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Ich hatte bald Chatham im Rücken und befand mich auf der Landstraße. Ich wollte nicht, daß man meinen Besuch in dem Hause meiner Mutter vermuthe, weßhalb ich mich nach Kräften beeilte und auch gegen zehn Uhr in Gravesend anlangte. Eine Retourchaise erbot sich, mich für ein paar Schillinge nach Greenwich mitzunehmen, und noch ehe der Morgen graute, hatte ich London erreicht.
Ich säumte nicht, nachzufragen, wann die Postkutschen nach Portsmouth aufbrächen, und fand, daß ich noch ziemlich Zeit übrig hatte, da die nächste erst um neun Uhr abging.
So sehr ich auch London zu sehen wünschte, so hielt ich es doch für zu nothwendig, alsbald nach meiner Fregatte zurückzukehren, um meiner Neugierde nachzugeben. Abends um sieben Uhr langte ich zu Portsmouth an. Ich eilte nach dem Hafen, sprang in ein Fährboot und war um acht Uhr wieder an Bord der Fregatte.
Man kann sich denken, daß mein plötzliches und unerwartetes Erscheinen keine kleine Ueberraschung veranlaßte. In der That glaubte auch der erste Lieutenant, trotz der späten Stunde, das Schiffsboot an's Land schicken zu müssen, um dem Kapitän meine Rückkehr zu berichten, und Bob Croß hatte kaum Zeit, mir die Hand zu drücken, so schnell eilte er in sein Fahrzeug, um die Meldung zu hinterbringen.
Ich erzählte den Offizieren die Geschichte meiner Abenteuer, ließ sie aber glauben, daß ich nicht in Chatham gewesen, sondern mit dem Kauffahrer nach London gesegelt sei.
Pearson, der Gehülfe des Hochbootsmanns, kam, um über sein Weib Erkundigungen einzuziehen, und bald nachher brachte Bob Croß von dem Kapitän Befehl, daß ich am andern Morgen in Portsmouth vor ihm erscheinen solle.
Ehe ich den Kapitän sprach, wünschte ich angelegentlich, mich mit Bob Croß zu berathen. Ich theilte ihm mein Verlangen mit, worauf er mich um zehn Uhr nach dem Gange bestellte, da um diese Zeit fast sämmtliche Offiziere im Bette sein würden, und daher wenig Unterbrechung zu befahren wäre.
Es war eine schöne, heitere Nacht, und sobald wir allein waren, erzählte ich ihm in leiser Stimme, was geschehen, indem ich ihm zugleich den Inhalt des Briefes, in dessen Besitz ich mich gesetzt hatte, mittheilte. Dann fragte ich ihn über seine Meinung, was ich thun solle, nun ich gewiß wisse, daß der Kapitän mein Vater sei.
»Ei, Mr. Keene, Sie haben da wahrhaftig sehr klug gehandelt, und auf den Brief, der eben so viel ist, als ein von Kapitän Delmar ausgestelltes Certifikat, müssen's besonders Acht haben. Ich weiß nicht recht, wohin damit, aber ich denk', 's ist das Beste, wenn ich ihn in einen Beutel von Seehundsfell nähe. Sie können ihn dann um den Hals auf dem bloßen Leib tragen, denn wie gesagt, müssen ihn nie aus den Händen geben. Aber stille wie der Tod, Sir Mr. Keene! Sie haben mir's mitgetheilt, und ich mein', man könne mir trauen; aber traun's ja Niemand anders. Lassen's sich nur nicht einfallen, gegen den Kapitän 'was davon verlauten zu lassen. Sie müssen, wie sonst auch, thun, als ob Sie gar nichts wüßten, denn wenn er dächte, Sie hätten den Brief, so vergäß' er wohl, daß Sie sein Sohn sind, und er würd' Sie vielleicht hassen. Wohl nie hätt' er sich bewegen lassen, Sie schriftlich für seinen Sohn anzuerkennen, hätt' er nicht wie alle Welt gemeint, Sie wären todt und dahin. Betragen Sie sich daher just so achtungsvoll und unterwürfig wie früher. Nur in besonders großen Nöthen thut der Brief vielleicht gute Dienste, und dafür muß er aufbewahrt werden. Hat Ihre Mutter Verdacht, so müssen's ihr einen blauen Dunst vormachen. Ihre Großmutter wird darauf schwören, sie habe Ihren Geist gesehen, und wenn Ihre Mutter auch anders meint, so kann sie Ihnen doch nichts beweisen. Dem Kapitän darf sie schon gar nichts von ihrem Verdacht sagen, und wenn wir noch ein paarmal hin- und hergekreuzt sind, ist die Sache vergessen.«
Ich versprach, den Rath des Beischiffführers zu befolgen, da er mir gut dünkte, und dann sagten wir uns gute Nacht.
