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Ich gestehe, daß ich mich in großer Aufregung befand, denn ich langte nun an der Stelle meiner Geburt an, wobei ich mich all' der Einzelnheiten erinnerte, die mir meine arme Mutter mitgetheilt hatte, als sie fand, daß sie mir die Wahrheit nicht länger verbergen konnte, und mir deßhalb, um ihre Schuld zu mindern, ihre Versuchungen, wie auch die Gefahren der Gelegenheit und der Abgeschiedenheit von der übrigen Welt schilderte. Ich konnte sie noch vor mir sehen, wie sie mit strömenden Thränen ihrem Sohne das demüthigende Bekenntniß ablegte, und als meine Augen die schönen Auen überflogen, konnte ich mich des Ausrufs nicht erwehren – »o, arme Mutter!«
Der Wagen machte Halt, und die Postillone stiegen ab, um die Klingel zu ziehen. Eh' eine Minute verging, erschienen drei oder vier Dienstboten, die mir auf meine Frage die Antwort gaben, daß die ehrenwerthe Miß Delmar zu Hause sei und Besuch annehme.
»Vermuthlich Obrist Delmar, Sir,« fragte der alte Kellermeister.
»Nein,« versetzte ich. – »Kapitän Keene.«
Der Kellermeister sah mir mit großen Augen in's Gesicht, schien sich aber dann zu besinnen, denn er verbeugte sich und ging voran.
»Kapitän Keene, gnädiges Fräulein,« sagte er, als er mich in ein großes Gemach einführte, an dessen Ende eine achtbar aussehende alte Dame sehr emsig mit Stricken beschäftigt war, während ein anderes Frauenzimmer von fast gleichem Alter auf einem Schemel neben ihr saß.
Die alte Dame blieb, als ich näher trat, in ihrem Stuhle sitzen, obgleich sie mir eine Verbeugung machte, und musterte mich durch ihre Brille. Sie war in der That ein Musterbild hohen Alters. Ihr silberweißes Haar war gescheitelt und kaum noch unter den Haubenflügeln sichtbar; ihr Anzug bestand aus einem schwarzen Seidenkleide nebst einer schneeweißen Schürze, auf welcher ein deßgleichen Taschentuch lag, und ihre ganze Haltung verrieth einen Anstand und eine Würde, die bei dem ersten Anblick Ehrfurcht einflößten. Als ich mich auf den angebotenen Stuhl niederlassen wollte, scharrte die andere Person, welche augenscheinlich der dienstbaren Klasse angehörte, mit den Füßen, um aufzustehen; sobald aber Miß Delmar mich willkommen geheißen, fuhr sie fort: »Bleib' nur sitzen, mein Kind, es ist kein Grund vorhanden, warum du dich entfernen solltest.« Ich konnte kaum ein Lächeln unterdrücken, als ich die alte Dame eine Frauensperson von mehr als sechszig »Kind« nennen hörte; Phillis war aber seit vielen Jahren ihr Kammermädchen gewesen, und mit der Zeit zu der Stellung einer unterwürfigen Gesellschafterin befördert worden.
Was Miß Delmar betraf, so war sie, wie ich später von ihren eigenen Lippen vernahm, siebenundachtzig Jahre vorüber, erfreute sich aber noch immer einer vollkommen guten Gesundheit, wie denn auch ihre geistigen Vermögen durchaus nicht Noth gelitten hatten. Phillis war daher viel jünger, und da sie mit ihrem zweiundzwanzigsten Jahre in die Dienste der alten Dame getreten war, so durfte es nicht auffallen, daß Letztere fortfuhr, die Dienerin, welche in Vergleichung mit ihr selbst eine junge Person war, stets so anzureden, wie sie es durch eine lange Reihe von Jahren gehalten hatte. Ich zweifle auch nicht, daß Miß Delmar, wenn sie an die Vergangenheit zurückdachte und des dazwischen liegenden halben Jahrhunderts vergaß, Phillis bloß als ein Kind betrachtete. Die alte Dame war sehr redselig und ungemein höflich; auch gewann ich bald einen gewaltigen Stein bei ihr im Brette, da ich mich über Lord de Versely, auf welchen wir natürlich zuerst zu sprechen kamen, nur in Ausdrücken der höchsten Bewunderung und Dankbarkeit vernehmen ließ. In der That entdeckte ich auch später, daß dieser ihr Neffe der Gegenstand ihrer ganzen Zuneigung war. Sein jüngerer Bruder hatte sie vernachlässigt, und wurde im Gespräche nie berührt, als wenn etwa Miß Delmar bedauerte, daß Lord de Versely keine Kinder hatte, und deßhalb Titel und Ansprüche auf seinen Bruder vererben mußte.
