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Fortsetzung 74

Jetzt war Fritz reisefertig. Er hatte einen neuen Anzug angelegt und machte eine sehr gute Figur, dieser Wachtmeister Fritz. Er begab sich nach dem Bahnhofe und lößte sich ein Retourbillet zweiter Classe. Er konnte sich dies bieten.

In Trier angekommen, hatte er so viel Zeit, daß es ihm nicht einfallen konnte, auf dem Bahnhofe zu warten. Er machte also einen Rundgang durch die Stadt und begab sich dann in das erste Hotel derselben, wo er sich eine Flasche Wein geben ließ. Außer ihm befand sich nur noch ein einziger Gast im Zimmer.

Dieser war ein Mann von entschieden fremdländischem Aussehen. Sein Teint war dunkel und sein Haar kraus. Ein prachtvoller Schnurrbart zierte seine Oberlippe. Er machte einen hocharistokratischen Eindruck und war ein wirklich schöner Mann. Sein Auge war feurig, und seine Bewegungen zeugten von Kraft und Gewandtheit. Seine Kleidung und Wäsche war die eines reichen Mannes, der sich zu tragen weiß. Er mochte vierzig oder sehr wenig mehr zählen, hätte aber, um das Herz einer Dame zu erobern, getrost mit einem Jüngling in die Schranken treten können.

Er las die Zeitung, langweilte sich aber offenbar, denn er legte das Blatt von Zeit zu Zeit fort und warf einen ungeduldigen Blick zum Fenster hinaus. Während einer solchen Lesepause musterte er Fritz. Dieser schien einen befriedigenden Eindruck auf ihn zu machen, denn er erhob sich, schritt einige Male im Zimmer auf und ab und wendete sich dann mit der Frage an den Wachtmeister:

»Entschuldigung, Monsieur, auch Sie scheinen hier nicht eingeboren zu sein.«

»Nein. Ich bin hier fremd,« erwiderte Fritz sehr höflich.

»Sind Sie aus dem Süden oder dem Norden?«

»Aus dem Süden, Monsieur.«

»Weit von hier?«

»Nicht sehr.«

»Dann sind Sie zu beneiden. Das Reisen ist zuweilen eine viel größere Anstrengung für den Geist als für den Körper. Die Einförmigkeit der Fahrt, die Gleichheit des Hôtellebens ist geradezu schrecklich. Da sitze ich und warte, bis der Zug nach Metz abgeht. Welche Langeweile. Was thut man dagegen.«

Seine rasche Sprache, seine ungeduldigen Bewegungen, das reiche, interessante, Spiel seiner Mienen, Alles dies zeigte den Südländer an.

»Sie reisen nach Metz?« fragte Fritz.

»Nicht ganz. Ich steige in Thionville aus.«

»Dorthin gehe ich zunächst auch. Ich bin aus Thionville, obgleich ich heute weiter fahre.«

»Aus Thionville, Monsieur? Ah, erlauben Sie, daß ich mich zu Ihnen placire?«

»Gewiß! Man ennuyirt sich zu Zweien weniger.«

»Mit welchem Zuge fahren Sie?«

»Halb zwölf.«

»Ich ebenso. Ist Ihnen die Umgegend von Thionville bekannt?«

»Einigermaßen.«

»Kennen Sie den Namen Ortry?«

»Ja. Es ist ein Schloß in der Nähe der Stadt.«

»Wem gehört es?«

»Einem Baron de Sainte-Marie.«

»Wohnt dort nicht auch ein alter Herr, welcher Capitän der Garde des ersten Kaiserreiches gewesen ist?«

»Jedenfalls meinen Sie Capitän Richemonte?«

»Ja, diesen.«

»Er wohnt allerdings auf Schloß Ortry.«

»Ist er jetzt dort anwesend?«

»Ja. Ich habe ihn erst gestern gesehen.«

»Das ist mir lieb. Ich muß zu ihm. Sind Sie ihm vielleicht persönlich bekannt?«

»Nein. Wir stehen einander ziemlich fern.«

»Aber seine Verhältnisse kennen Sie?«

»Nur von Hören-Sagen.«

»Ist er reich?«

»Darüber wage ich nicht, ein Urtheil zu fällen.«

»Er soll ein großer Patriot sein?«

»Das ist wahr; vornehmlich ein Feind der Deutschen.«

»Das hörte ich. Man sagt, daß er sogar mit Personen des kaiserlichen Hofes in Verbindung stehe?«

»Haben Sie dabei einen gewissen Namen im Sinne?«

»Graf Rallion?«

»Ja. Sie kennen sich. Der Graf war jetzt einige Tage hier, wird aber heute abgereist sein.«

»Wie schade.«

»Sein Sohn, der Oberst ist noch anwesend.«

»Das beruhigt mich. Es wurde mir erzählt, daß der alte Capitän Richemonte den Mittelpunkt gewisser Agitationen bilde?«

Bei dieser Frage blickte er Fritz durchdringend an.

»Ja. Er versammelt Alle um sich, welche sich auf einen Krieg mit Deutschland freuen.«

»Sind Sie auch bei diesen Versammelten?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil ich nicht zu denen gehöre, welche sich überhaupt über einen Krieg freuen können, Monsieur.«

»Aber man ist doch Patriot.«

»Und kann dabei die schönsten Hiebe erhalten.«

»Pah! Frankreich wird siegen!«

»Möglich.«

Fritz sagte das, indem er so gleichgiltig mit der Achsel zuckte, als ob ihm das Alles ganz und gar nichts angehe.

»Möglich, sagen Sie?« fuhr der Fremde fort. »Wahrscheinlich, ja sogar gewiß ist es, daß Frankreich siegt. Wer das Gegentheil sagt, der kennt die Franzosen nicht!«

»Und die Deutschen wahrscheinlich noch weniger.«

Der Fremde fuhr ganz erschrocken auf.

