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6.

Ein paar Wochen nach jenem kurzen und von allen Beteiligten längst vergessenen Tischgespräch – (der, von dem die Rede gewesen, hatte sich nicht mehr blicken lassen, und der schöne Monat Mai ging zu Ende) – geschah etwas, was Staatsanwalt Sierlin zum ersten Male ernstlich zu denken gab.

Er stand mit einigen anderen Herren vor dem Gericht im Gespräch – auf seine Straßenbahn wartend –, als ein junger Mensch so auffällig dicht an ihm vorüberging, daß er ihn beinahe streifte. Er mußte auf- und ihm nachsehen. Er stockte in dem begonnenen Satze. Er war gutgelaunt, denn er hatte eben die Todesstrafe gegen einen Raubmörder durchgedrückt, den seine Verteidiger durchaus lebenslänglich im Zuchthaus sitzen sehen wollten. (Er, human, war gegen eine solche »Verlängerung der Todesstrafe«.) Er unterbrach sich, wie gesagt, denn er sah dem nach, der ihn eben fast berührt: es war derselbe junge Mensch, den er vor Wochen in der Nähe seiner Wohnung so oft gesehen. Er trug zwar einen anderen, leichteren und jetzt grauen Anzug, aber die Haltung – die Hände in den Seitentaschen – und der weiche Hut waren unverkennbar dieselben.

Das Herankommen seiner Bahn überhob ihn einer Erklärung vor den anderen Herren, die ihm übrigens kaum zugehört (denn sie stimmten ihm durchaus nicht bei), und er konnte sich nur eben noch schnell verabschieden.

Auch diese neuerliche Begegnung mit dem jungen Menschen – nach Wochen und in einer so ganz anderen Gegend – hätte ihm kaum zu denken gegeben und wäre vergessen, wie alle anderen, wenn er ihn nicht etwa eine Stunde später (denn so lange dauerten Straßenbahnfahrt und Umsteigen) auf der Bank vor seinem Hause hätte sitzen sehen.

Er war derartig überrascht, daß er wie angedonnert stehenblieb. Er traute seinen Augen nicht. Wie kam dieser Mensch hierher? – Vor ihm hierher?! – Er stand da und sah hinüber. Diesmal hätte er sich wohl kaum beherrscht, sondern wäre nach kurzem Überlegen auf ihn zugegangen und hätte sich eine Erklärung für dieses abermalige und so überaus seltsame Zusammentreffen erbeten. Aber er sah ihn, kaum daß er sich von seinem ersten Erstaunen erholt, aufstehen und fortgehen. Die Bank war plötzlich wieder leer – der eben noch dort Sitzende ging die Straße hinunter und verschwand um die Ecke. Er ging so schnell, als wäre er in der Tat verfolgt.

Nur die neue Überraschung hinderte Staatsanwalt Sierlin an sofortigem Nachgehen.

Er betrat sein Haus, war während des Essens ungewöhnlich schweigsam und begab sich sofort nach beendeter Mahlzeit auf sein Zimmer, eine dringliche Arbeit nach angreifendem Tage vorschützend. Dort durfte er, wie er wußte, nie gestört werden.


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