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Vierunddreißigstes Kapitel

Als ich zu Hause anlangte, führten mir die Ereignisse des Tages vermöge des Gesetzes der Ideenassociation Minnie Vanderwelt in's Gedächtnis, und ich erinnerte mich, daß ich ihr seit meiner Beförderung und Anstellung auf der Circe nicht geschrieben hatte. Ich setzte mich daher nieder und faßte einen langen Brief ab, in welchem ich schließlich mein Bedauern ausdrückte, daß ich auf meine viele früheren noch keine Antwort erhalten hatte, namentlich aber auf meine letzten, in welchem ich meine Ankunft in England meldete und meine Adresse angab. Auch fragte ich, was aus dem jungen Vangilt geworden, dem ich zur Flucht behülflich gewesen war. Nachdem ich diesen Brief dem Agenten beigeschlossen und ihn gebeten hatte, denselben nach Hamburg zu befördern, begab ich mich zu Bette. Die Aufregung des Tages hatte einen bunten Wechsel von Träumen zur Folge, in denen ohne Unterlaß Minnie's Gestalt auftauchte.

Am andern Morgen erhielt ich ein langes und sehr launiges Schreiben von Tante Milly, worin jedoch die einzige Neuigkeit war, daß Lieutenant Flat eine Schenkwirthstochter geheirathet hatte – ein Ehebund, an dem das Marinekorps großen Anstoß nahm, da die Dame im Geruche eines etwas leichtfertigen Wandels stand. Sie lag mir sehr an, bald einen Besuch in Chatham zu machen, was jedoch, wie ich aufrichtig bekenne, durchaus nicht nach meinem Geschmack war, da sich mein Stolz dagegen empörte. Ich zweifle sogar, ob ich der Ausstattung eines Schiffes an dem Aufenthaltsorte meiner Tante angewohnt hätte, wo die Leute mit den Fingern auf mich weisen und sagen konnten: der Vater dieses Postkapitäns war ein gemeiner Seesoldat in jener Kaserne dort. Ein anderer Brief von Lord de Versely, der mir seine Ankunft zu Madeline-Hall mittheilte, und mich ersuchte, sobald als möglich mich gleichfalls dort einzufinden, sagte mir unendlich mehr zu, und ich beschloß, schon am andern Tage aufzubrechen, was auch geschah. Ich wurde von Seiner Herrlichkeit sehr herzlich und von der alten Dame sehr gnädig aufgenommen; Letztere drückte die Hoffnung aus, daß mein Besuch von längerer Dauer sein werde. Etwa eine Stunde nach meiner Ankunft traf auch Obrist Delmar ein; er war ein Vetter von Lord de Versely, obschon ich ihn seinem Aeußeren nach nicht für einen Delmar gehalten hätte, denn er war ein kleiner, rundschulteriger Mann, mit einem fetten, rothen Gesichte, und etwa vierzig Jahre alt. Nachdem wir uns gegenseitig vorgestellt waren, bemerkte ich, daß seine Augen sehr oft auf mir ruhten; er benahm sich jedoch sehr höflich, und obgleich seine Außenseite auf den ersten Anblick nicht sehr ansprach, so war doch seine Unterhaltung sehr angenehm, und er selbst ein Mann von ungemein feiner Bildung. Noch ehe das Diner vorüber war, hatte ich schon ein großes Wohlgefallen an ihm gefunden.

Da wir noch nicht ersten September hatten, so blieben die Hühner noch ein paar Tage in Frieden, führten ihre Brut durch die Stoppeln, und ließen dieselbe sich an den Getreidekörnern äßen, die für sie auf dem Boden zerstreut waren. Die alten Vögel mochten, da sie der vorigen Saison entkommen waren, wohl einigen Begriff von einem Schießgewehr haben, den Jungen stand aber das Vergnügen einer solchen Bekanntschaft noch bevor; nach zwei Tagen sollten sie zu ihrem Schrecken inne werden, daß Blei schneller fliege, als ihre Schwingen, und daher recht wohl geeignet sei, sie einzuholen.