Sie lud mich ein, beim Diner zu bleiben, was ich nicht ausschlug, und noch vor der Mahlzeit hatte ich große Fortschritte in der Achtung der alten Dame gemacht. Mit Anmeldung des Diners verschwand die Gesellschafterin, und wir waren jetzt allein. Sie stellte noch viele Fragen über Lord de Versely und über die Vorfallenheiten während der Zeit meines Dienstes unter ihm an mich – ein Thema, über das ich beredt sein konnte. Ich erzählte ihr mehrere unserer Abenteuer, namentlich das Gefecht mit der holländischen Fregatte und andere Einzelnheiten, worin ich in Wahrheit das Lob Seiner Herrlichkeit verkünden konnte; doch vergaß ich nicht, seines Wohlwollens gegen mich oft dankbar zu erwähnen.
»Nun, Kapitän Keene, mein Neffe hat oft mit mir über Sie gesprochen, und Sie haben ihm dadurch, daß Sie sich zu einem guten Offizier heranbilden ließen, Ehre gemacht. Auch seit Sie ihn verlassen, haben Sie sich dem Vernehmen nach sehr ausgezeichnet.«
»Vielmehr, seit er mich verlassen hat, gnädiges Fräulein,« versetzte ich, »als er in das Oberhaus berufen wurde.«
»Ganz richtig,« entgegnete die alte Dame. »Vermutlich wissen Sie, daß Sie in diesem Hause geboren wurden, Kapitän Keene?«
»Ich habe davon gehört, gnädiges Fräulein.«
»Ja, ich zweifle nicht, daß Ihre arme selige Mutter mit Ihnen darüber gesprochen hat. Ich erinnere mich ihrer noch recht gut – ein sehr lebhaftes, rühriges und hübsches junges Frauenzimmer (hier seufzte die alte Dame); und ich hielt Sie in meinen Armen, Kapitän Keene, als Sie kaum ein paar Tage alt waren.«
»Für diese große Ehre muß ich noch dankbar sein, gnädiges Fräulein,« erwiederte ich.
Jetzt nahm das Gespräch eine andere Wendung, was ich nicht sehr bedauerte.
Nach dem Thee stand ich auf, um mich zu verabschieden, worauf mich Miß Delmar einlud, einige Zeit in Madeline-Hall zuzubringen, namentlich aber ein paar Tage vor dem ersten September zu kommen, damit ich an einer großen Landpartie Theil nehmen könne.
»Ich erwarte meinen Neffen, Lord de Versely,« sagte sie, »und auch den büchsenkundigen Obristen Delmar, einen Vetter von Lord de Versely, der sich nebst einigen Andern gleichfalls der Partie anschließen wird. Der Obrist kann sogar jeden Tag eintreffen. Er ist ein sehr angenehmer und feingebildeter Mann.«
Ich nahm die Einladung mit Vergnügen an, worauf ich mich verabschiedete. Die Chaise fuhr ab und bald war ich in tiefe Träumereien versunken. Ich rief mir Alles, was mir meine Mutter erzählt hatte, in's Gedächtniß und sehnte mich, nach der Halle zurückzukehren – die Schauplätze zu besuchen, die in den Mittheilungen meiner Mutter eine Rolle gespielt hatten. Namentlich wünschte ich aber Lord de Versely an derselben Stelle entgegen zu treten, welche ihn nothwendig an meine Mutter – wie sie war in ihren Blüthenjahren, zärtlich und zutraulich – erinnern mußte. Unmöglich konnte er hier uneingedenkt sein der Opfer, die sie ihm gebracht, der Treue, die sie seinen Interessen erwiesen, und der ihm obliegenden heiligen Verpflichtung, welche er nur in seinem Benehmen gegen mich erfüllen konnte.