»Was!« rief er. »Meinen Sie etwa, daß die Preußen den Franzosen überlegen seien?«

»Was läßt sich da sagen? Sie haben sich noch nicht gemessen. Der Preuße hat sich mit dem Dänen, dem Oesterreicher, dem Bayer, Würtemberger und Badenser gemessen und hat gesiegt. Der Franzose hat sich dem Oesterreicher, dem Russen, dem Mauren, dem Chinesen und Mexikaner als überlegen gezeigt. Nun aber lassen wir diese Beiden wirklich an einander gerathen, so wird sich zeigen, wer den Anderen niederringt.«

»Monsieur, Sie sind ein schlechter Patriot.«

»Wir befinden uns hier auf deutschem Boden. Man muß vorsichtig sein.«

»Pah! Wir sprechen unter uns und Niemand weiter ist zugegen. Ich bin so überzeugt von dem Kriege zwischen Frankreich und Preußen und von unserm Siege, daß ich von sehr weit herkomme, um dem Vaterlande meine Kräfte anzubieten.«

»Vielleicht bringen Sie da ein Opfer, welches Sie später bereuen werden.«

»Ich werde es nicht bereuen. Ich bin stolz auf mein Vaterland, obgleich ich in demselben sehr unglücklich gewesen bin. Ich hasse die Deutschen, ich hasse sie.«

Sein schönes, großes dunkles Auge schleuderte dabei einen Blitz, vor welchem man hätte erschrecken können. Dann fragte er:

»Sie sind wohl ein Freund der Deutschen?«

Fritz streckte behaglich seine starke, kräftige Gestalt, zog die Achseln empor und antwortete:

»Ich lasse alle Nationalitäten gelten. Ich bin kein Menschenfresser. Jedes Individuum und so auch jedes Volk hat die Berechtigung zu existiren. Man verkehrt, wenn man ein gebildeter Mann ist, mit jedem Menschen höflich; in ganz derselben Weise so auch die Völker unter einander verkehren.«

»Was Sie da sagen, klingt ganz gut, ganz schön, ganz vortrefflich. Aber dazu gehört ein Blut, welches sehr, sehr langsam durch die Adern rollt. Sie sind nicht im Süden geboren?«

»Nein.«

»Nun, dann haben Sie keine Ahnung von der Frequenz und der Gluth unseres Pulsschlages. Wir Südländer lieben mit Feuer und hassen mit verzehrenden Flammen. Haben Sie einmal geliebt?«

»Hm! Ja!«

»Sind Sie verheirathet gewesen oder noch verheirathet?«

»Nein.«

»Haben Sie Kinder gehabt, schöne, liebe, herzige Kinder, die Ihre Abgötter gewesen sind?«

»Folglich auch nein!«

»Nun, dann dürfen Sie auch nichts sagen, dann müssen Sie schweigen; dann können Sie zwischen Frankreich und Deutschland nicht unterscheiden.«

Er war aufgesprungen und schritt erregt im Zimmer auf und ab. Er war der ächte Typus des Südländers: schön, rasch, glühend, muthig, sogar herausfordernd, aufrichtig, unmittelbar, sich ohne Rückhalt und Bedenken gebend.

Fritz dagegen ließ ein breites, behagliches Lächeln sehen und fragte:

»Welchen Unterschied giebt es denn eigentlich zwischen diesen Beiden? Ist das Eine verheirathet und das Andere nicht? Hat das Eine schöne, liebe, herzige Kinder, die man wie Abgötter liebt und das Andere dumme, häßliche Krethins und Wechselbälge, welche nicht werth sind, daß man sie erblickt?«

»Sie übertreiben! Sie verstehen mich falsch! Wissen Sie, ich hatte eine Frau, ein Weib; sie war eine Deutsche. Ist damit nicht Alles gesagt?«

»Ja. Man sagt, daß die deutsche Frau ein Muster der Treue, Häuslichkeit, Sparsamkeit und Unbescholtenheit sei, eine zärtliche Frau und eine liebevolle, verständige Mutter, die sich allerdings keine Abgötter erzieht.«

»Monsieur, da haben Sie mit schlechten Pferden gepflügt. Die, welche mein Weib wurde, trug allerdings einen französischen Namen, war aber trotzdem eine Deutsche. Ich liebte sie abgöttisch und – –«

»Ah, wieder ein Abgott!« lächelte Fritz.

»Ja, sie war mein Idol, meine Göttin. Ich sollte meinem Vater eine Andere bringen; ich gehorchte ihm nicht, da ich diese Deutsche liebte und wurde verstoßen.«

»Blos deshalb, weil sie eine Deutsche war?«

»Ja.«

»Da möchte ich ein Wörtchen mit Ihrem Vater sprechen, aber im Vertrauen, so unter vier Augen, ohne Zeugen, damit man später nicht in Ungelegenheiten kommt.«

»Herr, er hatte Recht.«

»Wieso?«

»Sie schenkte mir zwei Töchter, wahre Bilder, sonnige, liebliche Töchter – –«

»Nun, das war ja sehr schön und lobenswerth von ihr!«

»Hören Sie weiter. Eines Tages mußte ich verreisen. Ich blieb lange Zeit abwesend, Monate lang, fast ein ganzes Jahr.«

»Das ist freilich unangenehm, wenn man die Seinen lieb hat; das kann ich mir denken.«

»Als ich zurückkehrte, war meine Frau verschwunden.«

»Donnerwetter!«

»Und die Kinder mit!«

»Himmeldonnerwetter! Wohin?«

»Weiß ich es?«

»Haben Sie nicht gesucht und geforscht?«

»Monate lang, Jahre lang, Tag und Nacht!«

»Und Nichts gefunden?«

»Keine Spur!«

»Da haben Sie jedenfalls nicht richtig gesucht. Eine Frau und zwei Kinder verschwinden nicht, ohne so eine Art von kleiner Fährte zurückzulassen.«

»Sie hatte alle Ursache, jede Spur zu verbergen und zu vertilgen.«

»Wieso?«

»Sie ging mit einem Anderen durch.«

»Alle Teufel!«

»Ja. Sie war eben eine Deutsche!«

»Hören Sie, Monsieur, haben Sie etwa die Ansicht, daß alle deutsche Frauen ihren Männern durchgehen?«

»So ziemlich.«

»Dann sind Sie es freilich werth, daß Ihnen die Ihrige durchgebrannt ist.«

»Monsieur!« rief der Fremde drohend.

