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8.

Justizrat Eberhardt saß an dem Schreibtisch in seiner Wohnung – beschäftigt, ein Schreiben von zarter Hand zu beantworten (Einladung zu heute abend zu einem kleinen, verschwiegenen Souper), als ihm sein Diener einen Besuch meldete: Staatsanwalt Sierlin.

Er überdeckte ärgerlich den unvollendeten Brief, kam aber dem Eintretenden mit gewohnter Liebenswürdigkeit entgegen. Seine scharfen Augen bemerkten sofort die Veränderung, die der letzte Monat in dem Gesicht hervorgebracht hatte. Er sah das Verzerrte in dem Lächeln, das Unsichere in den flackernden Augen, das Fahrige in den Bewegungen der Hände.

Aber er sagte nichts. Er wartete ab. »Verzeih, Eberhardt, wenn ich dich nochmals mit dieser – äh – dieser blödsinnigen Affäre belästige ...« Der Justizrat machte keinen Versuch, ein gewisses fragendes Erstaunen in seinem Blick zu unterdrücken.

»Du erinnerst dich ... dieser Kerl ... der mich ver ...« Ganz plötzlich sprang sein Besucher auf, ergriff ihn beim Arm und zog ihn zum Fenster.

Mit einer völlig veränderten, einer heiseren und kaum mehr beherrschten Stimme hörte der Justizrat ihn weiter sagen:

»Er ist da ... Dort unten steht er! ...«

Er sah hinaus:

»Wo? – Ich sehe niemanden ...«

Die Stimme neben ihm wurde flüsternd, und es lag jetzt in ihr nichts als eine nackte Angst:

»Ich sage dir, er ist da! – Er steht dort unten und wartet auf mich: er ist wieder hinter mir her...«

Jetzt wußte Justizrat Eberhardt, woran er war und was er zu tun hatte. Er versuchte einen heiteren Ton in seine Antwort zu legen, als er seinen Freund vom Fenster zurückzog.

»Wenn er da ist, werden wir ihn fassen.– Komm!...«

Er ging ihm schnell voraus, betrat den Flur und half ihm in den Pelz, worauf er sich selbst zum Ausgehen fertigmachte. Der andere folgte wie willenlos.

Auf der Straße fragte er leichthin:

»Nun, lieber Sierlin, wo ist denn dein sogenannter Verfolger?«

Es war weit und breit kein Mensch zu sehen.

Nur ein Auto glitt zwischen ihnen und den kahlen Bäumen des Tiergartens hin und verschwand in der nächsten Sekunde.

»Aber er war eben noch da, als ich zu dir kam...« Der Justizrat meinte begütigend:

»Weißt du, Sierlin, laß uns noch eine halbe Stunde einen Gang durch den Park machen. Die frische Luft wird uns beiden guttun.«

Sie gingen schweigend über den Damm und auf den Wegen drüben weiter.

Es war der Justizrat, der allein sprach. Er fragte nicht. Er sprach von anderem, Fernliegendem, als habe er den Zweck des Besuches ganz vergessen. Er erhielt nur kurze und nichtssagende Antworten von dem düster neben ihm Hergehenden. Sie waren nun an einem der Teiche und schritten an ihm entlang. Seine Oberfläche war mit einer leichten Eiskruste bedeckt, die das dunkle Wasser überall durchbrach. Die kahlen Bäume gaben den Durchblick nach allen Seiten hin frei. Alle Wege lagen verlassen da. Sie waren bisher nicht mehr als drei Menschen begegnet.

Plötzlich fühlte sich Justizrat Eberhardt krampfhaft am Arme gepackt und festgehalten. Die heisere Stimme neben ihm flüsterte:

»Dort – dort drüben auf der Bank – dort sitzt er!« Auf einer der Bänke am jenseitigen Ufer des Sees saß eine Gestalt – wie es schien, die eines noch jungen Mannes. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, denn es war in den auf die Kniee gestützten Händen vergraben. Er saß regungslos. Da er bei dieser Kälte nicht eingeschlafen sein konnte, mußte er tief in seine Gedanken verloren sein. Er trug, soweit es von hier aus erkennbar war, eine Art Winterjoppe und braune Lederhandschuhe an den Händen. Der Justizrat war in der Tat erstaunt. Unwillkürlich ebenso leise, als könne er gehört werden, fragte er:

»Bist du ganz sicher, daß er es ist?«

Der Griff um seinen Arm lockerte sich. Er hörte die heisere Stimme wieder, zitternd jetzt vor unterdrückter Wut: »Sicher? – Ganz sicher! – Er ist uns nachgegangen...«

Nachgegangen? dachte er. – Es war absolut unmöglich. Sie waren seit einer halben Stunde kreuz und quer durch den Park gewandert, hatten eben noch kehrtgemacht, waren öfter stehengeblieben, hatten sich umgesehen – kein Mensch war ihnen gefolgt. Zudem: wie sollte der vermeintliche Verfolger plötzlich so schnell dort hinüber gelangt sein, wo er jetzt saß, das Gesicht in den Händen?

