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Die europäischen Völker verwiesen zu gewissen Zeiten die störenden Juden in abgesonderte Viertel in den Großstädten, die Ghettos. Heutzutage haben die herrschenden Klassen auf eine nicht weniger eigenmächtige und brutale Art die störenden, aber doch notwendigen Arbeiter in besondere Viertel von unermeßlicher Ausdehnung und unermeßlichem Elend verwiesen.
Ost-London ist ein solches Ghetto, wo die Reichen und die Machthaber nicht wohnen, wohin der Reisende nie kommt, wo aber zwei Millionen Arbeiter wohnen, sich vermehren und sterben.
Man muß nicht glauben, daß alle Arbeiter Londons in East End zusammengepfercht sind, aber die Strömung geht stark dahin. Beständig werden die Armenviertel in der innern Stadt niedergerissen, und die Hauptmenge der Vertriebenen zieht nach dem Osten. In den letzten zwölf Jahren hat ein einziger Distrikt, der, welcher »London jenseits der Grenze« genannt wird und zwischen Aldgate, Whitechapel und Mile End liegt, um 260 000 Bewohner oder mehr als sechzig Prozent zugenommen. Die Kirchen dieses Distriktes haben, um ein Beispiel zu nennen, nur Platz für jeden siebenunddreißigsten der vermehrten Einwohnermenge.
»Die Stadt der fürchterlichen Einsamkeit« nennt man oft das East End von London; namentlich die gutgenährten Zuschauer, die alles nur an der Oberfläche sehen und tief erschüttert sind über die unerträgliche Einförmigkeit und das Elend, das über dem Ganzen ruht, lieben es so zu nennen. Wäre East End keines schlimmeren Namens als »die Stadt der fürchterlichen Einsamkeit« würdig, und verdiente die arbeitende Bevölkerung nicht Abwechslung und Schönheit, so wäre es gar keine so schlechte Wohnstätte. Aber Ost-London verdient einen weit schlimmeren Namen. Es müßte heißen: »Die Stadt der Degradierten.«
East End ist nicht, wie manche glauben, ein Stadtteil mit Armenvierteln; es ist eine einzige mächtige Spelunke. Vom Standpunkt der Wohlanständigkeit und Menschlichkeit aus ist jede einzige ihrer vielen, elenden Straßen ein Abgrund an Armut.
An Stellen, wo alles, was man sieht und hört, von der Art ist, daß weder Sie noch ich wünschten, daß unsere Kinder es sähen und hörten, dürften gar keine Kinder leben – die sehen und hören können. Wo Sie und ich wünschten, daß unsere Frauen nicht wohnen sollten, dort ist auch keine Stätte für die Frau eines andern Mannes. Und hier in East End zeigen sich Unanständigkeit und tierische Roheit ganz unverschleiert. Hier ist nichts versteckt. Das Schlechte verdirbt das Gute, und alles geht derselben Vernichtung entgegen. In Ost-London ist kindliche Unschuld ein flüchtiges Ding, das behütet werden muß, wenn es noch in der Windel liegt – oder man muß entdecken, daß reine kleine Kinder ebenso sündig klug sind wie man selbst.
Alles zeigt, daß das Leben in Ost-London ungesund ist. Wo Sie nicht möchten, daß Ihre eigenen kleinen Kinder leben, aufwachsen und, was zum Leben gehört, kennenlernen sollten, dort ist auch nicht der Ort für Kinder anderer Menschen, um zu leben, aufzuwachsen und das Leben kennenzulernen. – Sie ist so einfach, diese goldene Regel, und man braucht eigentlich keine andere Richtschnur. Nationalökonomie und alte, überlebte Vorschriften haben nicht viel Wert, wenn sie etwas anderes behaupten. Was für ihre Vertreter selbst nicht gut genug ist, ist es auch nicht für andere; damit ist alles gesagt.
In London wohnen 300 000 Menschen in Ein-Zimmer-Wohnungen, und weit, weit mehr wohnen in Zwei- und Drei-Zimmer-Wohnungen und sind ebenso furchtbar zusammengepfercht, ohne Rücksicht auf das Geschlecht, wie die, die in einem einzigen Zimmer leben. Das Gesetz schreibt vierhundert Kubikfuß Raum für jeden Menschen vor. In den Baracken des Heeres werden jedem Soldaten sechshundert Kubikfuß zugestanden. Professor Huxley, seinerzeit öffentlicher Arzt in Ost-London, kämpfte dafür, daß jeder Mensch achthundert Kubikfuß Raum haben, und daß die Wohnung gut ventiliert sein sollte. Aber in London leben trotz den Vorschriften des Gesetzes 900 000 Menschen, die sich mit weniger als vierhundert Kubikfuß begnügen müssen.
