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III.

Der Kampf

1.

Staatsanwalt Sierlin blieb allein auf der Bank zurück.

Er war jetzt nicht mehr im Zweifel darüber, wo er diesen jungen Menschen, der eben noch hier gesessen, wo er diesen Blick schon gesehen.

Aber er erinnerte sich immer noch nicht, wann es gewesen war: vor zwei oder drei Jahren? –

Des Tages jedoch erinnerte er sich jetzt genau wieder.

Er stand auf und ging tief in die Anlagen hinein. Er suchte in seinem Gedächtnis nach Einzelheiten. Es war der Tag gewesen, an dessen Morgen, beim Aufstehen, er die erste, ernstliche Auseinandersetzung mit seiner Frau gehabt hatte. Sie warf ihm vor, nicht schnell genug vorwärtszukommen; er ihr, ihn daran auf alle mögliche – ihre – Weise zu hindern. Allerhand bisher Unausgesprochenes kam zutage und machte sich in lauten, heftigen Worten auf beiden Seiten Luft. In bereits erregter Stimmung verließ er das Haus. Sie wurde nicht besser im Laufe des Tages. Der soviel besprochene Prozeß, dieser Bandwurm von einem Prozeß (Brandstiftung in Verbindung mit Mordversuch), kam an ihm zu Ende. Zu keinem guten für ihn. Denn er endete mit einer glatten Freisprechung des Angeklagten, obwohl er seine ganze Beredsamkeit aufgeboten, ihn auf mindestens fünfzehn Jahre ins Zuchthaus zu bringen.

Nach einem wilden Tage sollte dann noch ein anderer Prozeß zur Verhandlung kommen – ein ganz gleichgültiger und alltäglicher: einfache, aber unbewiesene Unterschlagung. Hier hatte er leichteres Spiel: der offizielle Verteidiger war ein Tropf, der Angeklagte selbst konnte zu seiner Verteidigung nichts anderes vorbringen als das hier zum Überdruß immer wieder gehörte: »Ich bin unschuldig!«, und Geschworene wie Richter hatten nur den einen Wunsch, endgültig und baldigst nach Hause zu kommen. Er selbst hatte die Akten nur flüchtig bearbeitet und über Schuld und Unschuld kein klares Urteil. Aber diese Fälle von Unterschlagungen bei jungen Angestellten mehrten sich in letzter Zeit in so erschreckender Weise, daß endlich einmal ein Exempel statuiert werden mußte. Er sprach daher heftiger, als er es eigentlich in einer im Grunde so gleichgültigen Sache wollte. Er sprach von der immer mehr um sich greifenden Verwahrlosung unserer Jugend, ihrer dreisten Überheblichkeit den göttlichen und menschlichen Gesetzen gegenüber, und der herrschenden Verwirrung in den Eigentumsbegriffen. Er beantragte anderthalb Jahre Gefängnis. Darauf wurde erkannt.

Er erinnerte sich auch noch, wie er so in den Anlagen herumging, wie der Angeklagte, bevor er abgeführt wurde, ihm einige Worte zugerufen hatte, etwa der Art: daß er unschuldig sei und daß er, der Staatsanwalt, wissen müsse, daß er es sei. Das hatte ihn damals natürlich ganz kalt gelassen. Der Fall war erledigt und wurde über hundert anderen vergessen.

Er hätte sich auch heute wohl kaum mehr an ihn erinnert, wenn dann nicht das Wiederaufnahmeverfahren beantragt worden wäre, das mit der glatten Freisprechung des Verurteilten endete. Er war in ihm nicht beteiligt, da er sich zur Zeit auf einer Dienstreise befand.

Immerhin; es war eine Schlappe für ihn (zu anderen), über die er sich mit der alten Redensart tröstete, daß alle Menschen dem Irrtum unterworfen waren, sogar Staatsanwälte.

Die Schlappe wurde wettgemacht, und auch die Erinnerung an sie versank mit den Akten in dem Orkus der Gesetzespflege.

Sie war vergessen bis auf den Namen des damals zu Unrecht Verurteilten, dessen Person er während der Verhandlung kaum einen Blick geschenkt. Ein junger Mensch, wie hunderttausend andere.

Staatsanwalt Sierlin blieb stehen und sah, daß er die unangerauchte Zigarette noch immer zwischen den Fingern hielt. Er war ganz allein hier.

Auf einmal war es ihm, während er sie hin und her drehte, als höre er die Stimme von damals wieder, und jetzt auch die Worte, die sie ihm zugeschleudert: «Ich bin unschuldig! – Und Sie wissen es, daß ich es bin!« – und die Worte, die ihn damals so gleichgültig gelassen, gewannen in dieser Minute eine ganz andere Bedeutung für ihn.

Ein unbehagliches Gefühl stieg in ihm auf.

Er begann zu ahnen, weshalb dieser junge Mann, seit jetzt einem halben Jahre, hinter ihm her war. Aber was er eigentlich von ihm wollte – auf diese Frage fand er immer noch keine Antwort.


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