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Man kann von der englischen Arbeiterklasse sagen, daß sie vom Bier durchtränkt ist. Die Arbeiter sind schlaff und schimmlig davon geworden; ihre Tauglichkeit ist in traurigem Maße dadurch verringert, und sie verlieren die Phantasie, die Erfindungsgabe und Schärfe, die ihrer Rasse eigen ist. Die Biertrinkerei kann kaum ein Laster genannt werden, das sie angenommen haben, denn sie sind von ihrer frühesten Kindheit daran gewöhnt. Die Kinder werden in Trunkenheit gezeugt, mit Alkohol gesättigt, ehe sie noch ihren ersten Atemzug tun, kommen zur Welt im Geruch und Geschmack von Alkohol und werden darin aufgezogen.
Wirtschaften gibt es überall. Sie florieren an den Ecken und zwischen den Ecken, und sind fast ebenso stark von Frauen besucht wie von Männern. Man kann auch hier Kinder finden, die darauf warten, daß ihre Eltern ausgetrunken haben, um heimzugehen. Die Kinder nippen an den Gläsern der Erwachsenen, lauschen auf ihre rohe Sprache und unanständige Unterhaltung, saugen die Ansteckung ein und erhalten Einblick in Zügellosigkeit und Saufgelage.
Menschen, die es lieben, davon zu reden, was »passend« sei, finden sich ebensogut unter den Arbeitern wie in der Bourgeoisie; aber eines gibt es, worüber diese Leute unter den Arbeitern nie ein böses Wort fallen lassen, und das sind die Wirtschaften. Man findet nicht, daß Erniedrigung oder Schande an ihnen oder an den jungen Frauen und Mädchen kleben, die dort hinkommen.
Ich erinnere mich, daß ich in einem Kaffeehaus ein junges Mädchen sagen hörte: »Ich trinke nie Alkohol, wenn ich im Wirtshaus bin.« Sie war eine hübsche junge Kellnerin, und sie erklärte einer anderen Kellnerin, wo sie die Grenze für das Passende zog. Für sie war der Alkohol das Entscheidende, aber sie fand es durchaus nicht unpassend für ein anständiges junges Mädchen, Alkohol zu trinken und überhaupt diese Orte aufzusuchen.
Bier ist ein schlechtes Getränk für Frauen und Männer; aber noch schlimmer ist, daß Leute oft zu schlecht für das Bier sind. Leider aber ist es gerade ihre Schlechtigkeit, die sie es trinken läßt. Eben weil sie schlecht ernährt und kraftlos sind, und wegen der elenden Verhältnisse in ihrem Heim, entwickelt sich in ihnen ein krankhafter Drang zum Trinken. Ungesunde Lebensweise und ungesunde Arbeit erzeugen ungesunden Appetit und ungesunde Wünsche. Ein Mensch kann nicht ärger überanstrengt als ein Pferd, schlechter untergebracht und gefüttert als ein Schwein werden und sich dennoch gesunde, reine Ideale und Wünsche bewahren.
Je mehr das Heim verschwindet, desto mehr Wirtshäuser schießen aus dem Boden. Nicht nur Männer und Frauen, die überanstrengt, abgearbeitet sind, eine schlechte Verdauung haben, unter ungesunden Verhältnissen leben und von der Häßlichkeit und Einförmigkeit des Lebens beschwert werden, fühlen die abnorme Lust zu trinken, sondern auch Menschen, die nur gesellig veranlagt sind, Männer und Frauen, die kein Heim haben und deshalb ihre Zuflucht zu dem strahlenden, lärmenden Wirtshaus nehmen, um ihren Drang nach Geselligkeit zu befriedigen; wenn eine ganze Familie in einer einzigen Höhle zusammengepackt ist, wird ja jede Form von Zerstreuung im eigenen Heim zur Unmöglichkeit.
