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Man sollte es für unmöglich halten, mitten im Herzen von Kent »Die Frau am Meer« zu finden; aber ebendort fand ich sie in einer einfachen Straße im Armenviertel von Maidstone. Sie hatte keinen Zettel im Fenster, daß sie Zimmer vermietete, und es kostete mich viel Überredung, ehe sie sich dazu bequemen ließ, mich in ihrem Vorzimmer schlafen zu lassen. Am Abend stieg ich in ihre halb unterirdische Küche hinab und plauderte mit ihr und ihrem Mann, der Thomas Mugridge hieß.
Als ich mit ihnen sprach, war es, als verschwände all die furchtbare und verwickelte Maschinerie unserer Zivilisation. Es war, als hätte ich durch Haut und Fleisch hindurch bis in die nackte Seele hineingeschnitten und in Thomas Mugridge und seiner alten Frau das innerste Wesen dieser merkwürdigen englischen Rasse erfaßt. Ich fand hier die Sehnsucht, die die Söhne Albions nach allen Zonen der Erde gelockt hatte; ich fand hier den ungeheuren Mangel an Berechnung, der die Engländer in sinnlose Streitigkeiten und in törichte Kämpfe getrieben hatte, ich fand den Eigensinn und Starrsinn, der sie geschlossenen Auges direkt zu Größe und Macht geführt hat; und ebenso fand ich die ungeheure und unfaßbare Geduld, die die Bevölkerung in den Stand gesetzt hatte, alle Lasten zu tragen, klaglos schwere Jahre hindurch sich abzurackern und gehorsam ihre besten Söhne hinauszusenden, um zu kämpfen und die Erde von einem Ende zum andern zu kolonisieren.
Thomas Mugridge war einundsiebzig Jahre alt, ein unansehnliches Männlein. Wegen seiner Kleinheit hatte er nicht gedient. Er war daheim geblieben und hatte gearbeitet. Seine ersten Begriffe hatten in Verbindung mit Arbeit gestanden. Er kannte nichts als Arbeit. Er hatte all seine Tage gearbeitet, und er arbeitete noch trotz seinen einundsiebzig Jahren. Er stand mit der Lerche am Morgen auf und ging aufs Feld. Er war Tagelöhner, und als Tagelöhner war er geboren.
Frau Mugridge war dreiundsiebzig Jahre alt. Von ihrem achten Jahre an hatte sie auf dem Felde gearbeitet, erst hatte sie die Arbeit eines Knaben, später die eines Mannes geleistet. Sie arbeitete noch, hielt das Haus blitzblank, wusch, kochte und buk, kochte auch für mich und machte mir mein Bett, als ich ins Haus gekommen war, so daß ich mich fast schämte. Nach mehr als sechzigjähriger Arbeit hatte sie nichts, hatte keine andere Aussicht als mehr Arbeit. Und sie war zufrieden. Sie erwartete nichts anderes, wünschte nichts anderes.
Sie lebten einfach. Ihre Ansprüche waren gering – ein halbes Liter Bier, das sie in der halb unterirdischen Küche schlürften, wenn der Arbeitstag beendet war, ein Wochenblatt, das sie sieben Abende hintereinander studierten, und ein bißchen träge, gedankenlose Unterhaltung, ganz mechanisch, wie das Wiederkäuen der Kühe. Von einem Holzschnitt an der Wand blickte eine zarte, engelhafte junge Frau herab; unter dem Bild stand geschrieben: »Unsere künftige Königin.« Und von einer stark kolorierten Lithographie daneben warf eine dicke ältere Dame einen Blick in die Stube, und darunter stand: »Unsere Königin – bei ihrem diamantenen Jubiläum.«
»Je schwerer man für sein Brot arbeitet, desto besser schmeckt es«, zitierte Frau Mugridge, als ich meinte, es wäre bald Zeit, daß sie sich ein bißchen Ruhe gönnte.
»Wir brauchen keine Hilfe«, sagte Thomas Mugridge als Antwort auf meine Frage, ob die Kinder ihnen denn nicht zur Hand gingen.
