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2.

Er fand sie auch am Abend nicht, als er noch, wieder in seinem Arbeitszimmer, lange über das Ganze nachdachte.

Dieser Mensch konnte sich doch nicht etwa in Wirklichkeit einbilden, daß er schuld an seiner Verurteilung gewesen war? – Die Richter hatten ihn auf den Spruch der Geschworenen hin verurteilt – er doch nicht.

Aber solche Menschen kamen oft auf die sonderbarsten Einfälle. (Besonders dann, wenn ihnen Unrecht geschehen war, wie es hier zweifellos der Fall war.)

Er ließ sich die Akten der Anklage wegen Unterschlagung und des Wiederaufnahmeverfahrens: »Fall Adolf Braun« heraussuchen.

Das dauerte einige Tage.

Sie besagten ihm nichts Neues:

Ein junger Kaufmann, Adolf Braun, zweiundzwanzig Jahre, guten Leumunds, nicht vorbestraft, war zu anderthalb Jahren verurteilt und nach einem Jahre, im Wiederaufnahmeverfahren, in dem sich seine Unschuld erwies, nachträglich freigesprochen. Nun also: damit war er ja rehabilitiert.

Staatsanwalt Sierlin machte sich einige private Notizen in bezug auf Person und Daten und schickte die Akten zurück.

Ja, warum verfolgte er gerade ihn? – Was hatte er ihm getan? – Er hatte doch nur seine Pflicht erfüllt und sogar, bei der Ungeklärtheit des Falles, eine besonders niedrige Strafe beantragt. Daß er einfach das Opfer eines Justizirrtums (wie so manche andere) geworden war, das sah so ein Mensch, dem das erlittene Unrecht die Sinne verwirrt hatte, natürlich nicht ein.

Aber er haßte ihn offenbar und verwandte eine ganz unglaubliche Menge an Zeit und Geld einzig und allein darauf, ihm immer wieder und wieder zu begegnen.

Allein dieser Haß hatte sich doch erst ein volles Jahr – er sah in seine Notizen – nach seiner Freisprechung geäußert, und ein so hartnäckiger und unverständlicher Haß mußte sich doch noch aus einem anderen und besonderen Grunde gerade gegen ihn richten? –

Hatte er, dieser Mensch, wirklich annehmen können, er solle seinen Freispruch beantragen? – Das tat er nur, wenn es absolut nicht anders ging, wenn felsenfeste und unumstößliche Beweise für die Unschuld eines Angeklagten vorlagen, und wenn er selbst an diese Unschuld glaubte.

In diesem Fall aber – – –

Plötzlich befand sich der Staatsanwalt Sierlin in seinen Meditationen nicht mehr auf ganz so sicherem Boden. Er hatte, soweit er sich zu erinnern vermochte – (aber der Fall lag so lange zurück, und es war ein so alltäglicher und uninteressanter Fall gewesen) – er hatte angesichts der eigenen Verteidigung des Beschuldigten (die keine war) und der dieses blödsinnigen Anwalts (die eher eine Belastung war) ihn zwar nicht für schuldig, aber auch nicht für unschuldig gehalten. So war es wohl gewesen ...

Aber was ging denn ihn das an: die Entscheidung über Schuldig und Nichtschuldig lag nicht bei ihm, sondern bei den Geschworenen und Richtern. Sie hatten auch hier das letzte Wort gesprochen.

Was also – er fragte es sich immer wieder – was also suchte dieser Jüngling gerade in ihm das Objekt für seinen Verfolgungswahnsinn, um sich eine (übrigens ganz aussichtslose) Genugtuung zu verschaffen, eine Genugtuung, die ihm zudem doch durch den Freispruch im Wiederaufnahmeverfahren schon geworden war? –

Aber er selbst war nun einmal das unschuldige Opfer geworden, und es war höchste Zeit, daran zu denken, wie er sich diese unaufhörlichen Belästigungen (die nachgerade anfingen unerträglich zu werden) ein für alle Male vom Halse schaffen konnte (denn daß sie mit dieser heutigen Begegnung auf der Bank noch nicht zu Ende waren, das sagte ihm wieder ein sicheres Gefühl). Ein Ende mußten sie nehmen. Aber wie ? –

Der Jurist in ihm dachte natürlich zunächst an Schutz durch die Gesetze. Aber welche Handhabe boten diese zu einem Vorgehen? – Wenn er sich das fragte, mußte er sich selber sagen: eigentlich gar keine. Denn welche strafbare Handlung lag vor? – Keine. Dieser Mensch tat ihm nichts (einstweilen noch nicht). Er ging ihm in letzter Zeit sogar aus dem Wege. Er war nur da. Immer da. An den unmöglichsten Orten; zu den unvorhergesehensten Zeiten.