Des andern Morgens begab ich mich an's Land zu dem Kapitän, der mich sehr steif mit den Worten empfing:
»'s ist Ihnen dießmal nahe gegangen, Mr. Keene. Wie kamen Sie zurück?«
Ich antwortete, daß mich ein nach London bestimmtes Schiff aufgelesen habe, und daß ich von der Hauptstadt aus mit der Postkutsche heruntergekommen sei.
»Nun, ich dachte nicht, daß wir uns wieder sehen würden, und habe daher Ihrer Mutter brieflich mitgetheilt, daß wir Sie für verloren hielten.«
»Wirklich, Sir?« versetzte ich. »Das wird sie sehr unglücklich machen.«
»Allerdings; aber ich will ihr mit nächster Post schreiben, daß ein glücklicher Stern Sie erhalten hat.«
»Danke, Sir,« erwiederte ich. »Haben Sie noch Etwas zu befehlen, Sir?«
»Nein, Mr. Keene. Sie können wieder an Bord gehen und zu Ihrem Dienste zurückkehren.«
Ich machte meine Verbeugung und verließ das Zimmer. Drunten fand ich Bob Croß, der auf mich wartete.
»Nun?« sagte er, als wir mit einander weiter gingen.
»So steif wie immer,« versetzte ich. »Er sagte mir, ich solle an Bord gehen und zu meinem Dienste zurückkehren.«
»Dacht' ich's ja,« entgegnete Bob. »'s ist schwer zu sagen, aus welchem Teig diese großen Hänse gebacken sind. Doch gleichviel. Haben's ja Ihr eigenes Spiel in der Hand, und müssen eben hübsch vorsichtig mit Ihrem Geheimniß sein.«
»Es ist ein Geheimniß,« erwiederte ich, mich in die Lippen beißen. »Ich bewahre es, oder mache Gebrauch davon, wie sich's trifft.«
»Lassen's nicht Ihren Aerger die Oberhand gewinnen, Mr. Keene. 's ist am besten, wenn Sie ruhig bleiben. Er spielt seine Karten und Sie die Ihrigen. Weil Sie nun wissen, wie es mit den seinigen aussteht, er aber nicht umgekehrt, so müssen Sie zuletzt gewinnen – das heißt, wenn Sie nur den gesunden Menschenverstand brauchen.«
»Sie haben Recht, Croß,« versetzte ich; »aber Sie vergessen, daß ich nur ein Knabe bin.«
»Freilich, Mr. Keene; doch haben's keinen Narrenkopf auf Ihren Schultern.«
»Hoffentlich nicht,« entgegnete ich; »aber da sind wir an dem Boote.«
»Ja, und so wahr ich lebe, da ist auch Peggy Pearson. Ei, Peggy, wie hat Euch der Kreuzzug mit Mr. Keene behagt?«
»Wenn ich je wieder einen antrete, so hoffe ich, daß ich ihn zum Begleiter habe. Mr. Keene, wollen Sie mir erlauben, mit Ihnen an Bord zu gehen, damit ich meinen Mann besuchen kann?«
»O ja, Peggy,« versetzte Croß. »Nach dem Vorgefallenen wird's der Lieutenant nicht abschlagen, und auch Kapitän Delmar nicht, so steif er auch ist, denn er hat doch Gefühl, wenn er's schon nie blicken läßt. Jem wird froh sein, Euch zu sehen, Peggy; Ihr habt gar keinen Begriff, wie er sich geberdet hat, als er von Eurem Verlust hörte. Er hat von einem Korporal der Seesoldaten ein Schnupftuch geborgt.«
»Ja, Schnupftuch – 's wird wahrscheinlich eine Bouteille Rum von dem Proviantmeister gewesen sein,« erwiederte Peggy.
»Vergeßt nicht, Peggy,« entgegnete ich, meine Finger in die Höhe haltend.
»Mr. Keene, ich vergesse es nicht. Mein Wort darauf, daß ich, seit wir uns trennten, keinen Tropfen Branntwein gekostet habe – und das noch obendrein mit einem Souvereign in der Tasche.«
»Gut; nur dabei geblieben – dann ist Alles recht.«
»Ja, das will ich, Mr. Keene; und was noch mehr ist, Sie will ich lieben, so lang ich am Leben bin.«
Das Boot brachte uns an Bord, und Peggy befand sich bald in den Armen ihres Gatten. Als Pearson sie an der Laufplanke umarmte – denn länger hielt er's nicht aus – sprach der erste Lieutenant sehr freundlich:
»Pearson, ich brauche Euch erst nach dem Essen wieder auf dem Decke. Ihr könnt mit Eurem Weibe hinuntergehen.«
»Gott segne Sie für Ihre Freundlichkeit, Sir,« entgegnete Peggy.