»Ach was, Monsieur hier und Monsieur dort! Sie sagen, was Sie denken und ich sage, was mir beliebt, damit sind wir fertig.

Haben Sie denn übrigens Beweise, daß Ihre Frau mit einem Anderen durchgegangen ist?«

»Ja.«

»Welche?«

»Mein Vater und Andere sagten und bewiesen es mir!«

»Ihr Vater? Der Sie wegen ihr verstieß? Ah, das ist ja recht interessant. Wer war denn der Hallunke, der sie Ihnen entführte?«

»Ein Unbekannter.«

»Sehr schön! Also der berühmte Unbekannte, der Alles thut, was dann Anderen aufgebürdet wird. Und die Kinder nahm sie mit?«

»Ja, beide.«

»Hören Sie, Monsieur, ich glaube, daß da Ihre südliche Natur Ihnen mit dem Verstande fortgelaufen ist. Haben Sie denn Alles reiflich und weislich geprüft?«

»Alles, Alles!«

»Na, dann werde der Teufel daraus klug. Ich will mich fressen lassen, wenn eine Deutsche so leicht durchbrennt, wie eine Südländerin! Mir würde meine Frau nun erst gar nicht abhanden kommen. Sodann ist Ihr Vater Ihr Zeuge und Gewährsmann, Ihr Vater, der nicht gewollt hat, daß Sie diese Deutsche heirathen sollten? Das ist wenigstens bedenklich. Und endlich hat Ihre Frau die Kinder mitgenommen? Eine leichtsinnige Frau, die ihrem Manne davonfliegt, pflegt ihm die Kinder zurück zu lassen.«

»Sie hat sie eben lieb gehabt.«

»Schön! Sie hat also Herz besessen. Sie ist eine gute Mutter gewesen. Eine brave Frau aber nimmt einem guten Manne seine Kinder nicht weg, zumal wenn sie eine Deutsche ist. Geht sie mit den Kindern von ihm fort, so hat sie ihre Gründe dazu und thut es sicherlich mit blutendem Herzen. Hat Sie Ihnen denn Nichts, gar nichts zurückgelassen?«

»Einen Brief, ein elendes, kaltes, nichtssagendes Schreiben.«

»Das haben Sie sich natürlich heilig aufgehoben?«

»Wozu? Das ist mir ganz und gar nicht eingefallen. Ich habe ihr Portrait und ihren Brief meinem Vater zum Vernichten zurückgelassen und bin ausgezogen, meine Kinder zu suchen.«

»Ohne sie zu finden.«

»Wie ich bereits sagte!«

»Verzeihung! Wie alt waren Sie, als Sie heiratheten?«

»Zwanzig Jahre.«

»Und als Ihre Frau Sie verließ?«

»Zweiundzwanzig.«

»Und Ihre Frau war noch jünger?«

»Zwei Jahre.«

»Ja, so Etwas kann, wie es scheint, einem Südländer recht gut passiren. Er verliebt sich mit achtzehn Jahren, macht seinem Mädchen Wunder was vor, heirathet mit zwanzig gegen den Willen des Vaters, verreist mit einundzwanzig auf ein Jahr, läßt die arme Frau mit zwei Kindern während dieser langen Zeit schutzlos zurück, allen Angriffen und Intriguen preisgegeben, findet sie dann verschwunden, glaubt den Schwindel, den man ihm vormacht, und schimpft nun auf Deutschland, daß es pufft! Hören Sie, Monsieur, ich bin jedenfalls ein anderer Kerl, als Sie damals waren, aber solche Dummheiten sind mir denn doch nicht eingefallen.«

»Monsieur!« rief der Fremde abermals drohend.

»Ach was. Wollen Sie mich wirklich fressen, so wünsche ich Ihnen gesegneten Appetit. Etwas unverdaulich bin ich aber, das muß ich Ihnen bemerken. Wohin sind Sie denn gelaufen um Ihre Kinder zu suchen?«

»Durch ganz Frankreich, durch England und Amerika.«

»Ohne allen Anhalt? Ohne den Namen des sogenannten Verführers zu kennen?«

»Wie sollte ich ihn erfahren haben?«

»Hm! Die reine Flamme, der reine Wind und das reine Wasser! Wenn das zusammenkommt, so kocht und zischt und sprudelt es über den Rand und Deckel hinweg, und wenn dann die Suppe fertig ist, so ist sie angebrannt und man verdirbt sich den Magen. Und nachher? Was hatten Sie dann angefangen?«

»Interessirt Sie das?« fragte der Fremde, der es nicht leiden mochte, daß Fritz sein Verhalten in dieser Art und Weise beleuchtete.

»Hm, ganz und gar nicht,« antwortete dieser.