Charles Booth, der jahrelang systematisch die Arbeit der städtischen Bevölkerung registriert und klassifiziert hat, behauptet, daß es in London 1 800 000 Menschen gibt, die arm und sehr arm genannt werden müssen. Es ist interessant zu sehen, was er unter arm versteht. Unter arm versteht er Familien, die eine Gesamteinnahme von achtzehn bis einundzwanzig Schilling haben. Die sehr armen haben weit weniger.
Die arbeitende Klasse wird immer mehr von ihren ökonomischen Herren abgesondert; und dieser Prozeß, der zu Übervölkerung und Zusammenpferchung führt, untergräbt alle Moral.
Hier folgt ein Auszug aus den Verhandlungen bei einer der letzten Sitzungen des Londoner Magistrats; der Bericht ist schlicht und einfach, aber man kann eine Welt von Schrecken zwischen den Zeilen lesen:
Herr Bruce fragte den Vorsitzenden der Gesundheitskommission, ob er über die vielen ernsten Fälle von Überfüllung der Wohnungen in East End orientiert sei. In St.-George-in-the-East bewohne eine Familie von zehn Köpfen ein einziges kleines Zimmer. Die Familie bestehe aus Mann, Frau und acht Kindern, fünf Töchtern von zwanzig, siebzehn, acht und vier Jahren und einem Säugling sowie drei Söhnen von fünfzehn, dreizehn und zwölf Jahren. In Whitechapel wohne in einem ganz kleinen Zimmer ein Mann mit Frau und drei Töchtern, sechzehn, acht und vier Jahre alt, nebst zwei Söhnen, zehn und zwölf Jahre alt. In Bethnal Green habe man, ebenfalls in einem einzigen Zimmer, eine Familie, bestehend aus Mann und Frau mit vier Söhnen von dreiundzwanzig, einundzwanzig, neunzehn und sechzehn sowie zwei Töchtern von vierzehn und sieben Jahren angefunden. Herr Bruce fragte, ob es nicht Pflicht der Ortsbehörden sei, derartigen Zuständen vorzubeugen.
Wenn aber tatsächlich 900 000 Menschen auf ungesetzliche Art wohnen, so haben die Behörden alle Hände voll zu tun.
Werden die überzähligen Familien vor die Tür gesetzt, so ziehen sie in ein andres Loch, und da sie ihr Eigentum nachts fortschaffen – ein kleiner Zugwagen nimmt alles, was sie besitzen, und dazu die schlafenden Kinder auf –, so ist es so gut wie unmöglich, ihren Spuren zu folgen.
Wenn die Gesundheitsvorschriften von 1891 plötzlich Punkt für Punkt durchgeführt werden sollten, so würden 900 000 Menschen aus ihren Wohnungen auf die Straße gesetzt. Man müßte 500 000 Zimmer bauen, damit sie wieder auf gesetzliche Art und Weise unter Dach kämen.
Man beurteilt die Straßen nach ihrem Äußern, könnte man aber einen Blick hinter ihre Mauern werfen, so würden einem erst die Augen aufgehen, wieviel sie an Schmutz, Elend und menschlicher Tragödie enthalten.
Wen der folgende tragische Bericht beim Lesen empört, der darf nicht vergessen, daß das Empörendste der Umstand ist, daß es überhaupt geschehen kann.
In Devonshire, Lisson Grove, starb vor kurzem eine alte Frau von fünfundsiebzig Jahren. Bei der gerichtlichen Untersuchung erklärte der Leichenbeschauer, daß alles, was man in ihrem Zimmer gefunden hätte, ein Haufen alter, von Ungeziefer wimmelnder Lumpen gewesen wäre. Er hätte selbst bei dieser Gelegenheit Läuse bekommen. Das Zimmer sei in einer Verfassung gewesen, wie er nie etwas erlebt hatte. Alles sei sozusagen mit Ungeziefer bedeckt gewesen.