Peggy hielt mir Wort, denn sie machte eine so umständliche Schilderung von meinem Muth und meiner Geistesgegenwart – von ihrer Furcht und ihrer schließlichen Betrunkenheit – deßgleichen auch von meiner ausschließlichen Handhabung des Ruders und des Bootes während der ganzen langen Nacht, daß ich dadurch bei der Schiffsmannschaft zu hohem Rufe kam. Die Sache gelangte auch zu den Ohren der Offiziere, und brach sich durch den ersten Lieutenant und den Kapitän bis zu dem Hafenadmiral Bahn. Peggy Pearson's Lob kam mir auch in der That sehr zu statten, denn ich wurde nicht mehr als ein bloßer Neuling betrachtet, der eben erst auf die See gekommen ist und noch keine Probe bestanden hat.
»Nun, Sir,« sagte Bob Croß einige Tage nachher, »nach Peggy Pearson's Bericht hat es den Anschein, als ob Sie sich gar nicht gefürchtet hätten.«
»Was liegt auch viel an Peggy Pearson's Bericht?«
»Ei, so sollten's nicht sprechen, Mr. Keene. Eine Maus kann einem Löwen helfen, wie's in der Fabel heißt.«
»Wo haben Sie denn alle Ihre Fabeln gelernt, Croß?«
»Das will ich Ihnen sagen: 's gibt ein nettes kleines Mädel, das auf meinem Knie zu sitzen pflegte und mir seine Fabeln vorlas: ich hört' ihm zu, weil ich's gern hatte.«
»Liest Sie Ihnen noch vor?«
»O nein, sie ist jetzt zu groß dazu – sie würd' roth werden bis über die Ohren. Doch wozu jetzt von Mädels oder Fabeln? Ich sagt' Ihnen, daß Peggy Ihr Betragen gemeldet hat, wie's im Dienst heißt. Nun müssen's aber auch wissen, daß ich heut' mit angehört, wie's der erste Lieutenant dem Kapitän erzählte, und Sie haben gar keinen Begriff, was der Kapitän für ein stolzes Gesicht gemacht, obgleich er gethan hat, als kümmere er sich nichts d'rum. Ich gab Acht auf ihn, und 's stand auf seine Stirne geschrieben: ›Das ist mein Junge!‹«
»Nun, wenn ihm Das gefällt, so will ich ihm Anlaß geben, noch stolzer auf mich zu sein, so oft sich Gelegenheit dazu bietet,« entgegnete ich.
»Nun ja, ich glaub's, Mr. Keene, wenn ich 'was von der Physiognomie verstehe; und das ist der Weg, sich in ein Vaterherz einzuschleichen. Machen's nur, daß er stolz auf Sie wird.«
Ich ließ mir dieß nicht zweimal gesagt sein, wie der Leser mit der Zeit finden wird.
Ich hatte meiner Mutter geschrieben und ihr meine Abenteuer mitgetheilt, ohne ihr jedoch ein Wort über meinen Besuch zu Chatham zu sagen. Wie den Kapitän, ließ ich sie glauben, daß mich der Kauffahrer bis nach London gebracht habe. Sie erhielt mein Schreiben des andern Tages, nachdem ihr Kapitän Delmar mein wohlbehaltenes Eintreffen berichtet hatte.