Als ich nach Portsmouth zurückkehrte, fand ich, daß Befehl ertheilt worden war, die Diligente abzulohnen und alsbald einen neuen Kommandanten für sie zu ernennen. Da die Mannschaft nunmehr frei war, bis sie allenfalls in Bälde einem neuen Preßgang in die Hände fiel, so ließ ich sie noch einmal zusammentreten und fragte, wie viele aus ihrer Mitte auf der Circe Dienst nehmen wollten. Ich machte sie zugleich aufmerksam, daß es nicht lange anstehen würde, bis sie für ein anderes Schiff gepreßt wären; ich aber könne jedem drei Monate Urlaub geben, während welcher Zeit sie unbelästigt blieben; nach Abfluß dieser Frist sei es wohl mit ihrem Gelde alle, und wenn sie früher damit fertig würden, so sei das Wachschiff bereit, sie aufzunehmen, falls sie den Aufenthalt am Lande satt hätten. Auf diesem Wege hoffte ich mir den Grundstock zu einer guten Schiffsmannschaft zu bilden, und hatte mich auch wirklich nicht getäuscht. Jeder wollte freiwillig bei mir Dienste nehmen, worauf ich Allen, die zur Circe gehörten, Urlaubscheine auf drei Monate ertheilte, und von diesem Schritte die Admiralität in Kenntniß setzte. Die Brigg wurde sodann abgelohnt und des andern Tags einem Kapitän Rose, der mir ein wenig bekannt war, zugetheilt.
Da ich jetzt wieder mein eigener Herr war – denn obgleich auf der Circe angestellt, konnte ich doch vor der Hand weiter nichts thun, als mein Wimpel ansehen – gedachte ich, zur Abwechslung ein paar Tage auf der Insel Wight zuzubringen, denn es war eben die Yachtsaison, und ich hatte die Bekanntschaft vieler Gentlemen, die zu dem Clubb gehörten, gemacht. Man kann sich denken, daß es mir nicht schwer wurde, in die Gesellschaft aufgenommen zu werden. Das Patent eines Postkapitäns in Seiner Majestät Flotte ist ein respektirter Paß bei Liberalen und Aristokraten. Da nun angenommen wird, daß ein Mann, der keine Familienverbindungen hat, um dadurch im Dienste vorwärts zu kommen, seine Beförderung durch eigenes Verdienst errungen haben muß, so ist sein Rang hinreichend, den Mangel einer vornehmen Abkunft zu ersetzen, und dem Eigenwerthe fast allgemein Anerkennung zu verschaffen – ich sage, fast allgemein, da sonderbarer Weise seit einer Reihe von Regierungen die Flotte nie sehr beliebt bei Hofe war. Ja, in den Gemächern des Saint James-Palastes, wo Verdienst irgend einer Art sich selten eindringen darf, befindet sich die Marine namentlich in großem Nachtheil. Man begrüßte zwar jeden neuen Sprößling des Hauses Hannover mit erneuerten Hoffnungen, daß es anders werden möchte – mit Hoffnungen, die stets auf eine Täuschung hinausliefen; aber vielleicht ist's auch so gut. Ohne eine Prophet zu sein, läßt sich von den Flottenangehörigen im buchstäblichen Sinne des Worts sagen, daß man kein Pech anrühren kann, ohne sich zu besudeln; hier ist aber von einem moralischen Peche die Rede, nämlich von der Gemeinheit, der Ehrlosigkeit und der tückischen Kriecherei des Hofes, womit sich, wie ich hoffe, unser edler Dienst nie beflecken wird.
Ich bin jedoch etwas von meinem Gegenstande abgekommen und muß bemerken, daß diese Abschweifung die Folge einer Frage ist, welche ein Gentleman an mich stellte, der mir jede Aufmerksamkeit erwies, als ich an dem großen Clubbe zu Kowes, zu dem ich eingeladen war, Theil nahm und eben bei Tafel saß: er wollte nämlich wissen, ob ich mit den Keene's von B... verwandt sei. Mit meiner Antwort war ich schnell fertig: »Ich weiß es nicht, denn mein Vater starb als junger Mann in Westindien. Er stammte aus Schottland, aber ich war zu jung, um etwas von seinen Verwandten zu wissen, die er in früher Jugend verlassen. Später interessirte sich Lord Versely für meine Bildung, wie er denn mir auch allen Vorschub leistete, und mich, seit dem Tode meiner Mutter, wie einen eigenen Sohn behandelte.« Diese Erklärung konnte ich der Wahrheit gemäß offen abgeben, weßhalb ich natürlich keinen Augenblick damit zögerte. Auch war sie vollkommen hinreichend: ich hatte einen hochadeligen Beschützer und mußte daher Jemand sein, sonst würde sich dieser nicht für mich interessiren. Ich erwähne des Umstandes, weil ich bei genannter Gelegenheit das erste- und letztemal nach meiner Familie gefragt wurde; es war daher vorauszusetzen, daß meine Antwort als vollkommen genügend betrachtet wurde.