Das war nicht nur störend und lästig, es ging allmählich auch auf die Nerven.

Er konnte sich an die Polizei wenden, sagen, daß sich seit längerer Zeit in der Nähe seines Hauses eine verdächtige Persönlichkeit herumtreibe, und bitten, auf sie ein wachsames Auge zu haben. Aber diese Angaben wären einmal viel zu allgemein gehalten gewesen und dann auch gar nicht mehr zutreffend. Denn der, um den es ging, mied seit Monaten schon diese Gegend zur Abwechslung einmal wieder, und dann glaubte er selbst nicht (und hatte es nie geglaubt), daß man es bei ihm mit einem Dieb oder Einbrecher zu tun hatte. Zudem konnte die Polizei nicht Tag und Nacht einen ihrer Leute vor sein Haus stellen.

Wenn er nur wenigstens das geringste Zeichen von Abnormität zeigen wollte! – Dann hätte man ihn eher greifen können. Aber nein: er warf weder wütende Blicke um sich, noch murmelte er unverständliche Worte vor sich hin. Er hatte ihn bisher nie auch nur angesehen (bis auf dies eine Mal), geschweige denn angesprochen. Er trat ihm nie mehr in den Weg; er ging ihm aus dem Wege. Er war – Staatsanwalt Sierlin mußte es zugeben – die Ruhe, die Sicherheit, die Unbekümmertheit und die Unerschütterlichkeit selbst. Das war es, was ihn so außer Fassung brachte, ihn, der fühlte, wie er allmählich selbst seine Ruhe verlor.

Nein, mit Gewalt war dieser Gleichgültigkeit und Passivität nicht beizukommen.

Wenn er ihn nur ein einziges Mal allein, ganz allein wieder träfe! –

Aber wo? –

Sollte er ihn in seiner Wohnung aufsuchen ? – Das verbot ihm nicht nur sein Stolz, sondern es wäre auch mit seiner amtlichen Stellung nicht zu vereinbaren gewesen (wie er glaubte). Und dann war er gewiß, ihn nicht zu treffen (solche jungen Leute, wie dieser, waren nie zu Hause); oder, wenn er ihn traf, abgewiesen zu werden.

Ihm schreiben? – Ihn so auf seinen Irrtum aufmerksam machen? – Er würde nie eine Antwort bekommen und sein Brief – ein privater Brief! – in Hände geraten, die ihn gegen seine Person ausspielen konnten. Er wußte, wie vorsichtig er in seiner Stellung sein mußte.

Er konnte den Spieß umkehren und nun seinerseits eine regelrechte Überwachung und Verfolgung ins Werk setzen. Persönlich fehlte ihm dazu die Zeit (über die der andere so schrankenlos verfügte) und zu einer Überwachung durch einen Privatdetektiv die Mittel. Diese Leute kosteten Geld (viel Geld, wie er nur zu gut wußte), waren durchaus nicht sicher in bezug auf ihre Diskretion und dann – was würden sie in diesem Falle erreichen ? – Nichts. Denn dieser Mensch – sein Gefühl sagte es ihm immer wieder – war alles andere als ein Verbrecher und gerichtlich unerreichbar.

Staatsanwalt Sierlin erschrak plötzlich vor seinen eigenen Gedanken. Wohin führten sie ihn ? – Alles das war ja völlig undiskutierbar und zeigte nur wieder, daß er dieser Sache eine Bedeutung beilegte, die ihr – wie er sich bei besonnenerem Nachdenken sagen mußte – in keiner Weise zukam.

Er wollte ruhig die nächste Gelegenheit zu einer nochmaligen Annäherung abwarten, zu einer anderen als dieser ersten –(in der Erinnerung an sie und die erlittene Beleidigung stieg ihm noch das Blut zu Kopf) – und dann diesem armen und nicht mehr ganz zurechnungsfähigen jungen Menschen mit möglichster Freundlichkeit (aber auch Bestimmtheit) auseinandersetzen, wie sehr er sich irre. Dann würde jener seiner Wege gehen, und die Sache war in aller Unauffälligkeit erledigt. Ja, das wollte er tun und so allein mit ihr fertig werden.

Von dem Wege seiner Pflicht aber sollte ihn dieser Mensch mit seinen Wahnideen auch nicht einen Fußbreit abbringen. Er würde sie weiter tun, wie er sie bisher getan: ein Schützer des Rechts, ein Verfolger des Unrechts!

Er stürzte sich wieder in seine Arbeit.

Aber er war reizbar geworden, launisch und schwer mehr zu ertragen. Die Seinen zu Hause hatten zunächst darunter zu leiden; dann die Angeklagten vor Gericht.

Man schüttelte mehr und mehr den Kopf über ihn.


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