Eine ganz kurze Untersuchung solcher Verhältnisse in den Wohnungen würde Licht auf eine der Hauptursachen des Trinkens werfen. Die Familie steht morgens auf, kleidet sich an und wäscht sich – Vater, Mutter, Söhne und Töchter im selben Raum reiben sich aneinander, denn das Zimmer ist ja nur klein. Die Hausfrau bereitet das Frühstück; und in diesem einzigen Zimmer, dessen Luft schwer und stickig von den Ausdünstungen einer ganzen Nacht ist, wird das Morgenmahl eingenommen. Der Vater geht zur Arbeit, die ältesten Kinder gehen zur Schule oder auf die Straße, und die Mutter bleibt mit den krabbelnden Kleinen zurück, um ihre Arbeit zu verrichten. Jetzt wäscht sie das Zeug für die ganze Familie und erfüllt den Raum mit Seifengeruch und Dünsten des schmutzigen Zeuges, und über ihrem Kopf hängt sie das nasse Leinen zum Trocknen auf.
Und in demselben Zimmer, das jetzt von den vielen verschiedenartigen Dünsten des Tages erfüllt ist, legt sich die Familie abends auf ihrem keuschen Lager zur Ruhe. Das heißt, daß so viele Mitglieder wie möglich in das einzige Bett der Familie kriechen, wenn die Familie überhaupt ein Bett hat, der Rest legt sich auf den Fußboden.
Und so geht ihr Leben tagein, tagaus – Monat auf Monat, Jahr auf Jahr, nie gibt es eine Veränderung, außer wenn sie auf die Straße gesetzt werden. Stirbt eines der Kinder – und einige müssen ja sterben, da fünfundzwanzig Prozent der Kinder von East End vor ihrem fünften Jahre sterben –, so liegt die Leiche des Kindes im selben Zimmer; und sind sie sehr arm, so müssen sie die Leiche einige Zeit in der Stube behalten, ehe sie sie begraben können. Tagsüber liegt die Leiche auf dem Bett, nachts, wenn die Lebenden das Bett in Besitz nehmen, wird die Leiche auf den Tisch gelegt, an dem die Lebenden, wenn die Kinderleiche morgens wieder auf das Bett gelegt worden ist, ihr Frühstück essen. Zuweilen wird die Leiche auch auf das Bort gelegt, das mangels einer Speisekammer benutzt wird, um die Nahrungsmittel aufzubewahren. Erst vor wenigen Wochen mußte eine Frau vor Gericht erscheinen, weil sie ihr totes Kind, das zu begraben sie nicht imstande gewesen war, drei Wochen auf diese Art und Weise bei sich behalten hatte.
Ein Zimmer wie das beschriebene kann nicht die Behaglichkeit eines Heimes, sondern nur Schrecken bieten, und man kann Männer und Frauen, die von dort fliehen und die Wirtshäuser aufsuchen, nur bedauern, nicht tadeln. Dreihunderttausend in Familien verteilte Menschen leben in London in einzigen Zimmern, und neunhunderttausend leben, den öffentlichen Gesundheitsbestimmungen von 1891 zufolge, auf ungesetzliche Art und Weise – eine ansehnliche Schar zur Rekrutierung des Heeres der Trunkenbolde.
Von andern mächtigen Kräften, die das Volk zum Trinken treiben, muß man auch die Unsicherheit des Glücks und der Existenz, die ganze wohlbegründete Furcht vor der Zukunft, in Betracht ziehen. Das Unglück fordert Linderung, und im Wirtshaus findet man Vergessen, und der Schmerz wird gestillt. Es ist ungesund – gewiß, aber alles andere in ihrem Leben ist ja auch ungesund, und es gibt ihnen doch einen Ersatz, wie nichts sonst in ihrem Leben ihnen geben kann, es kann sie sogar in bessere Stimmung versetzen, so daß sie sich edler und besser fühlen, trotzdem es sie gleichzeitig hinabzieht und tierischer macht. Es ist für die armen Männer und Frauen ein Wettlauf zwischen verschiedenartigem Unglück, deren jedes zum Tode führt.
Es hat keinen Zweck, diesen Menschen Mäßigkeit und Enthaltsamkeit zu predigen. Das Laster der Trunksucht kann die Ursache zu manchem Unglück sein, dafür ist es aber auch die Wirkung von manch anderem Unglück. Die Enthaltsamkeitsapostel können aus allen Kräften gegen das Übel der Trunkenheit predigen; ehe nicht das Übel, das die Leute zum Trinken bringt, ausgerottet ist, werden auch die Trunksucht und ihre Folgen nicht auszurotten sein.