Er äußerte seine Bedenken.

»Nein!« – erhielt er zur Antwort, »nein, du kennst ihn nicht. Aber jetzt... jetzt...« Staatsanwalt Sierlin machte Miene, hinüberzueilen.

Aber er wurde zurückgehalten:

»Damit er dir wieder davonläuft, wenn er dich sieht. Er hat jüngere Beine als du. Nein, laß mich mit ihm sprechen. Mich kennt er nicht. Bleibe ruhig hier. Gehe unterdessen hier, oder besser noch dort hinter den Büschen, auf und ab, und warte, bis ich wiederkomme!«

Der Justizrat war fort, ehe er noch eine Antwort erhielt. Mit kurzen und schnellen Schritten eilte er den Weg hinab, überschritt den eisernen Steg über den See und ging auf die Bank drüben zu, wo die Gestalt noch immer in unveränderter Haltung saß. Dicht bei ihr stand er still. Dann trat er vor sie hin. Der junge Mann sah auf.

Justizrat Eberhardt sah in ein junges, bis auf einen schwachen Schnurrbart glattrasiertes, gebräuntes Gesicht mit hellbraunen, kaum erstaunt zu ihm aufschauenden Augen.

Es gefiel ihm, dies Gesicht, es gefiel ihm auf den ersten Blick. (Es gefiel ihm weit besser als das seines Freundes.)

Mit dem werde ich leicht fertig werden, dachte er, ein einfacher, netter junger Mensch ...

Laut sagte er, indem er sich neben ihm setzte und leicht die Hand erhob, als wolle er sie im nächsten Augenblick auf den Arm des anderen legen – laut sagte er mit seiner weichen Stimme, dieser berühmten Stimme, mit der er sich in alle Herzen (und besonders in die jungen des anderen Geschlechts) einzuschmeicheln verstand, der Stimme, welcher so leicht niemand widerstand:

»Mein lieber, junger Freund, ich möchte ein Wort mit Ihnen sprechen. Da es aber wohl noch zu kalt ist, um hier länger zu sitzen, haben Sie gewiß die Güte, mit mir ein Stück auf und ab zu gehen ...«

Er stand auf.

Der junge Mann tat das gleiche. In seine Augen trat nun doch ein Ausdruck des Fragens.

Aber er sagte nur, indem er jetzt den Hut zog und sich höflich verneigte:

»Dann gestatten Sie mir wohl, daß ich mich Ihnen zuerst vorstelle: mein Name ist Adolf Braun.«

Justizrat Eberhardt war dafür bekannt, daß ihn so leicht nichts in der Welt außer Fassung brachte. In diesem Moment war er es fast. Jedenfalls war er sich nicht sofort darüber klar, ob das, was er eben gehört, eine Höflichkeit oder eine bodenlose Impertinenz war. Er beschloß, es einstweilen als erstere anzunehmen, und sagte daher, seinen Hut leicht mit dem Finger berührend, aber unwillkürlich seine kleine Gestalt in die Höhe reckend, seinerseits leichthin: »Justizrat Eberhardt. – Und nun... wenn es Ihnen recht ist...«

Er machte eine einladende Bewegung den Weg hinab mit der Hand. Bevor sie gingen, nahm der andere mit einer schnellen Bewegung den Platz zu seiner Linken ein (ganz, wie es sich für einen Jüngeren gehörte).

Sie gingen nebeneinander her.

Die weiche Stimme begann wieder:

»Ich habe nämlich einen Freund, einen alten Freund, den Sie ebenfalls kennen. Zwischen Ihnen beiden besteht scheinbar ein kleines Mißverständnis, das in Ihrem beiderseitigen Interesse aufklären zu dürfen ich mich aufrichtig freuen würde. Mit einigem guten Willen wird es sich in kurzer Zeit...«

Er hielt inne und überlegte, wie er fortfahren sollte.

Als er wieder einsetzen wollte, hörte er dieselbe ruhige und höfliche Stimme, die sich ihm eben vorgestellt hatte, sagen:

»Darf ich fragen, Herr Justizrat, von wem Sie sprechen?« Wieder war Justizrat Eberhardt nahe daran, verblüfft zu sein. Trieb dieser junge Mensch sein Spiel mit ihm ? – War das Naivität oder Frechheit? – Es war stark, das da eben.

