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11.

Die kurze Weihnachtspause war längst vorbei. Die Sitzungen hatten wieder ihren Anfang genommen, und man näherte sich dem Ende des Januar.

Es war, als ob mit dem neuen Jahr eine Wandlung in den Dingen eintreten sollte: Staatsanwalt Sierlin sah seinen Verfolger nie mehr. Er sah ihn weder auf der Straße, noch in der Nähe seines Hauses. Er sah ihn nirgends, so oft er auch nach ihm ausschaute.

Aber er wurde innerlich nicht ruhiger. Im Gegenteil: er dachte immer wieder an diese Sache. Einerseits quälte es ihn, noch immer nicht hinter diese unaufgeklärten Begegnungen und ihren Zweck gekommen zu sein. Andererseits nagte eine geheime Wut an ihm, so hilflos, so rettungslos hilflos diesem Kerl – er nannte ihn nie anders – gegenübergestanden zu haben. Er war der Schwächere – in jeder Beziehung. Er täuschte sich nicht darüber.

In sein ganzes Wesen war etwas Heftiges und Übertriebenes gekommen. Er war immer, wie jener boshafte Lübecker Assessor es erkannt, »etwas zu« gewesen. Jetzt wurde er »allzusehr«. Er ging mit noch längeren Schritten. Er sprach mit noch lauterer und herausfordernder Stimme. Er wechselte in seinen Stimmungen von einer Minute zur anderen. Seine Umgebung zitterte vor ihm – vor seinen Launen, seinem herrischen Wesen, den Ausbrüchen unmotivierter Heftigkeit über jede kleinste Kleinigkeit.

Im Amt gingen seine Anträge stets bis zur äußersten Grenze, die Anwälte legten mehr als einmal die Verteidigung nieder und verließen den Saal.

Man wich ihm aus, wo man nur konnte. Er merkte es und wurde gereizter und gereizter mit jedem Tag.

Es war die letzte Sitzung in der dritten Januarwoche. Ein Fall gegen den Buchhalter eines großen Geschäftes wegen Unterschlagung stand zur Verhandlung.

Er sprach und war mit seiner Anklagerede fast zu Ende, als er durch einen rohen und ungehörigen Zuruf von der Zuschauertribüne aus unterbrochen wurde. Das geschah jetzt öfters, und er kümmerte sich kaum mehr darum. So auch diesmal. Der Vorsitzende griff ein, ließ den Ruhestörer – einen angetrunkenen Strolch – hinausbefördern und drohte mit der Räumung der Tribüne, falls sich der Vorgang wiederholen sollte. Es trat wieder Ruhe ein, und man wartete auf die Fortsetzung oder vielmehr den Schluß des Plädoyers.

Aber Staatsanwalt Sierlin schien den Faden nicht wieder finden zu können. Der kleine Zwischenfall schien ihn doch erregt zu haben. Er blätterte unruhig in den Papieren, die vor ihm lagen. Erst nach einer Weile fand er die Sprache wieder, und alles war erstaunt über das geringe Maß an Strafe, das er dann – nach einer so heftigen Anklage – fast überstürzt beantragte.

Er nahm sich diesmal ein Auto, fuhr sofort nach Hause und ging auf sein Zimmer, wo er sich, ohne gegessen zu haben, einschloß.

Er hatte bei flüchtigem Aufblicken zur Zuhörertribüne ein bekanntes Gesicht gesehen. Es war ein ernstes und verschlossenes, junges Gesicht, dessen Augen in einer anderen Richtung als zu ihm hin gingen. Aber er kannte es. Er kannte es nur zu gut.

Staatsanwalt Sierlin ging über eine Stunde in seinem Zimmer auf und ab.

Wie kam der »Kerl« dorthin ? – Dumme Frage! – Die Tribüne stand jedem Staatsbürger offen.

Also das war der neue Streich, mit dem jener gegen ihn ausholte! – Und wieder, wie gegen seine bisherigen, gegen alle ohne Ausnahme, war er machtlos. Machtlos und hilflos.

Wortkarg saß er mit den Seinen über einem kaltgewordenen Essen; wortkarg und verschlossen blieb er alle nächsten Tage.

Er sah sich nicht mehr um, wenn er auf der Straße war; er sah nicht mehr hinüber zu der leeren Bank, wie so oft. Er wußte ganz genau, daß er ihn von jetzt an nur noch dort sehen würde ...

