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4.

Er nahm sich vor, im Anfang recht liebenswürdig zu sein und erst im Verlaufe des Verhörs (wenn es nötig sein sollte) andere Saiten aufzuziehen.

Daher lud er den jungen Mann, der mit höflicher, aber nicht unterwürfiger Verbeugung eingetreten war und nun vor ihm stand, mit einer Handbewegung ein, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Es geschah zwanglos.

Die Präliminarien waren schnell erledigt, und Frage und Antwort begann:

»Sie wurden vor etwa drei Jahren unschuldig verurteilt, im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen.« (Unterdrücktes, taktvolles Bedauern, ja – fast menschliche Teilnahme an schwerem Geschick).

»Jawohl.«

»Der Herr, mit dem Sie auf der Straße ein Renkontre hatten, ist derselbe, der in Ihrem Prozeß in seiner Eigenschaft als Staatsanwalt die Anklage gegen Sie vertrat. Sie kennen ihn also?«

»Natürlich.« (Gleichgültig.)

»Herr Staatsanwalt Sierlin behauptet nun, daß Sie ihn seit einiger Zeit, nein, seit längerer Zeit schon – hm – verfolgen...«

»Verfolgen!« (Erstaunen.)

Dann sehr höflich:

»Und worauf gründet der Herr seine Annahme?«

Kleine Pause.

»Darauf, daß er Ihnen ungewöhnlich oft und an Orten begegnet, wo ein zufälliges Zusammentreffen nicht in Frage kommen kann.« (Ein ganz wenig schärfer.)

»An welchen Orten zum Beispiel?« (Wieder verwundert.)

Blättern in den Notizen:

»Vor seinem Hause zum Beispiel.«

Noch größeres Erstaunen im Ton: »Vor seinem Hause? – Aber ich weiß ja gar nicht, wo der Herr wohnt.«

Noch immer höflich, wenn auch wieder eine kleine Nuance schärfer:

»Sie sollten in der Tat nicht wissen, wo Herr Staatsanwalt Sierlin wohnt? – Wo Sie doch so oft auf der Bank vor seinem Hause gesessen haben?« (Vorort und Straße wurden genannt.)

»So? – wohnt er dort? – Ich wußte es nicht.«

(Kühl.) »Sie kennen die Gegend?«

»Mag sein. Ich mache öfters Spaziergänge in die Umgegend und setze mich, wenn ich müde bin. Ich mußte meine Gesundheit wiederherstellen.« (Ein Blick auf die kräftige Gestalt, in das gebräunte Gesicht und der Gedanke auf der anderen Seite: Nun, das ist dir ja bereits vortrefflich gelungen.)

Wieder eine kleine Pause.

»Sie haben keine Beschäftigung?«

»Zurzeit nicht. Es ist sehr schwer, Arbeit zu finden, wenn man gesessen hat ...«

»Aber – aber, Sie sind doch rehabilitiert. Völlig rehabilitiert ...«

Ein bitteres Lächeln:

»Trotzdem. Die Menschen glauben doch, daß man – –«

Diesmal wurde die Pause peinlich.

»Aber Ihre Einkünfte erlauben es Ihnen dennoch, zu leben!«

»Nein. Ich habe keine Einkünfte. Ich habe eine kleine Erbschaft gemacht und verwende sie dazu, wieder arbeitsfähig zu werden...«

(Ein Griff in die Brusttasche, wie nach den gewünschten Beweisen.)

Höfliches Abwinken:

»Aber bitte. Wir glauben Ihnen doch so...«

Dr. von Wolfradt dachte nach. Er schwieg wieder.

So ging es nicht weiter.

Dann beugte er sich über den Tisch, versuchte den Blick seines Gegenübers vertrauensvoll mit dem seinen zu fangen und sagte, mit leiser Überredung in der Stimme:

»Wir sind doch hier, um uns zu verständigen. Es ist immerhin möglich, wenn auch kaum wahrscheinlich, daß der Herr Staatsanwalt sich irrt. Alles, was wir wollen, ist doch nur, eine Aufklärung von Ihnen zu erlangen, weshalb...«

Er fand nicht gleich weiter.

Aber die Gegenfrage war schon da. Sie klang wieder ganz unschuldig und wie erstaunt:

»Aufklärung ? – Worüber?....«

»Ich sagte es schon einmal: Aufklärung darüber, wie Sie dazu kommen, den Herrn, sozusagen, auf Schritt und Tritt zu verfolgen...«

Das Erstaunen in dem offenen Gesicht wurde größer.

»Verfolgen?« – – –

»Ja, verfolgen! – Sie sind im Theater, wenn der Herr Staatsanwalt in ihm ist, und sitzen eine Reihe vor ihm. Sie sind auf der Zuhörertribüne, wenn er plädiert ...«

»Ich gehe selten ins Theater, weil mir die Mittel dazu fehlen; ich habe den Herrn dort nie gesehen. Und in die öffentlichen Gerichtsverhandlungen zu gehen hat, soviel ich weiß, jeder unbescholtene Staatsbürger – und der bin ich doch wieder – das Recht ...«

»Aber immer gerade dann, wenn der Herr Staatsanwalt Sierlin plädiert?

»Ich bin auch oft da, wenn der Herr nicht plädiert. Ich habe ja nichts zu tun ...«

Dr. von Wolfradt sah wieder in seine Notizen. Er wollte und durfte die Geduld nicht verlieren.