»Warum fragen Sie da?«

»Weil Sie selbst mit diesem Gespräche begonnen haben. Habe ich Sie etwa aufgefordert, mir die Geheimnisse Ihres Herzens und Lebens mitzutheilen? Sie haben das Gespräch angefangen. Sie haben mich nach allem Möglichen gefragt, und nun ich aus reiner Höflichkeit an der Unterhaltung festhalte, thun Sie piquirt und beleidigt! Ist das im Süden so gebräuchlich?«

»Monsieur, sparen Sie Ihre Fragen.«

»Gut, so brauchen Sie nicht zu antworten. Gehen Sie zu Ihrer Zeitung zurück, und lassen Sie mich in Ruhe!«

»Sie werden grob?«

»Ja; das ist so meine Gewohnheit! Wenn ich mich über einen Menschen freue, so werde ich grob; aber nämlich da bin ich es allemal selbst, über den ich mich freue.«

»Gut! Brechen wir ab! Sie sind mit den Regeln des Anstandes und der Höflichkeit noch nicht bekannt.«

»Das ist Ihr Glück, denn sonst würde ich mich versucht fühlen, Ihnen diese Regeln beizubringen.«

Er wendete sich kaltblütig ab. Der Fremde aber konnte nicht zu Ruhe kommen. Er ging im Zimmer auf und ab; seine Brust arbeitete und seine Augen sprühten Blitze. Endlich setzte er sich doch wieder zu seiner Zeitung nieder.

Fritz trank langsam seine Flasche aus, rief den Kellner, um zu zahlen und ging fort, ohne dem Andern einen Gruß zu gönnen. Er begab sich auf den Bahnhof, um die Ankunft des Zuges zu erwarten.

Einige Zeit, nachdem er es sich im Wartezimmer bequem gemacht hatte, kam auch der Südländer. Beide nahmen keine Notiz von einander.

Das Zeichen ertönte; der Zug nahte und die Glocke läutete zum ersten Male. Alles eilte nach dem Perron. Fritz nahm sich Zeit. Er wußte, daß der Bedächtige und dabei Umsichtige immer am ersten kommt. Der Zug fuhr vor und die Coupees wurden geöffnet.

»Fünf Minuten Aufenthalt!« riefen die Schaffner.

Eben wollte Fritz auf den Perron treten, als ein Anderer durch die Thür geschossen kam. Es war ein kleiner, sehr dicker Kerl mit einem riesigen Calabreserhut auf dem Kopfe. Er hatte es so eilig, daß er sich gar keine Zeit nahm, Fritz zu bemerken. Darum rannte er mit aller Gewalt gegen diesen an, taumelte zurück, glitt aus, stürzte zur Erde und setzte sich dabei auf seinen goldenen Klemmer, der ihm bei der Carambolage von der Nase gerutscht war.

»Himmeldonnerwetter!« fluchte er. »Was stehen Sie denn da, wie ein Oelgötze! Können Sie nicht Platz machen?«

»Männchen, Männchen,« antwortete der Oberwachtmeister lachend. »Stehen Sie auf, gehen Sie heim, und sündigen Sie hinfort nicht mehr, sonst wird Ihnen etwas noch viel Aergeres widerfahren. Dieses Mal ist nur Ihr Klemmer zum Teufel gegangen.«

Der Dicke blickte nieder, erhob sich einen Zoll und zog das optische Instrument unter sich hervor.

»Himmelelement!« rief er. »Beide Gläser in Stücke! Da muß der Teufel drinnen sitzen! Sie alter, großer Urian sind an dem ganzen Unglücke schuld!«

»Das ist wahr, denn wenn ich nicht dagestanden hätte, so wären Sie so gütig gewesen, an einen Anderen zu rennen. Welchen Namen darf ich denn eigentlich beim heutigen Datum in mein Stammbuch schreiben?«

»Ich heiße Hieronymus Aurelius Schneffke; das ist doch klar wie Pudding! Ich bin – Herrjesses, ich soll ja einen kleinen Imbiß für die Damen bestellen. Es läutet bereits zum zweiten Male! Er raffte sich, so schnell als es ging vom Boden auf und eilte in gerader Richtung weiter, auf die nächste Thür zu. Er öffnete und rief hinein:

»Zwei kalte, deutsche Beafsteaks mit Zubehör! Aber schnell!

Es hat Eile! »Wollen Sie das telegraphiren, mein Lieber? Wohin denn?« so fragte eine Stimme.

Er blickte auf und sah zu seinem Schreck, daß er in das Telegraphenbureau gerathen war.

»Heiliges Pech! Rechtsumkehrt!« rief er und warf die Thüre zu. »Aber wo ist denn – – –? Ah, hier! Da steht es: Re – re – – ja ja, das muß die Restauration sein! Schon vier Minuten vergangen!«

Er riß diese andere Thüre auf und befahl, indem er eintrat:

»Zwei deutsche Beafsteaks nebst Zubehör! Aber fürchterlich schnell! Es hat die höchste Eile!«

Dabei zog er sein Portemonnaie hervor, öffnete es und erkundigte sich, indem er sich gleich mit der bloßen Hand den Schweiß von der Stirn wischte:

»Was kosten beide?«

Keine Antwort.

»Was sie kosten?«

Er vernahm kein Wort. Nun strengte er seine Aeuglein, welche er nicht mit Gläsern bewaffnet hatte, weil diese zerbrochen waren, an und sah zu seinem Schreck, daß sich kein einziger Mensch in dem Raume befand. Er fuhr also wieder hinaus und versuchte, die Schrift zu enträthseln.

»Re – re – reser – serviertes Zimmer,« las er. »Da hört doch Alles und Verschiedenes auf! Denke ich da, weil es mit Re anfängt, muß es Restauration heißen! Nun aber eiligst, eiligst!«

Unterdessen war Fritz auf den Perron getreten und hatte sich nach den Waggons erster und zweiter Classe umgesehen. Er schritt auf dieselben zu. Ein Coupee stand offen; er warf einen Blick hinein und erkannte – Madelon. Ja, das war sie, an der Seite einer anderen, aber verschleierten Dame. Rasch stieg er ein.

»Ihr Diener, Fräulein Köhler!« grüßte er.