Die letzten zwei oder drei Tage vor einer Jagdpartie sind auf dem Lande in der Regel ungemein langweilig, und ich brachte meine Morgen hauptsächlich mit Umherschweifen in dem Park oder auf den Feldern zu; ich brauche kaum zu sagen, daß auf solchen Spaziergängen meine Gedanken hauptsächlich mit dem vertraulichen Verhältniß beschäftigt waren, das zwischen meiner Mutter und dem Lord de Versely stattgefunden hatte. Am dritten Morgen nach meiner Ankunft, nachdem ich mehr als zwei Stunden umhergewandert war, kam ich nach einer sehr abgelegenen Art gothischer Zelle, die aus den ausgestreckten Aesten einer alten Eiche und Lagen bemooster Steine gebildet war. Sie stand aus einem von Lorbeergebüsch und anderen immer grünen Strauchpflanzen umgebenen Rasen und sah mit der Vorderseite nach dem Park hin. Ich warf mich auf die Bank. Es war ganz ein Ort, wie ihn ein Mann zu einem Rendezvous wählen mag – ein abgelegenes Winkelchen, wo ein Mädchen ohne Furcht vor zudringlichen Lauschern auf das Gekose der Liebe hören konnte. Dieß mußte wohl der Platz sein, der meiner Mutter zum Falle gereicht hatte. Ich hatte daselbst im Brüten über die Vergangenheit und in kühnem Luftschlösserbau für die Zukunft ungefähr eine Stunde verweilt, als ich ganz in der Nähe und von der andern Seite der Zelle her, deren Hinterwand der Zelle zugekehrt war, eine Stimme vernahm. Es war die der alten Dame, die sich wie gewöhnlich von ihrer Gesellschafterin Phillis auf einem Gartenwägelchen herausfahren ließ. Die Räder hatten auf dem sammetartigen Rasen kein Geräusch gemacht, und ich wurde auf ihre Nähe erst durch das Lautwerden ihrer Stimme aufmerksam gemacht.

»Unsinn, Phillis. Ei, Kind, was solltest du von solchen Dingen wissen?« sagte die alte Dame.

»Aber erinnern Sie sich doch gefälligst, gnädiges Fräulein,« versetzte Phillis, welche wahrhaftig alt genug war, um sich an alle Abschnitte in dem Leben eines Weibes zu erinnern, »ich war damals ihr Kammermädchen und oft genug in Gesellschaft der Bella Mason. Sie benahm sich zwar immer sehr achtungsvoll gegen Sie, aber Sie kannten doch ihr Temperament nicht. Es gab nie eine so stolze, junge Frauensperson, die sich so hoch getragen hätte – in einem Grade sogar, daß sie selbst Mr. Jonas, den Kellermeister, und Mrs. Short, die Haushälterin, mit Geringschätzung behandelte.«

»Nun, nun, ich weiß wohl, daß sie stolz war, sie hatte dieß von ihrer Mutter. Mr. Mason hatte in jüngeren Tagen selbst ein schönes Vermögen, wenigstens von seinem Vater her, obschon er es nachher mit Schwärmen und Pferderennen durchbrachte; aber was beweist das?«

»Ich sage nur, gnädiges Fräulein, was damals alle Welt sagte – nämlich, daß Bella Mason nie diesen Seesoldaten, auf den sie nur mit Verachtung herunterblickte, geheirathet haben würde, wenn sie nicht hätte müssen, obschon er ohne Frage ein recht hübsch aussehender junger Mann war.«

»Warum müssen, Phillis?«

»Um ihre Schande zu verbergen, gnädiges Fräulein; denn Sie werden sich noch erinnern, daß das Kind drei Monate nach der Hochzeit auf die Welt kam.«

»Ich entsinne mich dessen noch recht wohl,« erwiederte Miß Delmar. »Es war freilich schlimm genug, und ich hätte, wie auch mein Neffe sagte, besser nach Bella sehen sollen. Es war Unrecht, daß ich den Umgang mit jenem Seesoldaten duldete.«

»Mit jenem Seesoldaten, gnädiges Fräulein? Er war unschuldig genug. Wie hätte er sich auch träumen lassen sollen, daß Bella auf seines Gleichen hörte.«

»Wen kannst du denn sonst meinen, Phillis?«

»Ei, Niemand anders, als Lord de Versely, gnädiges Fräulein. Kein Mensch in der Halle zweifelt daran, daß es sein Kind wäre, denn er und Bella staken ja, vor ihrer Hochzeit, Monate lang immer beisammen.«

