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Ich habe die Erfahrung gemacht, daß es gar nicht leicht ist, Zutritt zu einem Asyl für Obdachlose zu erlangen. Ich habe es jetzt zweimal versucht, und in kurzem werde ich einen dritten Versuch machen. Das erstemal versuchte ich es um sieben Uhr, mit vier Schilling in der Tasche. Damit beging ich zwei Fehler. Erstens muß man, wenn man hinein will, von Subsistenzmitteln entblößt sein, und da man genau visitiert wird, muß man dafür sorgen, daß man wirklich kein Geld hat; vier Pence, geschweige denn vier Schilling, genügen, um disqualifiziert zu werden. Zweitens kam ich zu einer falschen Zeit. Sieben Uhr abends ist zu spät, um sich noch ein Armenhausbett zu verschaffen.
Ich muß zunächst Leuten in besseren Verhältnissen erklären, was ein Asyl für Obdachlose ist. Es ist ein Gebäude, in dem Obdachlose, bettlose, geldlose Menschen, wenn sie Glück haben, ihre müden Glieder ausruhen und am nächsten Tag die Unterkunft abarbeiten können.
Mein zweiter Versuch, in eine solche Herberge einzudringen, schien besser glücken zu wollen. Ich brach schon am Nachmittag mit dem begeisterten jungen Sozialisten und noch einem Freunde auf und hatte nur drei Pence in der Tasche. Sie begleiteten mich nach dem Asyl von Whitechapel, auf das ich von Anfang an meine Blicke gerichtet hatte. Obwohl es erst kurz nach fünf war, stand schon eine lange, traurige Reihe bis um die Ecke des Gebäudes, soweit man sehen konnte.
Sie boten einen traurigen Anblick, all diese Männer und Frauen, die in der kalten, grauen Dämmerung darauf warteten, daß das Armenhaus sie für die Nacht aufnehmen sollte, und ich gestehe, daß mir der Mut zu sinken begann. Mir fielen plötzlich eine Menge Gründe ein, daß ich eigentlich ganz anderswo hätte sein sollen. Mir ging es wie dem Knaben vor der Tür des Zahnarztes. Etwas von meinem innern Kampf muß sich wohl auf meinem Gesicht widergespiegelt haben, denn plötzlich sagte ein Leidensgefährte: »Keine Angst, es wird schon gehen.«
Ich wurde sogleich belehrt, daß sogar drei Pence ein zu großes Vermögen waren, und um jedes Hindernis zu entfernen, trennte ich mich von meinen drei Kupfermünzen. Dann verabschiedete ich mich von meinen Freunden, schlich mich klopfenden Herzens die Straße hinab und stellte mich am Ende der Reihe auf.
Einen traurigen Anblick bot dieses lange Queue armer Menschen, die schon auf der Schwelle des Todes wankten, wie traurig, kann man sich gar nicht vorstellen.
Vor mir stand ein kleiner Mann von schwerem Körperbau: gesund und frisch trotz seinem Alter, mit festen Zügen und einer Haut, die Sonne und Wind wie Leder gegerbt hatten; es stand auf seinen Zügen geschrieben und leuchtete aus seinen Augen, daß er Seemann war. Wie gut ich geraten hatte, sollte ich bald erfahren.
»Ich kann es nicht mehr aushalten«, klagte er seinem Nebenmann. »Es endet noch damit, daß ich ein Fenster zerschlage, eine von den großen Spiegelglasscheiben, dann kriege ich doch wenigstens vierzehn Tage; und dann habe ich doch ein ordentliches Bett und besseres Essen, als man hier kriegt.« Nachdenklich, traurig und resigniert, fügte er hinzu: »Dann nehmen sie mir allerdings den Tabak weg.«
»Jetzt laufe ich seit zwei Nächten auf der Straße herum«, fuhr er fort. »Letzte Nacht wurde ich bis auf die Haut durchnäßt, und man ist ja nicht mehr jung; eines Morgens werden sie wohl meinen Kadaver wegfegen können.«
Plötzlich wandte er sich zu mir um und sagte heftig: »Sorg' dafür, daß du nicht alt wirst, mein Junge. Stirb jung, sonst geht es dir, wie es mir ergangen ist. Jetzt bin ich siebenundachtzig, und ich habe meinem Lande als ein Mann gedient. Ich erhielt drei Schnüre als Dienstauszeichnung und das Viktoria-Kreuz – und dies Leben ist nun der Lohn für alles. Wenn ich nur tot wäre! Ich wünschte, ich krepierte, das könnte keinen Tag zu früh kommen.« Die Tränen begannen ihm in den Augen zu schimmern, aber ehe der andere ihm noch ein paar Trostworte gesagt hatte, begann er schon ein heiteres Seemannslied zu trällern, als ob es keine gebrochenen Herzen in dieser Welt gäbe.
Jetzt war er in Gang gekommen, und da, während wir vor der Tür der Herberge warteten, erzählte dieser Mann, der jetzt zwei Nächte auf der Straße zugebracht hatte, was ich hier berichten werde.
Er war als Knabe in die englische Marine eingetreten und hatte seinem Lande vierzig Jahre lang treu und redlich gedient. Namen, Daten, Chefs, Häfen, Schiffe, Feldzüge und Kämpfe rollten von seinen Lippen, aber ich entsinne mich ihrer nicht, denn es ist schwer, sich vor der Tür des Armenhauses Notizen zu machen. Er hatte den ersten chinesischen Krieg, wie er es nannte, mitgemacht, hatte zehn Jahre lang der ostindischen Kompagnie gedient und war wieder während des großen Aufruhrs als Marinesoldat in Indien gewesen, hatte am Kriege in Birma und am Krimkriege teilgenommen und im übrigen unter der englischen Flagge auf dem ganzen Erdball gekämpft.