Er wollte ihn nicht sehen und – mußte es.

Während er sonst fast nie zu den Zuhörern hinaufsah – sie gingen ihn und seine Pflicht nichts an – überflog er sie jetzt mit dem ersten Blick, sowie er auf seinem Platze war. Sah er nicht, was er suchte, wurde seine Rede ruhiger und bestimmter; sah er ihn, verlor sie an Klarheit, an Eindringlichkeit, an Überzeugungskraft, und er fühlte es, mehr noch, als die anderen im Saale es fühlten – die Richter, die Geschworenen, die Verteidiger (die sofort einhakten).

Er ging nie mehr in eine Sitzung ohne den Gedanken: Wird er heute da sein – der Kerl?

Öfters war er es nicht. Aber immer wieder sah er ihn dann, nicht immer auf demselben Platz, aber immer inmitten der anderen Zuhörer – still und bescheiden , ohne zu ihm hinunterzusehen, und ohne besondere Teilnahme, wie es schien. Doch er war da.

Es mußte ein Ende nehmen. Das Recht litt unter der Gegenwart dieses Menschen in diesem Saale. Eines Tages, als er das Gerichtsgebäude verließ, sah er ihn vor sich hergehen. Er hatte ihn bereits vorher gesehen, dort oben, und sein Plädoyer nur mit Mühe zu Ende führen können. Er hatte schlechter gesprochen, unzusammenhängender als je, und war doch besser vorbereitet als sonst in letzter Zeit gewesen. Er war außer sich vor Ärger, vor Zorn, vor Wut.

Er blickte um sich. Unter den Menschen um ihn her war zufälligerweise keiner, den er kannte. Jetzt! –

Er ging ihm nach. Er holte ihn ein. Die Straße war ziemlich leer. Er war neben ihm. Er zitterte so vor unterdrückter Wut, daß er an sich halten mußte, ihn nicht am Arme zu nehmen und gewaltsam am Weitergehen zu hindern.

Er knirschte halblaute Worte hervor, während er so neben ihm herging:

»Das muß ein Ende nehmen! – Verstehen Sie mich? – Das geht nun fast ein Jahr so. Aber es soll so nicht weiter gehen! Hören Sie nicht, was ich Ihnen sage? – Ich spreche zu Ihnen, Sie unverschämter Bengel Sie! – Bleiben Sie stehen! – Bleiben Sie auf der Stelle stehen und hören Sie zu, verstehen Sie mich?...«

Der, neben dem er einherschritt und zu dem er sprach, war weitergegangen und ging weiter, als höre und sähe er ihn nicht. Er hielt die Hände in den Taschen seines Jacketts, und sein Blick war gleichgültig geradeaus gerichtet. Nur schien es, als suche er jetzt mehr die Mitte des Bürgersteiges zu gewinnen, dorthin zu gelangen, wo die Zahl der Vorübergehenden größer wurde.

Staatsanwalt Sierlin sprang plötzlich vor und versperrte ihm den Weg.

Er keuchte:

»Verstehen Sie mich nicht, Sie verdammter Lümmel? – Sie sollen stehenbleiben und mich anhören – hören, was ich Ihnen sage!...«

Jetzt blieb der andere endlich stehen. Er hätte ihn berühren müssen, wäre er weitergegangen. Er ließ einen eisigen Blick an dem vor ihm Stehenden hinauf und wieder hinunter gleiten, bog dann mit einer schnellen Bewegung aus und rief mit einer Stimme, so laut, daß sie von allen in der Nähe Befindlichen gehört werden mußte, laut und in jedem Worte deutlich:

»Belästigen Sie mich nicht weiter! – Oder ich lasse Sie feststellen!«

Die Menschen um sie herum blieben stehen und sahen neugierig auf die beiden hin. Was wollte dieser ältere, augenscheinlich so aufgeregte Herr von diesem so weit jüngeren Menschen mit dem offenen, hübschen Gesicht? – dem jungen, der jetzt weiterging, so ruhig, als sei nichts geschehen, und als habe er nur eine lästige und ungehörige Annäherung von sich abgeschüttelt – was wollte er denn von ihm ? –

Man zerstreute sich erst, unter anzüglichen Bemerkungen, als auch der Ältere kehrtgemacht hatte und verschwunden war.