»Ihr – – Herr Wachtmeister!« rief sie. »Ist's möglich! Was thun Sie hier in Trier?«

»Fritz, Fritz!« rief da die Andere, indem sie schnell den Schleier zurückwarf.

»Gnädiges Fräulein! Wie, Sie hier! O, das ist eine Ueberraschung! Aber, wie ich sehe, sind Sie nicht allein? Hier befindet sich ein fremder Handkoffer.«

»Ein kleiner Maler reist mit ans. Er will uns mit kalten Beafsteaks ergötzen.«

»Ah, der Dicke, der mit mir zusammenrannte, zu Boden stürzte und seinen Klemmer zerquetschte?«

»Ist er wieder gestürzt?«

»Ja.«

»Von Berlin aus das achte Mal! Aber, Fritz, ist Ihre Anwesenheit eine zufällige?«

»Nein. Ich habe von Mademoiselle Nanon den Befehl, Fräulein Madelon zu empfangen und – ah, da kommt noch ein Passagier! Unterwegs das Weitere! Erlauben Sie mir, mich Ihnen gegenüber zu setzen, Fräulein Köhler!«

Der, welcher jetzt in das Coupe stieg, war der Fremde, welcher mit Fritz im Hotel die Unterredung gehabt hatte. Er grüßte artig und nahm Platz.

Der dicke Maler hatte während dieser Zeit endlich glücklich die Worte: »Wartezimmer zweiter Classe« gefunden.

Eben wollte er die Thür öffnen, da läutete es zum dritten Male und die Maschine ließ einen gellenden Pfiff hören.

»Donner und Doria, jetzt pressirt's bedeutend!« rief er und stürzte in das Zimmer. Er riß einen Stuhl um und segelte in größter Angst und Eile auf das Buffet zu.

»Zwei deutsche Beafsteaks mit Zubehör! Aber schnell, schnell! Es ist keine Secunde zu verlieren!«

»Warm oder kalt?« fragte man.

»Donnerwetter! Kalt natürlich! Was kosten sie?«

»Zwölf Groschen Beide.«

»Hier!«

Er warf das Geld auf den Tisch.

»Das langt nicht, Verehrtester!«

»Nicht? Wieso?«

»Das ist kein Achtgroschenstück, sondern ein Dreier.«

»Der Kukuk hole alle Dreier und Achtgroschenstücke!«

Er verbesserte den Fehler und griff nach den Tellern.

»Adieu!« rief er und sprang davon.

»Halt! Sollen die Beafsteaks in's Coupe?«

»Ja!« brüllte er zurück.

Seine Stimme klang vor Angst und Wuth wie diejenige eines angeschossenen Löwen.

»So lassen Sie das Porzellan und Messer und Gabeln hier, mein Herr!«

»Habe keine Zeit! Damit war er zur Thür hinaus. Ein Kellner lief ihm nach.

Sämmtliche Coupe's waren bereits geschlossen, und der Zug setzte sich eben in Bewegung. Die beiden Damen hatten dem Schaffner gemeldet, daß ein Passagier fehle; er hatte auch so lange wie möglich gewartet, aber nun war es nicht länger gegangen.

Den Mädchen that der eigenthümliche, aber doch herzensgute Reisegefährte leid. Sie standen am Fenster. Da kam er aus der Thür gesprungen, mit gleichen Beinen, und in jeder Hand einen Teller.

»Halt! Halt! Die Beafsteaks!« brüllte er mit Riesenstimme. »Ich muß auch noch mit!«

Alle Köpfe fuhren neugierig an die Fenster.

»Zurück!« rief der Inspector. »Es ist zu spät!«

»Unsinn! Ich habe bezahlt!«

Er stürzte vorwärts.

»Die Teller her, die Teller!« rief es hinter ihm.

Der Kellner war es, der ihn einzuholen trachtete. Herr Hieronymus Aurelius Schneffke blickte sich wüthend um; das war die Ursache, daß ihn sein Verhängniß abermals ereilte. Der pflichteifrige Schaffner hatte nämlich, als der Maler nicht erschien und es die höchste Zeit gewesen war, den Koffer des Säumenden noch aus dem Coupee gerissen und ihn auf den Perron gestellt. Gerade als Hieronymus Angesichts seiner beiden Damen den bereits sich bewegenden Wagen erreichte, blickte er sich nach dem Schaffner um; er sah den Koffer nicht und stolperte über denselben weg. Hut, Teller, Messer und Gabeln, Senf Büchse und Beafsteaks flogen fort; er selbst aber kollerte eine ganze Strecke auf dem Boden hin. Als er endlich fest auf dem Bauche lag, kam ihm die oft bewährte Geistesgegenwart. Er richtete sich halb empor und rief, indem er den Blick auf das offene Fenster seines verlorenen Paradieses richtete:

»Meine verehrtesten Damen, ich ergreife mit Freuden die Gelegenheit, mich Ihrem geneigten –«

Die übrigen Worte konnte man nicht hören. Sie verhallten im Kreischen der Räder und im Gelächter der zahlreichen Zeugen seiner spaßhaften Niederlage.

»Zum neunten Male!« sagte Emma, indem sie wieder Platz nahm.

Ihr gegenüber saß der Fremde, während Fritz bei Madelon Platz genommen hatte. Diese Letztere konnte sich noch immer nicht das Wunder seiner Anwesenheit erklären, während er nicht wußte, wie er es sich zu deuten habe, daß Fräulein von Königsau mitgekommen war.

»Sie sagen, daß Nanon Sie geschickt habe?« fragte ihn Madelon in gedämpftem Tone.