»Wir werden arbeiten, bis wir fertig sind, Mutter und ich«, fügte er hinzu, und Frau Mugridge nickte eifrig zustimmend mit dem Kopfe.
Sie hatte fünfzehn Kinder in die Welt gesetzt, und alle waren fortgezogen oder gestorben. Aber die »Kleine« wohnte in Maidstone, sie war übrigens jetzt siebenundzwanzig Jahre alt. Waren die Kinder verheiratet, so hatten sie genug mit ihren eigenen Familien und ihren eigenen Sorgen zu tun, wie ihre Eltern vor ihnen.
Wo in der Welt waren die Kinder? Ach, wo waren sie nicht? Lizzie war in Australien, Mary in Buenos Aires, Poll in New York, Joe war in Indien gestorben – so zählte sie sie, die lebenden und die toten, Soldaten und Seeleute und Kolonistenfrauen, zur Belehrung des Reisenden auf, der in ihrer Küche saß.
Sie reichte mir eine Photographie. Ein schmucker junger Mann in Uniform sah mich an.
»Welcher von den Söhnen ist das?« fragte ich.
Sie lachten beide herzlich. Sohn! Nein, Enkel, gerade aus Indien heimgekehrt, Trompeter beim Regiment des Königs. Sein Bruder stand beim selben Regiment wie er. Und so erzählte sie weiter von Söhnen und Töchtern und Kindeskindern; alle waren über den Erdball verstreut und bauten mit am Kaiserreich, während die Alten daheim saßen und auf ihre Weise mit am Reiche bauten.
Aber wie sie haben unzählige englische Frauen ihre Kinder in die Welt hinausgeschickt. Die Frauen ihrer Söhne können das Geschlecht vermehren, aber ihre eigene Zeit ist vorbei. Die zuerst ausgesandten englischen Söhne sind jetzt Australier, Afrikaner und Amerikaner. England hat zulange seine besten Söhne fortgeschickt und die zurückbleibenden so grausam vernichtet, daß für die Mutter, die »Frau am Meer«, nichts blieb, als die langen Abende dazusitzen und die Königsbilder an der Wand anzustarren.
Der richtige britische Handels-Seemann existiert nicht mehr. Der Handelsdienst ist nicht mehr die Vorschule für Seebären wie die, welche unter Nelson bei Trafalgar und am Nil kämpften. Die Kauffahrteischiffe werden hauptsächlich mit Fremden bemannt, die Engländer versorgen sie noch mit Offizieren, ziehen jedoch Fremde in der Back vor. In Südafrika lehren die Kolonisten die Eingeborenen schießen. Die Offiziere begehen Fehler, während das Publikum daheim hysterisch protestiert, und das Kriegsministerium senkt das Niveau durch das Werben von Soldaten.
Wie könnte es anders sein. Der phlegmatischste Brite kann doch nicht hoffen, immer wieder das beste Herzblut des Landes abzapfen zu können, ohne es durch neues zu ersetzen, und doch die Nation zu bewahren. Frau Thomas Mugridge ist in die Großstadt getrieben worden, und sie bringt kaum mehr als ein blutarmes, schwächliches Geschlecht zur Welt, das sich kaum ernähren kann. Die Stärke der englischsprechenden Rasse findet man heutzutage nicht mehr auf der engen kleinen Insel, sondern in der neuen Welt jenseits des Meeres, wo die Söhne und Töchter von Frau Thomas Mugridge wohnen. Die Frau am Meer hat ihre Rolle in der Welt beinahe ausgespielt, wenn sie es selbst auch nicht einsehen kann. Sie muß jetzt sich und ihre müden Lenden eine Weile ausruhen, und wenn sie nicht ihre Zuflucht zum Asyl für Obdachlose und zum Armenhaus nehmen muß, so kommt es nur daher, daß sie diese Schar von Söhnen und Töchtern großgezogen hat, die sie unterstützen, wenn sie alt und schwach wird.