Der Arzt erklärte: Ich habe die Verstorbene vor dem Kamin auf dem Rücken liegend gefunden. Sie war mit einem Hemd und mit Strümpfen bekleidet. Ihr Körper wimmelte von Läusen, und alles, was an Zeug gefunden wurde, war grau von Ungeziefer. Die Verstorbene befand sich in einem sehr schlechten Ernährungszustand und war stark abgemagert. Sie hatte ausgedehnte Wunden an den Beinen, und ihre Strümpfe klebten in den Wunden. Die Wunden waren von Ungeziefer verursacht.
Ein Mann, der dem Verhör beiwohnte, schrieb: »Ich hatte leider Gelegenheit, den Körper der unglücklichen Frau zu sehen, als sie im Leichenhaus lag; und noch jetzt läßt der Gedanke an diesen grauenhaften Anblick mich schaudern. Sie lag in ihrem Sarg so ausgezehrt und abgemagert, daß sie einem Skelett glich. Ihr von Schmutz entfärbtes Haar war ein einziges Läusenest. Auf ihrer mageren Brust sprangen und krabbelten hunderte, tausende Myriaden von Ungeziefer.«
Es wäre fürchterlich, wenn Ihre Mutter oder meine Mutter auf eine solche Art und Weise stürbe, und es ist nicht weniger furchtbar, daß diese Frau – wessen Mutter sie auch war – so starb. –
Bischof Wilkinson, der sich im Land der Zulukaffern aufgehalten hat, sagte neulich: »Kein Häuptling eines afrikanischen Dorfes würde eine ähnliche zufällige Verbindung von jungen Männern und Frauen, Knaben und Mädchen zulassen.« Er meinte die Kinder der übervölkerten Armenviertel, die im Alter von fünf Jahren nichts mehr zu lernen, aber desto mehr zu vergessen haben, aber doch nie ganz vergessen.
Es ist bekannt, daß die Häuser dieses Armen-Ghettos weit größere Einnahmen bringen als die Gebäude, in denen wohlhabende Leute wohnen. Der arme Arbeiter muß nicht allein wie ein Tier wohnen, er muß verhältnismäßig weit mehr für sein Dasein bezahlen als der Reiche für seinen Komfort.
Der Kampf der Armen um die elenden Wohnungen hat bewirkt, daß eine Art Blutsauger auf diesem Gebiet entstand. Es gibt mehr Menschen als Zimmer, und Unzählige gehen in die Armenhäuser, weil sie kein Dach über dem Kopfe haben. Die Häuser werden nicht nur vermietet, sondern untervermietet und die einzelnen Zimmer dann wieder vermietet.
»Teil eines Zimmers zu vermieten«, stand neulich auf einem Schild in einem Fenster, keine fünf Minuten von St. James' Hall.
Rev. Hugh Price Hughes hat öffentlich bezeugt, daß Betten nach dem Drittelsystem vermietet werden – das heißt ein Bett an drei Mieter; jeder darf es acht Stunden benutzen, so daß es nie Zeit hat, kalt zu werden. Und selbst der Platz unter dem Bett wird nach dem Drittelsystem vermietet.
Die Beamten der Gesundheitspolizei haben mehr als einmal Fälle wie den hier angeführten angetroffen. In einem Zimmer von 1000 Kubikfuß befanden sich drei erwachsene Frauen im Bett und drei erwachsene Frauen unter dem Bett; in einem andern Zimmer von 1650 Kubikfuß lagen ein erwachsener Mann und zwei Kinder im Bett und zwei erwachsene Frauen unter dem Bett.
Hier ein typisches Beispiel von einem Zimmer, das nach dem achtbareren Halbsystem vermietet wird: Am Tage wird es von einer jungen Frau bewohnt, die nachts in einem Hotel beschäftigt ist. Um sieben Uhr abends verläßt sie das Zimmer, und ein Maurer zieht ein. Um sieben Uhr morgens verläßt er das Zimmer und geht auf Arbeit, worauf sie von ihrer Tätigkeit heimkehrt.
Rev. W. N. Davies, der Rektor von Spitalfields, hat in einer Gasse seiner Gemeinde eine Untersuchung angestellt. Er äußert sich folgendermaßen: In einer der Gassen befinden sich zehn Häuser mit 51 Zimmern, fast alle nur acht zu neun Fuß groß, und hier wohnen 254 Menschen. In sechs Fällen wohnen nur zwei Menschen in einem Zimmer, in den übrigen wohnen mehrere zusammen, drei bis neun in jedem Zimmer. In einer Gasse von sechs Häusern mit 22 Zimmern wohnen 84 Menschen, auch hier gibt es Fälle, wo sechs, sieben, acht und neun in einem Zimmer wohnen. In einem Hause mit acht Zimmern wohnen 45 Menschen, eines der Zimmer wird von neun Personen, eines von acht, zwei von sieben und eines von sechs bewohnt.