Sie antwortete mir mit umgehender Post, dankte dem Himmel für meine Erhaltung, und theilte mir mit, welche Angst und Betrübniß sie über meinen muthmaßlichen Verlust ausgestanden hatte. Am Schlusse ihres Briefes standen folgende Zeilen:
»Ich lag am fünfzehnten Abends, als ich eben die Kunde von deinem Verlust erhalten, in Thränen zerfließend auf meinem Bette, und da erklärt mir sonderbarer Weise deine Großmutter, welche die Treppe hinuntergegangen, daß sie entweder dich oder deinen Geist in dem kleinen Hinterstübchen gesehen habe. Jedenfalls muß ihr etwas begegnet sein, da ich sie besinnungslos auf dem Boden fand. Möglich, daß sie ohne Grund erschrocken ist, und doch weiß ich nicht, was ich denken soll, da Umstände vorhanden sind, welche mich fast glauben machen, daß Jemand im Hause war. Ich hoffe, daß du ein ›Alibi‹ beweisen kannst.«
Daß meine Mutter aus dem Verschwinden des Briefes Verdacht, vielleicht sogar mehr als Verdacht geschöpft hatte, durfte ich mit Zuverlässigkeit annehmen. In der Rückantwort erwiederte ich jedoch Folgendes:
»Mein Alibi läßt sich leicht durch Nachfrage bei dem Herrn und den Matrosen des Schiffes, an dessen Bord ich war, erweisen. Die Großmutter muß über ihren eigenen Schatten erschrocken sein. Es wäre ja zu abgeschmackt, wenn ich nach Hause käme und wieder fortginge, ohne dich gesehen zu haben. Vielleicht hat die Großmutter die ganze Geschichte erfunden, weil sie mich nicht leiden kann und von dir haben möchte, daß du ein Gleiches thuest.«
Was auch meine Mutter gedacht haben mochte, sie erwähnte des Gegenstandes nicht wieder. Indeß erhielt ich ein paar Tage nachher von Tante Milly einen Brief, worin sie mir in scherzhafter Weise dieselbe Geschichte mittheilte, daß nämlich die Großmutter darauf schwöre, sie habe mich oder meinen Geist gesehen.
»Anfangs glaubten wir selbst auch, du habest dich als Geist angemeldet; aber seit ein Brief von Kapitän Delmar an deine Mutter vermißt wird, ist man der Meinung, du seiest hier gewesen und habest ihn mitgenommen. Lieber Percival, wenn du der Großmutter einen Possen spielen wolltest, so bin ich überzeugt, daß du mir's nicht verheimlichen wirst; du weißt ja, daß du mir in all' deinen Schalkstreichen vertrauen kannst.«
Dieß war jedoch kein Fall, worin ich mich durch meine Tante beschwatzen ließ. Ich schrieb ihr zurück, daß ich mich nicht genug wundern könne, wie die Großmutter solche Alfanzereien aussagen könne, und bewies ihr auf's Genügendste, daß ich zu derselben Zeit, als man mich in Chatham geglaubt, in London gewesen sei.
Ich war vollkommen überzeugt, daß die Tante von meiner Mutter den Auftrag erhalten hatte, der Wahrheit nachzuspüren. Mein Geheimniß war mir jedoch viel zu wichtig, als daß ich Jemand von dieser Seite her hätte trauen mögen, und von nun an wurde der Gegenstand nie mehr berührt. Ich glaube, daß man zuletzt annahm, der Brief sei zufällig oder absichtlich von dem Dienstmädchen zerstört worden, und meine Großmutter habe sich einem grundlosen Schrecken hingegeben – eine Ansicht, welche noch darin eine Bestätigung fand, daß das Dienstmädchen, welche die Abwesenheit meiner Mutter zu einer Klatschvisite in der Nachbarschaft benützt hatte, die Erklärung abgab, sie sei keine drei Minuten außer dem Hause gewesen; es habe also keine Seele hineinkommen können. Außerdem schien es so gar unwahrscheinlich, daß ich sollte in Chatham gewesen sein, ohne von Jemand erkannt zu werden.
Meine Großmutter schüttelte den Kopf und sagte bei der Berathung der Frage gar nichts; Tante Milly erklärte jedoch, ich hätte gewiß nicht nach Chatham kommen können, ohne sie zu besuchen. Auch war sie der Ansicht, das Dienstmädchen habe den auf dem Tisch liegenden Brief gelesen und mitgenommen, um ihn ihren Freundinnen zu zeigen; wahrscheinlich befinde er sich jetzt in den Händen eines Menschen, der dadurch einen Einfluß auf meine Mutter zu gewinnen wünsche. Ich glaube, daß meine Mutter diese Ansicht zuletzt theilte und sich sehr darüber beunruhigte. Sie wagte es nicht, Kapitän Delmar ein Wort davon zu sagen, und jeden Tag sah sie dem Anerbieten entgegen, ihr das Schreiben gegen eine gewisse Summe zurückzuerstatten. Letzteres geschah jedoch nicht, denn der Brief war von Bob Croß in ein Stück Seehundsfell genäht und an einem Bande mir um den Hals gehängt worden, wo ich es eben so sorgfältig bewahrte, als etwa eine andächtige alte Katholikin einen muthmaßlichen Partikel von dem wahren Kreuze.
Aber lange bevor diese Verhandlungen zu Ende waren, hatte Seiner Majestät Schiff Kalliope Befehl zur Ausfahrt erhalten, dem zu Folge sie vor frischem Winde den Kanal hinunter steuerte.
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