»Ja, so ist es, Fräulein,« antwortete er. »Kennen Sie sie denn?«

»Ja, sehr gut.«

»Sind Sie etwa in Ortry gewesen?«

»Vorüber gegangen bin ich. Werden Sie hingehen?«

»Auf der Rückreise, ja.«

»Dann bin ich gezwungen, Ihnen ein Geheimniß mitzutheilen. Wollen Sie mir Ihr Ehrenwort geben, es zu verschweigen?«

»Gern!«

»Herr Rittmeister von Königsau ist dort.«

»Ich weiß es bereits.«

»Wirklich? Wer hat es Ihnen gesagt?«

»Fräulein Emma.«

»Wissen Sie auch die Gründe seiner Anwesenheit dort?«

»So ziemlich.«

»Um Gotteswillen!«

»Haben Sie keine Sorge! Ich halte es mit Deutschland, lieber Herr Wachtmeister!«

»Pst! Ich bin nicht Wachtmeister sondern Pflanzensammler! Die Hauptsache ist, daß Mademoiselle Nanon keine Ahnung haben darf, wer ich bin und wer der Herr Rittmeister ist!«

»Darf sie auch nicht wissen, daß wir uns kennen?«

»Auf keinen Fall!«

»Ich habe sie nach dem Bahnhofe von Thionville bestellt.«

»Sie wird Sie dort erwarten.«

»Und gleich mitfahren?«

»Ja. Ich werde das Vergnügen haben, Sie zu begleiten.«

»Ah! Schön! Aber wie kommt das?«

»Mademoiselle Nanon war so gütig, sich meinem Schutze anzuvertrauen.«

»Das sind Räthsel, auf deren Lösung ich gespannt bin.«

»Ich hoffe, daß die Lösung nicht übermäßig lange auf sich warten lassen wird. Aber bitte, sagen Sie mir, was die Gegenwart des gnädigen Fräuleins zu bedeuten hat.«

»Das ist ein Räthsel für Sie, auf dessen Lösung Sie ebenso warten müssen wie wir.«

»Schön! Ich füge mich. Aber, will sie nach Ortry?«

»Ich glaube.«

»Sapperment! Das ist gefährlich. Weiß der Herr Rittmeister, daß sie kommt?«

»Kein Wort!«

»So ist das – verzeihen Sie mir – eine Unvorsichtigkeit. Ah, dieser Kerl macht sich an sie?«

»Wer ist er?«

»Ein Südländer, der die Deutschen haßt, weil seine Frau eine Deutsche war und ihm mit zwei Kindern davongelaufen ist.«

»O weh! Der Arme!«

Sie warf dabei einen mitleidigen Blick zu Dem hinüber, von welchem die Rede war, was dem guten Fritz nicht gar sehr gefallen wollte.

Der Fremde hatte bisher Emma gemustert. Ihre Erscheinung machte einen augenblicklichen, unmittelbaren und tiefen Eindruck auf ihn. Sie war schön. Sie glich ganz der Figur eines Germaniabildes. Sie saß da so rein, so mild und doch so selbstbewußt und kräftig. Er konnte das Auge nicht von ihr wenden.

Und ihr erging es mit ihm fast ebenso. Dieses Eigenartige in seiner Erscheinung frappirte sie. Er hatte etwas Leidendes und doch auch wieder Trotziges an sich und war dabei ein selten schöner Mann. Auf sein Alter hin taxirte sie ihn gar nicht. Ein Mann fragt sich beim Anblicke einer Dame fast stets, wie alt sie ist. Eine Dame thut dies einem Herrn gegenüber nicht, wenigstens nicht sogleich. Sie läßt das Wesen und nicht das Alter auf sich einwirken. Ein junger Backfisch kann sich sterblich in einen silberhaarigen Mann verlieben.

So trafen und begegneten sich ihre Blicke, bis Emma sich an Madelon mit der Frage wendete:

»Wie heißt die nächste Station?«

»Wellen, mein Fräulein,« antwortete schnell der Fremde. »Ueber Karthaus sind wir bereits hinweg.«

»Ich danke Ihnen, Monsieur!«

Sie verneigte sich bei diesen Worten leicht. Er zog sogleich sein Täschchen und reichte ihr eine Visitenkarte. Sie las den Namen »Benoit Deep-hill, New Orleans.«

Auch sie griff in ihr Täschchen. Aber durfte sie ihren wirklichen Namen merken lassen? Es war leicht möglich, daß dieser Herr nach Thionville ging oder gar mit Ortry in Beziehung stand. Sie hatte noch die Karte einer Freundin, einer Engländerin, bei sich und reichte ihm diese hin. Er las: »Miß Harriet de Lissa, London.«

»Ah, Sie sind Engländerin, Mademoiselle?« fragte er, sichtlich erfreut über diese Entdeckung.

»Ja,« antwortete sie, indem sie leicht erröthete.

»Das weckt sehr liebe Erinnerungen in mir. So oft ich in London war, habe ich mich der wahrhaft großartigen Gastfreundschaft Ihrer Landsleute zu erfreuen gehabt. Das thut so wohl, wenn man ein Fremdling ist allüberall.«

Das klang so traurig, und sein Auge nahm dabei einen so trüben Ausdruck an. Sie fühlte, daß dieser Mann sehr viel gelitten haben müsse.

»Sollte Ihnen die Heimath verloren gegangen sein, Monsieur?« fragte sie.

»Leider! Die Heimath und die Familie.«

»Dann beklage ich Sie! Wer dieses Beides missen muß, dem ist das Edelste und Beste versagt. Doch kann man Verlorenes ja wiederfinden und Eingestürztes von Neuem errichten!«

»Wer baut gern auf Trümmern! Ein Glück ist da nicht mehr zu erwarten.«

Er wendete sich halb ab und richtete den Blick durch das Fenster. So konnte sie sein Profil bewundern. Was war es doch, das an diesem Manne einen solchen Eindruck auf sie machte? Sie bemerkte, daß auch Madelon den Blick kaum von ihm wendete.