Nicht der freie Wille häuft die Menschen in diesem Ghetto zusammen, sondern der Zwang. Fast fünfzig Prozent der Arbeiter bezahlen ein Viertel bis die Hälfte ihres Lohnes an Miete. Die Durchschnittsmiete beträgt fast überall in East End vier bis sechs Schilling die Woche für ein Zimmer, und tüchtige Industriearbeiter, die fünfunddreißig Schilling die Woche verdienen, müssen fünfzehn Schilling für zwei oder drei finstere, kleine Löcher bezahlen, wo sie verzweifelt um eine Andeutung heimischen Behagens kämpfen.
Und die Miete steigt beständig. In einer Straße in Stepney ist sie im Laufe von zwei Jahren von dreizehn auf achtzehn Schilling, in einer andern Straße von elf auf sechzehn Schilling, und in einer dritten von elf auf fünfzehn Schilling gestiegen, während Zwei-Zimmer-Wohnungen in Whitechapel, die früher zu zehn Schilling vermietet wurden, jetzt einundzwanzig kosten. In Ost und West, Nord und Süd steigt die Miete. Wenn der Grundbesitz zwanzig bis dreißigtausend Pfund Sterling der Morgen wert ist, so gehört schon etwas dazu, um dem Hausbesitzer seine Zinsen zu schaffen.
W. C. Steadman hat in einer Rede im Unterhaus folgendes über die Verhältnisse in Stepney gesagt: Heute Morgen wurde ich keine hundert Schritte von meiner Wohnung von einer Witwe angehalten. Sie hatte sechs Kinder zu versorgen und bezahlte vierzehn Schilling wöchentlich Miete. Sie verdiente ihren Unterhalt durch Vermieten und durch Waschen und Reinmachen. Diese Frau erzählte mir mit Tränen in den Augen, daß der Hauswirt die Miete erhöht hätte, so daß sie jetzt achtzehn Schilling statt vierzehn betrüge. Was soll diese Frau tun. Jede Wohnung ist ja überfüllt.
Die Herrschaft der Oberklasse kann nur auf der Degradation der Unterklasse aufgebaut sein; und wenn die Arbeiter in Ghettos abgesondert werden, können sie der systematischen Erniedrigung nicht entgehen. Eine Rasse verkrüppelter, kleiner Menschen wächst heran – ein Geschlecht, auffällig verschieden von dem ihrer Herren, ein Volk des Rinnsteins, ohne Rückgrat und Stärke. Männer werden zu Karikaturen dessen, was menschliche Geschöpfe sein sollen, und ihre Frauen und Kinder sind blaß und blutarm, hohläugig, rundrückig und krumm, früh verlassen von Wohlgestalt und Schönheit.
Was es noch schlimmer macht, ist der Umstand, daß die Männer des Ghettos es sind, die zurückgeblieben sind – ein verringertes Geschlecht, das nur aufgespart ist, um weiter verringert zu werden. Mindestens anderthalb Jahrhunderte lang ist ihnen ihr bestes Blut abgezapft worden. Die starken Männer mit Mut, Unternehmungslust und Ehrgeiz sind fortgezogen in frischere, freiere Gebiete des Erdballs, um sich neues Land zu unterwerfen und neue Völker zu schaffen. Zurückgeblieben sind die schwachen Herzens, schwachen Kopfes und von schwacher körperlicher Entwicklung und mit ihnen die Verderbten und Hoffnungslosen; ihnen ist es überlassen, das Geschlecht zu vermehren. Und Jahr auf Jahr wird ihnen das Beste, das sie erzeugen, genommen. So oft ein Mann von Kraft und Schönheit unter ihnen aufwächst, wird er unrettbar vom Heere verschlungen. Ein Soldat ist, wie Bernard Shaw gesagt hat, »scheinbar ein Held und begeisterter Verteidiger seines Vaterlandes, in Wirklichkeit aber ein unglücklicher Mensch, den die Not getrieben hat, sich selbst als Kanonenfutter zu verkaufen um regelmäßiges Essen, ein Dach über dem Kopfe und Kleider auf dem Leibe zu erhalten«.