Ich benützte eine Einladung, an Bord der Yacht zu gehen, und segelte mehrere Tage umher, nicht wenig ergötzt und geschmeichelt von der Aufmerksamkeit, die mir der adelige Kommodore und Andere erwiesen. Eines Tages traf ich mit einer alten Bekanntschaft zusammen. Ein kleines Schiff von ungefähr zwanzig Tonnen, kutterartig aufgetakelt, kam unter den Stern der Commodore's Yacht. Wir hatten gerade sehr glatt Wasser, leichten Wind und namentlich ungemein schwül Wetter. Einer aus dem Geschwader, der an dem Hakebord neben mir stand, sagte zu mir: »Betrachten Sie doch dieses Fahrzeug, das unter unsern Stern herunterkömmt, Keene – Sie können eine eigentliche Rarität darin sehen. Die Yacht gehört einem irischen Major O'Flinn, wie er sich nennt. Wie er zu dem O kömmt, weiß ich nicht, aber er ist ein guter und unterhaltender Kerl. Sehen Sie ihn dort hinten? Er hat den größten Backenbart, den ich je gesehen – aber von ihm wollte ich nicht sprechen. Warten Sie noch ein wenig, und so bald das Raasegel aus dem Wege ist, werden Sie seine Frau bemerken. Ein wahres Monstrum! Ich glaube, sie wiegt mehr, als das Rinozeros auf der Postdown-Messe.«
Als das Fahrzeug näher kam, unterschied ich eine ungeheure Weibsperson in himmelblauem seidenen Kleide, die einen großen himmelblauen Sonnenschirm über dem Kopfe hielt; den Hut hatte sie, wahrscheinlich der Hitze wegen, abgenommen.
»Der Major war in der That ein verwegener Mann,« versetzte ich, »denn sie ist ein wahrhaftiges Ungeheuer. Ich glaube übrigens, dieses Gesicht schon früher gesehen zu haben.«
»Dem Vernehmen nach ist sie die Tochter eines Proviantmeisters, und gewaltig reich,« erwiederte mein Freund.
Mit einemmale erinnerte ich mich wieder. »Ja, ja,« versetzte ich. »Sie ist mir jetzt bekannt. Vordem hieß sie Culpepper.«
»Das war ihr Name,« entgegnete er; »ich entsinne mich jetzt.«
Auch der Leser hat vielleicht Miß Medea noch nicht vergessen, welche so gut wußte, wie man etwas zusammenhalten muß. Ihre Mutter mochte wohl längst in ihrem eigenen Fett erstickt sein – ein Schicksal, dem wohl auch Mrs. O'Flinn nicht entgehen wird. Die Dame erkannte mich nicht, was ich indeß nicht sehr bedauerte, da sie mir von früheren Zeiten her in den Tod zuwider war. Ich ging nach vorn, und meine Gedanken kehrten zu der Zeit zurück, als meine Mutter mich zum erstenmal herunterbrachte, damit ich eingeschifft werde, und Bob Croß mich in seine Obhut nahm. Des letztern Name erinnerte mich an das Versprechen, das ich dem Hochbootsmann gegeben hatte, bei seiner Hochzeit gegenwärtig zu sein, und diese sollte am folgenden Tage statthaben – ein Umstand, dessen ich ganz vergessen hatte. Sofern hatte mir also Mrs. O'Flinn am Ende doch einen guten Dienst geleistet, denn wäre sie mir nicht, wie eine elephantenartige Cleopatra einhersegelnd in den Weg gekommen, so würde ich meine Zusage wahrhaftig ganz verabsäumt haben.
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