»Phillis, Phillis, du weißt nicht, was du redest. Es ist unmöglich. Ja, wahrhaftig, ich erinnere mich sogar, daß ich mit Lord de Versely, der damals noch Kapitän Delmar war, die Sache besprach; er war sogar noch weit erzürnter über diese Unziemlichkeit, als ich, und sagte, er wolle den Seesoldaten tüchtig abpeitschen lassen.«

»Das mag sein, gnädiges Fräulein, aber doch war Kapitän Delmar der Vater jenes Knaben. Erinnern Sie sich wohl noch, wie die alte Mrs. Mason in die Halle kam und dann fast unmittelbar nach ihrer Ankunft sich wieder entfernte?«

»Nun, und was weiter? Ohne Zweifel war sie mißvergnügt über die Heirath.«

»Unstreitig, gnädiges Fräulein; aber sie hatte eine Privatzusammenkunft mit Kapitän Delmar, welche Mrs. Short, die Haushälterin, behorchte, und von dieser erfuhr ich, daß der Kapitän die Tatsache nicht gegen sie in Abrede zog. Jedenfalls ist so viel gewiß, daß Mrs. Mason, ehe sie die Halle verließ, in ihrer Wuth gewaltig auf Kapitän Delmar loszog, was sie sich andernfalls nicht unterstanden haben würde. Und dann, gnädiges Fräulein, betrachten Sie nur den Kapitän Keene – ist er nicht das leibhaftige Ebenbild Seiner Herrlichkeit?«

»Er ist ihm allerdings sehr ähnlich,« sprach die alte Dame nachsinnend.

»Und dann, glauben Sie wohl, gnädiges Fräulein, daß Seine Herrlichkeit den Knaben im Dienst aufgebracht und ihn zu einem Postkapitän gemacht haben würde, wenn er nur der Sohn eines Seesoldaten gewesen wäre? Und außerdem, bemerken Sie nicht, wie ihn der gnädige Herr liebt – ja, sogar eigentlich vernarrt in ihn ist? Würde ihm wohl der Sohn seines Bedienten als eine passende Gesellschaft für Euer Gnaden erscheinen, bei dem sich's der Mühe verlohnt, ihn zu ersuchen, nach Madeline-Hall zu kommen? O, nicht doch, gnädiges Fräulein; verlassen Sie sich darauf, Kapitän Keene ist ein Delmar, und da darf es einen nicht Wunder nehmen, wenn Seine Herrlichkeit so große Stücke auf ihn hält; denn er ist ja sein einziges Kind, und ich darf wohl sagen, Mylord würde seine rechte Hand darum geben, wenn er seine Titel und Güter auf ihn vererben könnte, die jetzt natürlich auf die Kinder seines jüngeren Bruders übergehen.«

»Nun, nun, Phillis, unmöglich wäre es nicht. Ich weiß nicht, was ich davon denken soll, will aber mit Lord de Versely darüber sprechen, denn wenn Kapitän Keene ein Delmar ist, muß er auch als ein solcher betrachtet werden, trotz des Schrägbalkens, der in sein Wappen käme. Doch es wird mir hier etwas zu kühl, Phillis. Führe mich nach der Terrasse, daß ich ein wenig in die Sonne komme.«

Ich danke dir, Phillis, sagte ich zu mir selbst, als sie das Wägelchen weiter zog. Deine Klatschsucht kann mir nützlich werden. Vielleicht zieht Mylord seine Vaterschaft gegen die Tante nicht in Abrede, und es mag Gutes daraus erfolgen. Ich wartete, bis ich die Räder nicht mehr auf dem Kiesweg rasseln hörte, verließ dann die Grotte und entfernte mich von der Halle, um ohne Störung meinen Gedanken nachhängen zu können.

Ich hatte den Park verlassen und eilte über die Felder hin, als gälte es irgend einem wichtigen Geschäfte, während doch in Wirklichkeit meine Beine nur versuchten, mit meinen Gedanken gleichen Schritt zu halten. Endlich kam mir ein Thor in den Weg, über welches ich wegsetzte, und ich befand mich in einer schmalen Gasse, die sich tief zwischen zwei Hecken einsenkte. Gleichgültig, welchen Pfad ich einschlug, wandte ich mich rechts und ging mit gleicher Geschwindigkeit weiter, als ich mit einem Male das dumpfe Brüllen eines Thieres vernahm. Dieß veranlaßte mich, meine Augen aufzuschlagen, und unmittelbar vor mir bemerkte ich eine seltsame Scene, welche ich im nächsten Kapitel mittheilen will.

*

 


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