Die beständige Auslese der Besten aus den Reihen der Arbeiter hat auch die Schar der Zurückgebliebenen verarmt, sie sind zu einem traurigen, degradierten Bodensatz geworden, der in den Ghettos in die tiefsten Tiefen hinabsinkt. Die Tauglichsten düngen die Erde mit ihrem Blut, oder ihre Arbeit trägt in fernen Gegenden Früchte. Die Zurückgebliebenen sind die Hefe, die ausgeschieden ist und jetzt in einem Abgrund für sich unten gehalten wird. Sie sind allmählich unmoralisch und tierisch geworden. Wenn sie töten, töten sie mit bloßen Händen, und sie übergeben sich schlaff den strafenden Behörden. Keine bewunderungswerte Kühnheit kennzeichnet ihre Verbrechen. Sie erdolchen einen Kameraden mit einem stumpfen Messer oder zerhämmern ihm den Kopf mit einem eisernen Topf und warten dann auf die Polizei. Mißhandlung der Frauen ist das maskuline eheliche Vorrecht. Sie tragen die merkwürdigsten, mit Eisen und Messing beschlagenen Stiefel, und wenn sie der Mutter ihrer Kinder ein blaues Auge oder dergleichen versetzt haben, so schleudern sie sie zu Boden und treten auf ihr herum, etwa so, wie ein Hengst im wilden Westen eine Klapperschlange zertritt.
Eine Frau der niederen Ghetto-Klasse ist im gleichen Maße Sklavin ihres Mannes wie eine Indianerin, und wenn ich Frau wäre und nur die Wahl zwischen beiden hätte, so möchte ich lieber Indianerin sein.
Die Männer sind wirtschaftlich abhängig von ihren Arbeitgebern, und die Frauen sind wirtschaftlich abhängig von ihren Männern. Das Ergebnis ist, daß die Frau die Prügel erhält, die der Mann gern seinem Arbeitsherrn geben möchte, und sie muß sich darein finden. Sie hat Rücksicht auf ihre Kinder zu nehmen, und er ist der Versorger; sie kann ihn nicht ins Gefängnis schicken und selbst zurückbleiben und mit den Kindern hungern. Wenn derartige Sachen vor Gericht kommen, ist es fast unmöglich, hinreichende Zeugenaussagen zur Verurteilung des Mannes zu erlangen; in der Regel wird man sehen, wie die mißhandelte Gattin und Mutter weint und verzweifelt die Obrigkeit anfleht, ihren Mann loszulassen – um der Kinder willen.
Die Frauen werden alte Vetteln oder geistig geknickt und kriecherisch, sie verlieren den letzten Rest von Anstand und Selbstachtung, der ihnen aus ihrer Jungmädchenzeit geblieben ist; alles stürzt für sie zusammen, aber sie achten es nicht in ihrer Erniedrigung und ihrem Schmutz.
Manchmal wird mir vor meiner eigenen Auffassung des Ghetto-Lebens bange, und mir scheint, daß meine Eindrücke Übertreibungen sind, daß ich dem Bild zu nahe gekommen bin, um die Perspektive behalten zu können. In solchen Augenblicken gibt mir der Gedanke an das Zeugnis anderer Männer die Befriedigung, mich überzeugen zu können, daß meine Nerven mich nicht hinters Licht geführt haben.
Frederik Harrison ist in meinen Augen stets ein klarblickender, gleichgewichtiger Mann gewesen, und er sagt:
Mir würde es jedenfalls genügen, um die ganze moderne Gesellschaft als wenig besser denn Sklaverei und Leibeigenschaft zu verdammen, wenn die Zustände in der Industrie dauernd so wären, wie ich sie jetzt vor Augen habe, – daß neunzig Prozent von denen, die wirklich Reichtümer produzieren, kein Heim haben, wenn die Woche um ist, die nicht ein Fleckchen Erde besitzen, nicht ein Loch, das sie ihr eigen nennen können, die überhaupt nichts an Wert haben, außer den bißchen Möbeln, die auf einem Zugwagen Platz finden, – daß sie nur eine sehr unsichere Aussicht haben, einen Wochenlohn zu verdienen, der kaum genügt, sie gesund zu erhalten, – daß sie an Orten untergebracht sind, die die meisten zu schlecht für ein Pferd finden würden, – daß es ihnen so elend ergeht, daß ein Monat schlechter Verdienst, Krankheit oder unerwarteter Verlust sie Angesicht zu Angesicht mit Hunger und Not stellt ... Aber unter schlechteren als diesen, für den Arbeiter in Stadt und Land normalen Verhältnissen, lebt die gewaltige Schar des verarmten Bodensatzes, der Troß, der der Industriearmee folgt, und der mindestens ein Zehntel des Proletariats ausmacht, das sich normalerweise in der kläglichsten Verfassung befindet. Wenn dies die stehende Ordnung der modernen Gesellschaft ist, so muß man sagen, daß die Zivilisation dem größten Teil der Menschheit zum Fluche geworden ist.