Solange die Menschen, die dort zu helfen versuchen, dies nicht einsehen können, werden ihre wohlgemeinten Bemühungen fruchtlos bleiben, und sie werden nur ein Schauspiel aufführen, über das die Götter lachen. Unter anderem habe ich eine Ausstellung japanischer Kunst gesehen, die für die Armen von Whitechapel arrangiert war, in der Absicht, den Sinn für das Schöne, das Wahre und Gute bei ihnen zu erwecken. Selbst wenn die armen Menschen auf diese Weise Augen für Schönheit, Wahrheit und Gutes bekommen könnten, so würden ihr trauriges Dasein und die sozialen Gesetze, die jeden dritten von ihnen verurteilen, auf öffentliche Kosten zu sterben, nur bewirken, daß diese neue Kenntnis und Erweckung ein neuer Fluch neben denen ist, unter denen sie schon leiden. Sie hätten nur desto mehr zu vergessen. Wenn das Schicksal mich heute dazu verdammte, für den Rest meiner Tage das Leben eines East-End-Sklaven zu führen, und wenn das Schicksal mir gleichzeitig einen einzigen Wunsch zugestände, so würde ich bitten, alles vergessen zu dürfen, was Schönheit, Wahrheit und Gutes heißt; alles vergessen zu dürfen, was ich aus Büchern gelernt habe, Menschen zu vergessen, die ich gekannt, alles was ich gehört, und die Länder, die ich gesehen habe. Und wenn das Schicksal es mir dann verweigerte, so bin ich fest überzeugt, daß ich mich so oft wie möglich betrinken würde, um zu vergessen.
Oh, diese Menschen mit ihrer Hilfe! Ihre Schulkolonien, Missionstätigkeiten und Barmherzigkeitsinstitutionen sind die reinen Mißverständnisse. Es liegt in der Natur der Sache, daß sie lauter Irrtümer sein müssen, sie sind ganz falsch angepackt, so gut gemeint sie auch sein mögen. Diese guten Leute wollen den Forderungen des Lebens entgegenkommen, obwohl sie das Leben ganz mißverstehen. Sie hassen East End und kommen doch als Lehrer und Retter dorthin. Sie verstehen nicht die einfache Gesellschaftslehre Christi und kommen zu den Unglücklichen und Verachteten mit der Prahlerei des sozialen Befreiers. Sie haben eine treue Arbeit geleistet, aber außer daß sie einen unendlich geringen Teil der Not gelindert und eine Menge statistischer Aufklärung gesammelt haben, die auf wissenschaftlichere und weniger kostspielige Art hätte beschafft werden können, haben sie nichts ausgerichtet.
Es ist so, wie ein gewisser Mann gesagt hat – sie tun alles für die Armen, außer daß sie aufhören, an ihnen zu zehren. Sogar das Geld, das sie so sparsam für ihre Kinderbeihilfe opfern, haben sie den Armen selbst entpreßt. Sie stammen von einer Rasse raubgieriger, zweibeiniger Geschöpfe, von denen der Lohn der Arbeiter abhängt, und sie versuchen dem Arbeiter zu erzählen, wie er das elende bißchen Lohn, das ihm zugestanden wird, verbrauchen soll. Was in aller Welt kann es nutzen, Pflegeheime zu errichten, wo die arbeitenden Frauen ihre Kinder unterbringen können, während die Mütter selbst in Islington Veilchen zu dreiviertel Penny das Gros verfertigen, wenn doch immer mehr Kinder und Veilchenmacherinnen kommen, als sie aufnehmen können. Eine Veilchenmacherin behandelt jede Blume fünfmal und muß demnach 576 Handgriffe für dreiviertel Penny leisten; und im Laufe des Tages leistet sie 6912 Handgriffe, um neun Pence zu verdienen; sie wird einfach bestohlen. Sie wird ausgesogen, und der Sinn für das Schöne, das Wahre und Gute wird ihr ihre Bürde nicht erleichtern. Sie tun gar nichts für sie, all die Pfuscher, und diese Unterlassungssünde gegen die Mutter geht gerade auf gegen das, was sie im Laufe des Tages für das Kind getan haben.
Alle wie einer predigen sie eine gründliche Lüge. Sie wissen nicht, daß es Lüge ist, aber deshalb wird es doch nicht zur Wahrheit. Die Lüge, die sie predigen, ist Sparsamkeit.
