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Das Urteil lautete auf anderthalb Jahre Gefängnis. Eines hatte er abgesessen, als sich seine Unschuld herausstellte. Der wirkliche Täter wurde entdeckt. Er war geständig. Ein Wiederaufnahmeverfahren wurde eingeleitet. Wie es nicht anders möglich war, wurde Adolf Braun in ihm freigesprochen und mit den paar üblichen Phrasen des Bedauerns entlassen.
Er stand auf der Straße.
Seine Eltern waren beide in diesem Jahre gestorben. Er hatte sie kaum mehr gesehen – seinen Vater zuletzt, als er kam, ihm den Tod der Mutter zu melden, der er dann bald nachfolgte. Sie hatten nie an ihrem Sohne gezweifelt, aber sie waren im Elend und mit gebrochenem Herzen dahingegangen.
Er stand auf der Straße. Die Verwandten, die er noch hatte, empfingen ihn zwar, aber so, daß er nicht wiederkam. Er war ja zwar rehabilitiert, aber er war doch »dort« gewesen. Seine Freunde waren in alle Winde verstreut, denn sie waren alle jung, jung wie er es – gewesen war.
Das furchtbare Jahr begann, in dem jeder einzelne Tag ein neuer und aussichtsloser Kampf um das nackte Leben war. Er hatte im Gefängnis eine Bekanntschaft gemacht: Eduard Pritzow. Nicht ganz so unschuldig wie er, aber nicht schlimmer als leichtsinnig und skrupellos. Sie fanden sich in der Freiheit wieder und teilten getreulich Elend und Hunger, alle Enttäuschungen und jede Art von Erniedrigung dieses Jahres – von dem bedauernden Achselzucken an bis zu den billigen und leeren Trostworten, halfen sich, so gut oder so schlecht es ging, mit dem Wenigen aus, was sie gelegentlich verdienten und wurden so Freunde. Es war Eduard Pritzows Anhänglichkeit und derber Humor, der Adolf Braun in diesem Jahre aufrecht und vor dem letzten zurückhielt.
Nein! – Was ihn in Wirklichkeit aufrecht hielt, was ihn in dem einen Jahre hinter den Mauern und diesem anderen in der fast noch schlimmeren Freiheit, in den endlosen Stunden des Trübsinns, der Menschenverachtung, der Verzweiflung allein noch aufrecht hielt, war ein ganz anderes – etwas, was kein Mensch wußte oder auch nur ahnte.
Denn der junge Adolf Braun wurde in diesen beiden Jahren ein anderer Mensch. Richtiger wohl: es erwachte in ihm jene Seite seines Charakters, die sich bei ihm schon in früher Jugend gezeigt, zu ihrer ganzen Stärke; bemächtigte sich seines Wesens bis in die letzten Gründe seiner Seele – so sehr, daß sie eins mit ihm wurde wie seine Hand, sein Auge, das Herz in seiner Brust.
Ein Unrecht war geschehen. Ihm war es geschehen. Jedes Unrecht mußte gesühnt werden. Auch dieses. Die Sühne lag bei ihm. In seine Hand war sie gelegt.
Aber an wem sollte sie sich vollziehen, diese Sühne? – Der Mensch, der ihn verderben wollte, um sich zu retten (und dem es gelungen war, ihn zu verderben, ohne sich doch zu retten), saß nun statt seiner dort, wo er gewesen. Die Richter, das Gericht – sie bildeten mit den Geschworenen gleichsam eine unpersönliche und daher unangreifbare Masse. Sie alle waren es ja auch eigentlich nicht gewesen, die ihn verurteilt hatten: sie hatten nur auf Befehl, oder doch unter der direkten Einwirkung dieses langen, hageren Menschen mit dem zerfetzten Gesicht, den harten Augen, der Hakennase und der scharfen Stimme gehandelt, dieses Menschen, der selber nicht glaubte, was er sagte, der ihn gehaßt hatte, er wußte selbst nicht warum, und den er jetzt wieder haßte – weit, weit mehr als jener oder irgendein anderer Mensch zu hassen überhaupt imstande sein konnte.
Der allein war der Schuldige. Er allein hatte ihn ins Unglück gestürzt. An ihm allein mußte sich die Sühne vollziehen.
Und sie würde vollzogen werden! –
Langsam, in den zahllosen Stunden schlafloser Nächte in einsamer Zelle; langsam in vielen, vielen untätig-schleichenden Tagen des Hungers und der Verzweiflung entstand sein Plan; reifte heran, wuchs und wuchs, gewann Gestalt.
In dem ersten Jahr nach seiner Entlassung war an seine Ausführung nicht zu denken. Aber sein Plan wurde nur aufgeschoben; aufgegeben nicht eine Minute.
Er mußte warten und er wartete. Eine Verwandte lebte ihm noch – auswärts, hochbetagt und wohlhabend. Er wußte, daß es ebenso zwecklos gewesen wäre, sich bei Lebzeiten an die Geizige zu wenden, wie er sicher war, nach ihrem Tode einer von den Verwandten zu sein, unter die ihre Erbschaft nach ihrem letzten Willen aufgeteilt werden würde.
Er täuschte sich nicht. Etwa neun Monate nach seiner Entlassung starb sie. Zwei Monate später befand er sich im Besitz des ihm zugefallenen Erbteils – nicht ganz viertausend Mark.