Neunzig Prozent! Diese Zahl ist entsetzenerregend, und doch muß Stafford Brooke, nachdem er ein grauenhaftes Bild von London gezeichnet hat, die Zahl auf eine halbe Million erhöhen. Er schreibt folgendes:
Als Kaplan in Kensington traf ich oft Familien, die auf der Hammersmith-Straße nach London zogen.
Eines Tages kam ein Landarbeiter mit Frau, Sohn und zwei Töchtern. Die Familie hatte lange auf einem Gut auf dem Lande gewohnt, wo alle Tagelöhner ein Stück Boden zu gemeinsamer Bewirtschaftung hatten. Dann aber wurde dieses Recht ihnen genommen, und die Arbeit auf dem Gute hörte auf. Sie wurden ganz einfach vor die Tür ihrer kleinen Hütte gesetzt. Wo sollten sie hin? Natürlich nach London, wo es ihrer Meinung nach Arbeit genug gab.
Sie besaßen einen kleinen Spargroschen und glaubten, ein paar bescheidene Zimmer mieten zu können. Aber in London begegneten sie der unabwendbaren Wohnungsfrage. Sie suchten zuerst in den anständigen Gassen und entdeckten, daß zwei Zimmer zehn Schilling wöchentlich kosteten. Das Essen war teuer und schlecht, und im Laufe ganz kurzer Zeit war ihre Gesundheit untergraben. Es war sehr schwer, Arbeit zu bekommen, und der Lohn war so elend, daß sie sehr bald in Schulden gerieten.
Die vergiftete Umgebung, das Dunkel, in dem sie lebten, und die lange Arbeitszeit schwächten sie immer mehr und brachten sie zur Verzweiflung. Bald waren sie genötigt, sich nach einer billigeren Wohnung umzusehen; sie fanden sie in einem Winkelgäßchen, das ich ein wenig kenne – es ist die reine Brutanstalt für Verbrechen und namenlosen Schrecken. Hier erhielten sie ein einziges Zimmer zu einer blutigen Miete, und daß sie an einer solchen Stätte hausten, erschwerte ihnen noch die Arbeitsuche. Sie fielen daher in die Hände solcher Arbeitgeber, die aus Männern, Frauen und Kindern den letzten Blutstropfen saugen und einen Lohn bezahlen, der nur die Verzweiflung der Armen nährt.
Und Finsternis und Schmutz, dazu die schlechte Nahrung, Kränklichkeit und Mangel an reinem Wasser wurden schlimmer als je zuvor. Die Umgebung und der Verkehr, den sie mit sich brachte, raubten der Familie den letzten Rest von Selbstachtung. Der Teufel der Trunksucht bekam sie in seine Krallen. Es gab selbstverständlich an beiden Enden der Gasse ein Wirtshaus; und dahin flohen sie alle, um Zuflucht, Wärme, Gesellschaft und Vergessen zu finden. Und wenn sie das Wirtshaus verließen, waren ihre Schulden größer als je, ihre Sinne waren vergiftet, und das Hirn brannte ihnen im Kopfe; sie waren zu allem fähig, um ihren Drang nach berauschenden Getränken zu befriedigen.
Wenige Monate später saß der Familienvater im Gefängnis, die Mutter lag auf den Tod danieder, der Sohn war Verbrecher, und die Töchter waren auf der Straße.
Multipliziert diesen Fall mit einer halben Million, und ihr werdet noch nicht die richtige Zahl erreicht haben.