»Sie waren letzten Sommer in einem Ostseebad. Ende Juli. Sie reisten an dem Tage ab, an dem der Herr Staatsanwalt dort ankam? ...«

Jetzt kam ein schwaches Lächeln in die Züge des Verhörten.

»Wenn ich wirklich abgereist bin, als der Herr eintraf, so sieht das doch wohl eher einem Ausdemwegegehen als einer Verfolgung ähnlich ...«

Dr. von Wolfradt biß sich auf die Lippen. Aber er beugte sich noch weiter vor und sagte:

»Sie haben, etwa acht Tage vorher, kurz vor dem Herrn, eine Fahrkarte nach Kiel gelöst und sind dann nicht abgefahren ?...«

Das Lächeln wurde fast belustigt.

»Ich? Eine Fahrkarte gelöst? – Nach Kiel?«

Dann ein Achselzucken, als sei es unmöglich, auf solchen Unsinn auch nur einzugehen.

Der Verhörende hatte noch mehr Fragen vor sich. Er wollte es noch nicht aufgeben.

Aber zu seinem größten Erstaunen sah er, wie der junge Mann vor ihm plötzlich aufstand und den Stuhl von sich schob. Seine Stimme hatte auf einmal einen ganz anderen Klang.

»Ich verstehe nichts. Ich weiß nicht, was diese Fragen bedeuten sollen. Sollte aber etwas gegen mich vorliegen, so ersuche ich, mich in Anklagezustand zu versetzen und mich sogleich verhaften zu lassen. Ich bin mir keines Unrechts bewußt. Aber – « hier wurde die Stimme bitter – »ich war ja schon einmal in einer solchen Lage...«

Dr. von Wolfradt war ebenfalls, ohne es zu wissen, aufgestanden. Er war so überrascht, daß er erst keine Worte fand. Was sollte er davon denken? –

Entweder log ihn dieser junge Mensch mit dem offenen, ehrlichen Gesicht in einer geradezu hahnebüchenen Weise an, war sein ganzes Auftreten die größte Unverschämtheit, die ihm jemals vorgekommen, oder – oder es war auf der Gegenseite etwas nicht in Ordnung... Einerlei: zu einem Skandal durfte es auf keinen Fall kommen ... Gerade der sollte vermieden werden, und man war auf dem besten Wege dahin.

Er lud daher mit höflicher Bewegung erneut zum Niedersitzen ein:

»Aber! ... Verhaftung? – Ich bitte, davon kann doch keine Rede sein ... Ich kann immer nur wiederholen, daß unser Wunsch einzig dahin geht, Licht in diese Sache zu bringen. Es scheint fast ...« als sähe Herr Staatsanwalt Sierlin zu schwarz, war er im Begriff zu sagen.

Aber er unterdrückte es glücklicherweise noch rechtzeitig genug.

Er sagte so freundlich, wie nur möglich (fast mit einem Unterton herzlichen Bedauerns):

»Sie vermögen uns also wirklich nicht zu helfen ?« Der Ausdruck in den Augen gegenüber wurde direkt treuherzig.

»Ich bedaure sagen zu müssen, daß ich in der Tat nicht weiß, was der Herr von mir will. Ich hatte ihn nicht gesehen, als er auf mich zutrat und mich an der Brust packte. Da mußte ich mich natürlich meiner Haut wehren ...«

Ebenso wurde noch hinzugefügt:

»Wenn ich gewußt hätte, daß es der Herr war, hätte ich nicht so derb zugeschlagen. Aber ich sah ihn erst gar nicht ...«

Dr. von Wolfradt hatte nur noch eines zu tun: seine Pflicht zu erfüllen. Es wurde ihm nicht leicht, zu sagen, was er sagen mußte.

Er wurde wieder ganz amtlich:

»Es ...es scheint festzustehen, daß Sie nicht der Angreifer waren. Sie können Strafantrag stellen ...« Pause. Dann höflich:

»Und worauf müßte der lauten?«

»Auf – auf tätliche Beleidigung ...«

Erneutes Nachdenken. Dann:

»Ich verzichte darauf. Der Herr hat offenbar in einem Anfall plötzlicher Geistesgestörtheit gehandelt ...

Adolf Braun erhob sich wieder.

Bei dem leisen, fast unmerklichen Lächeln, das bei diesen seinen letzten Worten über sein Gesicht lief – einem ganz anderen Lächeln als vorher – wußte Dr. von Wolfradt mit unbezweifelbarer Deutlichkeit, daß er die ganze Zeit über schmählich zum Narren gehalten worden war.

Aber nun – nach diesem großmütigen Verzicht – war es zu spät (und auch wohl am besten so). Er fühlte nur: nie war ein Verhörter so unangreifbar, nie war er so hilflos gewesen.

Er konnte nur noch auf die Frage:

»Bin ich entlassen?« bejahend mit der Hand winken.

Der Verbeugung, mit der er unwillkürlich die des so Entlassenen erwiderte, wurde er sich erst bewußt, als es ebenfalls zu spät war, und sein Ärger wurde dadurch nicht geringer.

Es blieb ihm nur noch übrig, sich selbst ein Urteil zu bilden. Er tat es.

Er faßte es in die zwei Worte zusammen, die er hervorstieß:

»Alle Achtung!« –


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