Dann geschah es. Anfangs nur eine Bagatelle: Vielleicht hatte dem Leutnant das Frühstück nicht geschmeckt, oder er war am Abend spät zu Bett gekommen, oder seine Gläubiger waren zudringlich geworden, oder er hatte einen Rüffel von seinem Vorgesetzten erhalten. Genug, er war an diesem Tage schlechter Laune. Der Seemann hatte mit einigen Kameraden in der Vortakelung zu tun.
Nun muß man immer daran denken, daß der Seemann vierzig Jahre lang in der Flotte gedient, drei Schnüre für gute Führung erhalten hatte und für Auszeichnung im Kampf mit dem Viktoria-Kreuz geehrt worden war, so daß er wohl kein schlechter Seemann gewesen sein kann. Der Leutnant war gereizt und benutzte Schimpfwörter, die sich auf die Mutter des Seemanns bezogen. In meiner Knabenzeit pflegten wir uns wie kleine Teufel zu schlagen, wenn jemand in dieser Weise unsere Mutter beleidigte; und in dem Lande, aus dem ich stamme, haben viele Männer ihr Leben lassen müssen, weil sie andere derart beleidigten.
Der Leutnant gebrauchte also ein häßliches Wort gegen den Seemann, und zufällig hielt dieser gerade eine eiserne Stange in der Hand. Augenblicklich versetzte er dem Leutnant einen Schlag an den Kopf, daß er über Bord stürzte.
Und nun die eigenen Worte des Seemanns: »Mir war plötzlich klar, was ich getan hatte. Ich kannte das Reglement und sagte mir: Jetzt ist es aus mit dir, Jack, fertig, mein Junge! Und dann sprang ich kopfüber hinterher, um zu versuchen, uns beide zu ertränken. Und das wäre mir auch geglückt, wenn nicht gerade die Offiziersjolle vom Flaggschiff vorbeigekommen wäre. Wir waren beide aufgetaucht, und ich hielt ihn fest und schlug auf ihn los. Und das eben wurde mein Verhängnis. Würde ich ihn nicht geschlagen haben, so hätte ich sagen können, daß ich ihm nachgesprungen war, um ihn zu retten, als ich gesehen, was ich angerichtet hatte.«
Ein Schiedsgericht, oder wie es bei der Marine heißt, trat zusammen. Des Urteils erinnerte er sich Wort für Wort, wie er es sich immer wieder in bitteren Stunden wiederholt hatte. Und die Strafe, zu der man, um Disziplin und Respekt vor Offizieren, die nicht immer Gentlemen waren, aufrechtzuerhalten, den verurteilte, den die menschliche Natur zum Verbrecher gemacht hatte, bestand in folgendem: zum gemeinen Matrosen degradiert zu werden, alles Prisengeld, das er zugute hatte, und das Anrecht auf Pension einzubüßen, das Viktoria-Kreuz zurückzugeben, Soldat zweiter Klasse zu werden nebst fünfzig Schlägen sowie zwei Jahren Gefängnis.
»Ich wünschte, ich hätte mich damals ertränkt, weiß Gott!« schloß er, als die Reihe vorrückte und wir um die Ecke kamen.
Endlich konnten wir die Tür sehen, wo die Obdachlosen in kleinen Abteilungen eingelassen wurden, und dann sollte ich eine neue, überraschende Erfahrung machen: Da Mittwoch war, sollte keiner von uns vor Freitag morgen losgelassen werden, und – ich weiß nicht, was ihr fühlt, ihr Tabaksfreunde der ganzen Welt – in der ganzen Zeit sollten wir Tabak entbehren. Was wir bei uns hatten, sollten wir vor dem Eintritt abgeben. Es hieß, daß man es zuweilen wieder erhielt, wenn man das Haus verließ.
Der alte Seemann lehrte mich einen Trick. Er öffnete seinen Tabaksbeutel und entleerte das bißchen Inhalt in ein Stück Papier, das er dann zusammenfaltete und in einer Socke ganz unten im Schuh verschwinden ließ. Mein Tabak ging sofort denselben Weg, denn vierzig Stunden ohne Tabak ist schlimm; darin muß mir jeder Raucher recht geben. Wir rückten immer weiter vor und näherten uns langsam, aber sicher dem Eingang. Als wir ein eisernes Gitter passierten, rief der alte Seemann einem Mann auf der anderen Seite zu:
»Wieviel werden noch aufgenommen?«
»Vierundzwanzig«, lautete die Antwort.
Wir begannen eifrig zu zählen; vor uns standen vierunddreißig. Enttäuschung und Verzweiflung malten sich auf allen Gesichtern rings um uns. Es sind schlechte Aussichten, ohne einen Penny in der Tasche einer schlaflosen Nacht auf den Straßen Londons entgegenzugehen. Aber wir hofften immer noch, bis der Torwächter uns verjagte, gerade als wir alle zehn den Eingang erreicht hatten.
»Schluß!« Das war alles, was er sagte, als er die Tür zuschlug.
Wie ein Blitz schoß der alte Seemann trotz seinen siebenundachtzig Jahren fort, um zu sehen, ob es anderswo eine Chance gäbe. Ich blieb stehen und beriet mich mit einigen Männern, die sich auf derartige Herbergen verstanden. Sie meinten, es sei am besten, nach dem Arbeitshaus in Poplar, eine Stunde von hier, zu gehen, und das taten wir denn. Als wir um die Ecke bogen, sagte der eine von ihnen: »Ich hätte heute gut hineinkommen können. Um ein Uhr kam ich hier vorbei; da fingen sie gerade an, sich aufzustellen. Sie sind alle beim Aufseher gut angeschrieben, und es sind immer dieselben, die jede Nacht aufgenommen werden.«