Aber er wollte seinen Humor nicht verlieren und begann daher wieder. Er sprach jetzt indem überlegenen und selbstsicheren Ton, in dem er früher mit seinen Klienten gesprochen, wenn sie versuchten, auch ihn anzulügen, in diesem mit leichter Ironie gefärbten Ton:

»Natürlich dürfen Sie fragen. Soviel Sie wollen. Aber wozu? Sie wissen so gut wie ich, von wem die Rede ist. – Wir wissen beide, daß Sie vor ein paar Jahren unschuldig verurteilt, dann freigesprochen wurden. Das macht einen Menschen, einen so jungen Menschen, wie Sie es sind, bitter. Er bildet sich ein, ungerecht ins Unglück gestoßen zu sein – absichtlich ungerecht. Er sucht nach dem Gegner, wirft auf ihn seinen ganzen Haß und verfällt gewöhnlich auf den Unrechten. Wie Sie in Ihrem Falle...«

Der neben ihm Hergehende hörte mit tadelloser Höflichkeit zu. Ohne zu unterbrechen, hatte er seinen Worten gelauscht, den Kopf etwas seitlich zu ihm hingeneigt, als solle ihm kein einziges entgehen. Jetzt, wo er schwieg, fragte er ruhig und jedes Wort deutlich betonend:

»Und auf wen sollte ich meinen ganzen Haß geworfen haben?«

Sie blieben nicht stehen, sondern gingen weiter. Der Justizrat war nicht der Mann, sich von einem Menschen an die Wand drücken zu lassen. Er sagte kurz, und seine Stimme klang jetzt scharf:

»Auf den Staatsanwalt in Ihrem Prozeß, einen alten Freund von mir, wie ich schon sagte!«

Da er keine Antwort erhielt, fuhr er in gleichem Tone fort:

»Sie werden kaum behaupten wollen, daß Sie Herrn Staatsanwalt Sierlin nicht kennen?...

Die Antwort verriet nicht das geringste Interesse. Eher eine gewisse Gleichgültigkeit.

»Ich kenne den Herrn Staatsanwalt... von damals her... flüchtig... vom Ansehen...«

»Nein,« sagte Justizrat Eberhardt, »nein, mein junger Freund, Sie kennen ihn nicht nur flüchtig, sondern ganz genau. Sie sehen ihn oft, seit Monaten schon. Sie lauern ihm auf. Sie reisen ihm nach. – Aber lassen wir das lieber. Ich bitte Sie nur um eines: mir zu sagen, was Sie bezwecken. Und warum Sie jedesmal verschwinden und immer auf so geheimnisvolle Art und Weise, wenn Sie ihn gesehen haben?«

Der andere antwortete nicht, als sei er zu erstaunt über das Gehörte, um darauf gleich eine Antwort zu finden.

Er schüttelte wie befremdet nur den Kopf, und Justizrat Eberhardt wußte in der Tat nicht, was er von ihm denken sollte. Aber er war nicht umsonst ein alter Jurist. Leise sagte er:

»Vielleicht sagen Sie mir, warum Sie damals nicht abgereist sind, als Sie sich ein Billett zu demselben Zuge und nach derselben Endstation wie mein Freund nahmen? – Warum Sie dann sofort abreisten, als er in dem Bade eintraf?«

Der Gefragte blieb stehen. Er stand vor dem Frager und sah ihn an. In seinem Blick war weder Haß noch Bitterkeit, in seiner Stimme keine Spur von Höflichkeit mehr, wie er jetzt antwortete:

»Weil ich den Anblick dieses Herrn nicht ertrage!...«

Sein Blick wurde erwidert. Und der, welcher ihn erwiderte, erkannte, wie sehr er sich geirrt hatte, wenn er diesen jungen Menschen für harmlos hielt. In diesen jungen Augen lag ein so unbeugsamer Wille, eine solche Festigkeit des Willens und zugleich so viel erlittener Schmerz, eine so hoffnungslose Einsamkeit mit sich, daß er schwieg. Dasselbe Gefühl von Sympathie, das ihn beim ersten Anblick so stark ergriffen, kam wieder über Justizrat Eberhardt. Es war ein unglücklicher Mensch, der hier vor ihm stand: kein verrückter, kein böser, – ein tief Beleidigter, ein um sein Lebensglück Betrogener...

Er suchte nach einem Wort, um ihn zu trösten – ihn immer noch davon zu überzeugen, daß man es gut mit ihm meine. Er fand es nicht. Er kam nicht dazu, es auszusprechen, als er es gefunden.