Es gibt auf dieser Welt keinen traurigeren Anblick, als dieser »fürchterliche Osten« mit Whitechapel, Hoxton, Spitalfields, Bethnal Green und Wapping bis zu den Ostindia-Docks ihn bietet. Hier ist die Farbe des Lebens grau und schmutzigbraun. Alles ist hilflos, hoffnungslos, trostlos und schmutzig. Etwas wie Badeeinrichtungen kennt man nicht. Die Menschen selbst sind so schmutzig, daß jeder Versuch der Reinlichkeit als Komödie betrachtet werden müßte, wäre es nicht so schmerzlich und tragisch. Merkwürdige Dünste kommen mit dem feuchten Wind getrieben, und der Regen, der fällt, gleicht mehr dem Wasser aus einer Kloake als dem des Himmels. Selbst das Steinpflaster schäumt vor Unsauberkeit.
Die Bewohner sind ebenso schlaff und ungeistig wie die langen, grauen Meilen schmutziger Mauern. Die Religion ist tugendhaft an ihnen vorübergegangen, ein grober und dummer Materialismus herrscht und tötet alle besseren Gefühle des Geistes und des Lebens.
Die Engländer haben sich stets damit gebrüstet, daß ihr Heim ihre Burg wäre. Heute ist das jedoch ein Irrtum: das Volk des Ghettos hat kein Heim, sie kennen gar nicht die Bedeutung und Heiligkeit des häuslichen Lebens. Sogar die städtischen Wohnungen, in denen die bessere Arbeiterklasse wohnt, sind ja nur überfüllte Kasernen; auch in ihnen gibt es kein häusliches Leben. Selbst die Sprache beweist das. Wenn der Vater von der Arbeit kommt und sein Kind, das er auf der Straße trifft, fragt, wo die Mutter ist, erhält er die Antwort: »Im Gebäude.«
Eine neue Rasse ist entstanden, das Volk der Straße. Ihr Leben verbringen diese Menschen bei der Arbeit und auf der Straße. Sie haben Löcher und Höhlen, in denen sie sich zum Schlafen verkriechen – anders kann man es nicht nennen. Man würde das Wort Heim lächerlich machen, wollte man es hier anwenden.
Der ruhige, zurückhaltende Engländer, den man kennt, ist hier verschwunden. Das Volk der Straße ist lärmend, großmäulig, aufgeregt und heftig – solange es noch jung ist. Im Alter wird es schlaff und vom Bier verdummt. Haben sie sonst nichts zu tun, so käuen sie wieder wie das Vieh.
Man stößt überall auf sie; sie stehen auf den Fliesen und an den Ecken und starren leer vor sich hin. Beobachtet einen von ihnen – er wird stundenlang so stehen können, und wenn man sich entfernt, steht er immer noch da und starrt ins Leere. Er hat kein Geld für Bier, und seine Höhle ist nur zum Schlafen da, was soll er sich da vornehmen? Er ist längst mit der Liebe fertig – mit der des jungen Mädchens, der Gattin und des Kindes – und hat gefunden, daß sie nur Einbildung und Humbug ist, unnütz, flüchtig wie der Tautropfen, und daß sie schnell verschwindet – lange vor der grausamen Wirklichkeit des Lebens. Wie gesagt, die Jungen sind aufgeregt, nervös und leichtbeweglich; die Alten sind querköpfig, schlaff und dumm. Es ist lächerlich, auch nur einen Augenblick an die Möglichkeit zu denken, daß sie imstande sein sollten, die Konkurrenz mit den Arbeitern der »neuen Welt« aufzunehmen. Das brutalisierte, erniedrigte und schlaffe Volk des Ghettos ist nicht imstande, mit irgendwelchem Erfolg für England zu kämpfen in dem Endkampf um die Herrschaft auf dem Industriemarkt, der, wie die Nationalökonomen behaupten, begonnen hat. Weder als Arbeiter noch als Soldaten werden sie sich geltend machen können, wenn England einmal in der Not seine Söhne ruft. Sollte es geschehen, daß England vom Industriemarkt der Welt vertrieben wird, so würden diese Menschen wie die Fliegen sterben, wenn der Sommer vorbei ist. Und geschähe es, daß England in eine kritische Situation geriete und dieses Volk zu wilder, tierischer Raserei erregt würde, so könnte es sein, daß sie drohend nach West End zögen, um all das Unrecht zu rächen, das West End an East End begangen hat – und in diesem Falle würden sie noch schneller und leichter von schnellschießenden Gewehren und modernen Kriegsmaschinen ausgerottet werden.