Staatsanwalt Sierlin war wie betäubt. Sein einziger Gedanke war jetzt nur noch: nicht gesehen, nicht erkannt zu werden... Er bog unwillkürlich in eine der stilleren Nebenstraßen ein. Die Blicke der Zurückbleibenden brannten wie Feuer auf seinem Rücken.

Nun war er allein, so weit er sehen konnte. Plötzlich aber fing er an zu laufen. Er lief durch Straßen, die er nicht kannte, immer weiter, eilte weiter und immer weiter, als würde er verfolgt wie ein Verbrecher.

Nach einer Stunde fand er sich, in Schweiß gebadet und außer Atem, in einem stillen Lokal einer fremden Gegend vor einem Glase Bier und in einer Ecke.

Hätte er Humor besessen (wie sein Freund Eberhardt ihn besaß), so wäre ihm jetzt, als seine Gedanken sich sammelten, das Groteske der eben erlebten Szene zum Bewußtsein gekommen: diese unglaubliche Frechheit, ihn, ihn feststellen lassen zu wollen! – Diese Frechheit, die schon nicht mehr ernst genommen werden konnte, da sie sich in ihrer Ungeheuerlichkeit selbst überschlug. Aber Staatsanwalt Sierlin besaß leider eben keinen Humor, und so beherrschte ihn jetzt nur noch das eine Gefühl: sich lächerlich gemacht zu haben, lächerlich vor anderen und – vor sich selbst. Er war an seiner empfindlichsten Stelle getroffen worden. – Und wenn er erkannt worden war – was dann? – –

Hier kannte man ihn nicht, konnte man ihn nicht kennen. Außerdem war und blieb er fast allein in dem Lokal. Er blieb sitzen und sitzen, ohne die Fähigkeit, sich zu erheben, trank ein Glas nach dem anderen, ohne jede Wirkung, und wußte nicht, wann und wie er nach Hause kam.

Auch Adolf Braun waren Blicke gefolgt. Aber er sah sie nicht. Was kümmerten ihn andere Menschen und ihre Blicke!

Auch er besaß wenig Sinn für Humor. Wenn er ihn je besessen, so war er ihm mit der unbekümmerten Heiterkeit seiner Jugend verloren gegangen. Heute aber war er wieder heiter. Wie schon seit einem Jahre nicht mehr.

Er ging nach Hause und beschloß, den Abend mit Ede zu verbringen – ihn gewissermaßen zu feiern. Denn in ihm war eine reine und große Freude. Das war wieder einmal gelungen! – Es war gerade so geworden, wie er es gewollt. Hoffentlich war sein Feind erkannt worden und nun das Gespräch in seinen Kreisen! –

Wie wütend er gewesen war, dieser Herr Staatsanwalt! – Wie er sich benommen hatte – wie ein schon halb Verrückter! – Und wie er fortgelaufen war, als er sah, was er angerichtet! – Adolf Braun lachte und lachte.

Er fühlte, daß er mit seiner Arbeit ein neues und gutes Stück vorwärtsgekommen war heute – und nun hoffentlich bald zu Ende.

Sie war jetzt so bequem geworden diese Arbeit: kein Aufpassen, kein Warten, kein Nachdenken mehr – er brauchte sich nur einfach in den gutdurchheizten Saal dort oben zwischen die anderen Menschen zu setzen, und schon war sein Gegner außer Fassung gebracht. Das hätte er natürlich schon von allem Anfang an tun können. Aber es hatte nicht in seinem so gut durchdachten Plan gelegen, und daß es besser gewesen war, den Hauptschlag ans Ende zu legen, erkannte er jetzt mit Genugtuung ...

Jetzt nur noch weiter fleißig die Sitzungen besuchen; weiter verstohlene, silberne Händedrücke mit den Aufsichtsbeamten dort, die ihn alle schon kannten und stets Platz für ihn schafften; dann noch ein Zusammenstoß, oder seinetwegen auch noch mehrere, womöglich wieder auf offener Straße – (er war auf jeden gerüstet und vorbereitet) – und das Ende konnte nicht mehr fern sein.

Ede hatte einen lustigen Kumpan an diesem Abend, und sie kamen aus dem Lachen nicht heraus. Aber was die eigentliche Ursache zu seines lieben Freundes Fröhlichkeit war, erfuhr er auch heute noch nicht.


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