Sie spielte mit seiner Karte; dabei entglitt dieselbe ihrer Hand, ohne daß er es bemerkte. Fritz sah es und bückte sich rasch, um sie diensteifrig aufzuheben. Dabei fiel sein Auge auf den Namen. Er machte eine Bewegung der Verwunderung und gab die Karte dann zurück. Der Fremde war nun doch aufmerksam geworden; er bemerkte den Blick, welchen Fritz auf ihn warf, und zuckte, aber kaum bemerkbar, die Achsel. Das konnte der ehrliche Wachtmeister nicht auf sich sitzen lassen.

»Entschuldigung!« sagte er. »Ist das Ihre Karte, Monsieur?«

»Wessen sonst?« antwortete der Gefragte rauh.

»Sie heißen wirklich Deep-hill?«

»Ja.«

»Sie kommen aus New-Orleans?«

»Ja. Aber was berechtigt Sie zu diesen Fragen, nachdem wir uns bereits zur Uebergenüge ausgesprochen haben?«

»Sie werden mir schon erlauben müssen, mich für Sie zu interessiren!

»Ich kann Sie nicht hindern, aber verbieten kann ich es Ihnen, mir dieses Interesse zu zeigen.«

»Verbieten können Sie es; ich werde mich aber nach diesem Wunsche ganz und gar nicht richten.«

»Monsieur!«

»Pah! Gerathen wir nicht wieder an einander! Ich habe Sie gesucht, und jedenfalls ist es ein Glück für Sie, daß ich Sie gefunden habe.«

Der Amerikaner konnte sein Erstaunen nicht verbergen.

»Ein Glück für mich?«

»Ja.«

»Daß ich Sie treffe?«

»Allerdings.«

»Das ist ja interessant! Sie haben meine Karte gelesen. Darf ich wissen, wer Sie sind, Monsieur?«

»Eine Karte kann ich Ihnen nicht geben. Mein Stand rechnet solche Dinge zu den Luxussachen; aber sagen kann ich Ihnen, daß ich als Kräutersammler bei Doctor Bertrand in Thionville engagirt bin.«

Das Erstaunen des Fremden verdoppelte sich. Sein südliches Wesen, welches gewohnt war, sich rücksichtslos ganz so zu geben, wie es war, konnte auch hier nicht widerstehen.

»Glückliches Land, wo die Kräutersammler erster und zweiter Classe fahren können und dürfen,« sagte er.

»Das gebe ich zu. In anderen Ländern fahren flüchtige Bankdirectoren und ruinirte Oelprinzen erster Classe, Monsieur. Uebrigens ist zwischen einem Pflanzensammler und einem Dollarssammler kein gar so großer Unterschied. Es muß eben jeder Mensch das Recht haben, seine eigenen Liebhabereien derjenigen anderer Leute vorzuziehen. Meine Passion ist nun einmal das Pflanzensuchen und das ist ein großes Glück für Sie.«

»Aber Sie glauben wohl, daß ich das nicht begreife?«

»Ich glaube es und fordere daraus für mich das Recht und die Pflicht, mich Ihnen zu erklären. Nicht wahr, Sie werden in Ortry erwartet?«

»Ja.«

»Von dem Capitän Richemonte?«

»Ja.«

»Sie kommen im Interesse Frankreichs?«

»Monsieur, eine solche Frage darf ich Ihnen nicht gestatten, zumal Sie kein guter Franzose zu sein scheinen.«

»Ich sympathisire mit allen braven Franzosen, mein Herr! Sie tragen Millionen bei sich?«

Der Amerikaner fuhr überrascht zurück.

»Wer sagt das?« fragte er.

»Ich weiß es. Wollen Sie es bestreiten?«

»Ich kann es zugeben und dennoch bestreiten. Warum beschäftigen Sie sich mit dieser Thatsache?«

»Weil dieselbe für Sie verhängnißvoll werden kann; denn sie kann Ihnen das Leben kosten.«

»Herr, Sie scherzen!«

»Ich spreche im vollsten Ernste.«

»Wie kommen Sie zu Ihrer Behauptung?«

»Ich weiß ganz genau, daß man Sie tödten will, um Ihnen Ihr Geld abzunehmen.«

»Ah! Das sollte Einem doch schwer werden.«

»Auch Zweien oder Dreien?«

»Ich bin bewaffnet!«

»Was hilft Ihnen ein Revolver gegen die List und bei einem plötzlichen, unerwarteten Ueberfall?«

»Das ist wahr. Aber wer ist es, der mich tödten will?«

»Vielleicht könnte ich Ihnen antworten, aber ich ziehe es vor, Thatsachen sprechen zu lassen. Ich glaube nicht, daß Sie Ortry lebendig erreichen würden, wenn ich Sie nicht getroffen hätte. Ich bin Ihnen ja entgegen gereist, um Sie zu treffen und zu warnen.«

Die beiden Damen wußten nicht, was sie dazu sagen sollten. Sie schwiegen. Der Amerikaner wurde bedenklicher und fragte:

»Aber wie haben Sie von dem Anschlage erfahren?«

»Ich befand mich gestern Abend im Walde. Ich hatte mich verspätet und belauschte zufällig das Gespräch zweier Männer, welche in meine Nähe kamen. Sie sprachen davon, daß ein Master Deep-hill aus New-Orleans heute mit dem Mittagszug in Thionville eintreffen werde und Millionen bei sich trage. Sie redeten von einem Messerstiche, einem Griffe an die Kehle. Der Raub sollte getheilt werden. Sie sprachen ferner von einem Dritten, der bereits vor ihnen an Ort und Stelle sein sollte.«

»An welcher Stelle?«

»Das weiß ich leider nicht. Das Gespräch bewegte sich meist in Ausdrücken, welche mich vermuthen ließen, daß der Plan bereits bis in's Einzelne vorher besprochen worden war.«

»Haben Sie nicht sofort die Polizei benachrichtet?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Konnte sie mehr thun, als das, was ich gethan habe, nämlich Ihnen entgegen zu fahren, um Sie zu warnen?«

»Aber man konnte die Kerls ergreifen.«

»Das können wir jetzt wohl auch noch.«

»Mir ist es ein Räthsel, wie diese Strolche erfahren haben können, daß ich mit Millionen komme. Nur zwei Personen haben davon gewußt.«

»Ich kenne diese Beiden.«

»Wirklich? Wer sind sie?«

»Der alte Capitän und Graf Rallion.«

»Monsieur, wenn Sie das wissen, so sind Sie ganz sicher Einer der Unserigen!«

»Darüber habe ich mich nicht zu äußern,« antwortete Fritz zurückhaltend.

