteckt hatte und das brennende Streichholz wegwerfen wollte, streckte der Kutscher die Hand danach aus. Ich wollte ihm ein anderes anzünden, aber er sagte: »Das ist nicht nötig. Man soll nie verschwenden.«

Und während er sich die Zigarette anzündete, die ich ihm gegeben hatte, beeilte sich der Zimmermann, seine Pfeife zu stopfen, um von demselben Streichholz profitieren zu können.

»Ja, es ist falsch, etwas wegzuwerfen«, sagte der Kutscher.

»Ja, gewiß«, sagte der Zimmermann.

»Ja, gewiß«, sagte ich und dachte dabei an die Waschbrettrippen, über die ich meine Hand hatte gleiten lassen.


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