Denn er sah ihn – wieder ganz unvermutet – den Hut abnehmen, sich höflich verbeugen und hörte ihn – nun wieder mit derselben gleichgültigen Stimme von vorhin – sagen:

»Und nun, Herr Justizrat, gestatten Sie mir wohl, diese von Ihnen herbeigeführte Unterredung als beendet anzusehen...«

Justizrat Eberhardt ging langsamer, als er gekommen, und mit nicht ganz so leichten und beschwingten Schritten den Weg zurück, den er gekommen. Er dachte: Entweder ist dieser Mensch, der eben von dir gegangen ist, ein Schauspieler, wie ich noch selten einen gesehen, und hat Nerven von Stahl; oder mein alter Sierlin hat alles, oder doch das meiste, vollkommen falsch aufgefaßt, sieht Gespenster und befindet sich tatsächlich im ersten Stadium des Verfolgungswahnsinns...

Dann aber lachte er in sich hinein: die Komik der eben durchlebten Situation ging ihm auf. Er wiederholte vor sich hin: »Gestatten Sie, Herr Justizrat... als beendet anzusehen... darf ich fragen...« Alles ein bißchen angelernt... Aber woher hat er es, dieser einfache Bursche?

Er hatte sich noch kein abschließendes Urteil über seine neue Bekanntschaft gebildet, als er die Gestalt des Wartenden drüben auf und ab gehen sah, und sein ganzer Ärger richtete sich nun gegen diesen.

Er sah die langen Beine hinter den Büschen.

Wie ein Storch im Salat – dachte er weiter. Verdammter Kerl! – Nie hatte er ihn weniger leiden können als eben jetzt.

Er gab sich auch wenig Mühe, seine wahre Stimmung zu verbergen, als er dem ihm erwartungsvoll Entgegensehenden kurz berichtete, was er erlebt, und dann schloß:

»Er leugnet gar nicht, dich zu kennen. Weshalb er dir aus dem Wege geht? – Weil er deinen Anblick nicht ertragen kann...« (Justizrat Eberhardt hätte um alles in der Welt nicht diese letzte Äußerung unterdrückt.)

Ich hätte es doch lieber tun sollen, dachte er gleich darauf.

Denn das Gelächter, in das der andere ausbrach, war so fürchterlich, daß er zusammenfuhr. Es war grell. Es war krankhaft. Und es war peinlich: hier, auf einem doch immerhin öffentlichen Weg, wo jeden Augenblick ein Bekannter vorbeikommen konnte. – Aber der andere schien daran nicht zu denken. Er rief, nein, er schrie nur immer wieder und tanzte förmlich neben ihm her: »Es ist die Höhe! – die Höhe! – Er kann meinen Anblick nicht ertragen! – Hahaha! – Er, dieser Kerl, der sich mir seit fast einem Jahr auf Schritt und Tritt in den Weg stellt – er kann meinen Anblick nicht ertragen!...«

Das schreckliche Gelächter begann immer von neuem wieder.

Selbst Justizrat Eberhardt, der sich bekanntlich nie ärgerte, begann sich zu ärgern: über diesen Adolf Braun, der ihn so an der Nase herumgeführt, und von dem er nicht das mindeste erfahren von dem, was er von ihm wissen wollte; über sich selbst, weil er bei ihm einen offenbar falschen Ton angeschlagen hatte; und über diesen langen, halb wahnsinnigen Kerl an seiner Seite, der abwechselnd brüllte und lachte und auf keinen Zuspruch mehr hörte.

Es mußte ein Ende nehmen. Außerdem lag zu Hause ein erst halb beendeter Brief, der sofort abgehen mußte, wollte er sich auch nicht noch um diesen Abend – das kleine verschwiegene Souper – bringen lassen.

Er sagte daher mit möglichster Bestimmtheit:

»Beruhige dich, mein lieber Sierlin. Auf diesem Wege erreichst du nichts. Wir sind hier nicht allein. – Was die Sache selbst aber anbetrifft, bedaure ich, dir keinen Rat mehr geben zu können. Denn ich verstehe sie nicht. Ich verstehe sie absolut nicht. – Und nun« – er griff nach seiner Hand – »verzeih, ich muß nach Hause – eine dringende Verabredung...«

Er ließ den plötzlich Verstummten und vor sich Hinstarrenden stehen.

Im Weitergehen dachte er:

»Das nimmt kein gutes Ende mit dir, mein lieber Sierlin. Ein bißchen verrückt bist du schon. Viel schlimmer darf es nun nicht mehr werden mit dir. Der andere aber – wer den für verrückt halten wollte, würde sich gewaltig irren – der weiß, was er will. – Doch was will er?...«

Dann aber gingen seine Gedanken dem kommenden Abend entgegen. Sie waren bereits bei der Kleinen von der Metropol-Revue. Die war auch ein bißchen verrückt. In anderer Weise. Aber das war ja gerade das Reizvolle an ihr.


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