Ein Beispiel wird diese Behauptung am besten beweisen: Im übervölkerten London ist der Kampf um die Arbeit sehr scharf, und aus diesem Grunde wird der Lohn auf das geringste Existenzminimum gedrückt. Sparsam sein, heißt weniger verbrauchen als man verdient – das heißt mit Bezug auf den Arbeiter: daß er schlechter leben soll als er lebt. Im Arbeitskampf wird der, der am billigsten lebt, dem unterliegen, der mehr für seinen Unterhalt braucht; und eine kleine Gruppe solcher sparsamen Arbeiter wird in einem Industriezweige, zu dem viele Arbeiter sich drängen, stets verursachen, daß die Lohnskala sinkt. Selbst die Sparsamsten können zuletzt nicht sparsam bleiben, denn ihre Einnahmen werden eben soweit verringert, daß sie mit ihren Ausgaben [die Waage halten].
Kurz – Sparsamkeit macht Sparsamkeit unmöglich. Würde jeder einzige Arbeiter in England der Anweisung der Reformatoren in bezug auf Sparsamkeit folgen und seine Ausgaben halbieren, so würde der Überschuß an Arbeitskraft schnell verursachen, daß die Arbeitslöhne halbiert würden. Und dann würde kein einziger von den englischen Arbeitern sparsam sein können, denn sie müßten notgedrungen ihre verringerten Einnahmen vollkommen verbrauchen. Die kurzsichtigen Sparsamkeitsapostel würden über das erzielte Resultat wohl etwas erstaunt sein. Ihr Fehlgriff würde genau den gleichen Umfang haben wie die Ergebnisse ihrer Agitation.
Wenn ich davon spreche, wie wenig die Menschen, die Hilfe zu bringen versuchen, bedeuten, so möchte ich gern eine bemerkenswerte Ausnahme erwähnen, nämlich das Heim Dr. Barnardos.
Dr. Barnardo ist Kinderjäger. Zuerst fängt er die Kinder ein, wenn sie noch so jung sind, daß sie nicht verhärtet und in dem schlechten sozialen Boden eingewurzelt sind; dann schickt er sie fort, damit sie unter anderen und besseren sozialen Bedingungen aufwachsen. Bis jetzt hat er 13 340 Knaben fortgeschickt, die meisten nach Kanada, und soviel Erfolg gehabt, daß kaum jeder fünfzigste Fall mißglückt ist.
Jeden Tag im ganzen Jahre liest Dr. Barnardo neun solcher kleinen Vagabunden von der Straße auf; man wird hieraus erkennen, wie riesig sein Arbeitsfeld ist. Die andern Menschen, die gerne helfen wollen, können viel von ihm lernen. Er will nicht flicken, sondern spürt soziale Verderbnis direkt an der Wurzel auf. Er holt die Brut des Rinnsteinvolkes aus den verpesteten Höhlen und bringt sie in gesunde, behagliche Wohnungen, wo sie sich zu Männern entwickeln und umbilden kann.
Wenn die andern hilfsbereiten Menschen nur aufhören wollten mit ihrer Spielerei und Pfuscherei, wenn sie nur ihr Pflegeheim und ihre japanischen Kunstausstellungen aufgeben, in ihr West End heimgehen und die Gesellschaftslehre Christi studieren wollten, so würden sie besser geeignet sein für die Arbeit, die sie hier auf der Welt ausführen sollen. Und wenn sie dann an ihre Arbeit gingen, so würden sie dem Beispiel von Dr. Barnardo folgen und sich den Verhältnissen anpassen. Sie würden nicht die Frau, die für dreiviertel Penny das Gros Veilchen verfertigt, mit Sehnsucht nach Schönheit, Wahrheit und Gutem vollpfropfen, sondern versuchen, ihr die Last, die sie zu schleppen hat, etwas zu erleichtern, und sich selbst würden sie nicht mehr mit falschen Vorstellungen vollpfropfen, bis sie wie die Römer ins Bad gehen und alles wieder ausschwitzen müssen. Zu ihrem großen Erstaunen würden sie entdecken, daß sie selbst ein Teil der Lasten sind, die auf einer solchen Frau und auf vielen anderen Frauen und Kindern ruhen, was sie bisher nicht ahnten.