»Und sind vielleicht noch mehr eingeweiht, als der Capitän selbst.«

»Ich habe keinen Grund, Ihnen zu widersprechen oder Ihre Vermuthung zu bestätigen; aber ich nehme an, daß Sie nicht vergessen werden, daß ich meine Angelegenheit zu der Ihrigen gemacht habe.«

»Sicherlich nicht! Aber wie haben die Leute, von denen Sie sprachen, von mir erfahren können? Richemonte und Rallion sind Beide verschwiegene Charakter!«

»Vielleicht sind sie belauscht worden!«

»Das ist das Wahrscheinliche.«

»Ich denke es auch.«

»Aber der Ort, der Ort, an welchem ich überfallen werden soll! Das wäre die Hauptsache! Haben Sie darüber gar keinen Wink aufgefangen?«

»Hm! Man sprach von einem Bahnwärter.«

»Bahnwärter giebt es auf der Strecke, nicht aber auf dem Bahnhofe. Giebt es zwischen Thionville und Ortry dergleichen Beamte?«

»Nein. Es giebt da keine Bahn.«

»Sonderbar! In welcher Weise wurde dieses Bahnwärters Erwähnung gethan?«

»Die Beiden wollten zu ihm gehen und sich mit ihm unterhalten, um dann beweisen zu können, daß nicht sie die That begangen hätten.«

»Und doch wollten sie mich berauben.«

»Es schien ganz so, als ob vor der Beraubung etwas zu geschehen habe. Die beiden Männer schienen anzunehmen, Sie bereits in einem Zustande zu finden, welcher die Beraubung erleichtert! Für den Fall, daß Sie noch lebten, wurde der Messerstich und der Griff an die Gurgel erwähnt.«

Da erbleichte der Amerikaner.

»Herrgott!« rief er entsetzt. »Jetzt wird es licht; ich beginne zu ahnen! Aber das wäre ja fürchterlich!«

»Was, was, was?« fragten die Drei wie aus einem Munde.

»Sollte der Dritte, von dem Sie sprechen, den Zug entgleisen lassen wollen?«

Da fuhr Fritz auf, daß er mit dem Kopfe an die Decke stieß und rief:

»Das ist's, das ist's! Er will Steine auf die Schienen legen. Die beiden Andern kommen wie ganz zufällig hinzu. Wagen werden zertrümmert, Menschen verwundet und getödtet. In der dabei entstehenden entsetzlichen Verwirrung ist es nicht schwer, den Amerikaner herauszufinden. Man nimmt ihm die Brieftasche aus dem Rocke. Ist er todt, so geht das sehr leicht; ist er nur verwundet, so genügt ein Druck auf die Gurgel, ihn vollends kalt zu machen!«

Die Damen waren sprachlos vor Schreck gewesen. Jetzt aber rief Emma:

»Jetzt gilt es zu handeln! Man darf um Gotteswillen keine Zeit verlieren. Wo befinden wir uns?«

Fritz riß sein Fenster hüben und der Amerikaner das seinige drüben auf.

»Königsmachern ist schon vorüber!« rief der Erstere.

»Wie viele Stationen haben wir noch?«

»Königsmachern ist die letzte vor Thionville. Wenn Etwas geschieht, so geschieht es hier, bald, gleich. Wo ist die Nothleine? Wir müssen ein Zeichen geben!«

Er langte hinaus, Deep-hill drüben. Sie fanden die Leine nicht.

»Auf mit den Coupees!« sagte Fritz. »Ich laufe auf dem Trittbrett hin.«

Er langte zum Fenster hinaus und öffnete die Thür. Der Amerikaner that auf seiner Seite ganz dasselbe. Sie traten auf die Trittbretter hinaus, und ganz in demselben Augenblicke ertönte von der Maschine das schrille, bekannte und entsetzliche Nothund Warnungssignal.

Der Zug passirte eine Curve. Fritz befand sich an der inneren Seite derselben und konnte in Folge dessen einen Theil der Bahnstrecke, welche vor der Maschine lag, übersehen.

»Herrgott, Steine, große Steine auf den Schienen!« rief er. »Der Zug kann bis dahin nicht halten. Es giebt ein entsetzliches Unglück. Monsieur, hinaus mit den Damen! Abspringen und sofort zur Seite eilen!«

Er langte in das Coupee, erfaßte Madelon und riß sie hinaus. Er war stark und sie schmächtig und nicht schwer. Er that einen Satz vorwärts. Er gelang. Noch einige Sprünge, und er rutschte mit dem Mädchen die hohe Böschung hinab.

Der Amerikaner war ebenso geistesgegenwärtig und entschlossen wie der Deutsche.

»Heraus, Miß!« rief er.

Emma erkannte, daß es keine andere Rettung gäbe und überließ sich seinem Arme. Er war nicht von riesenhaftem Körperbaue, aber er entwickelte in diesem Augenblicke eine Riesenkraft. Die Maschine heulte; die Bremsen kreischten; die Räder brüllten. In den Coupees ertönten vielstimmige Rufe des Entsetzens. Deep-hill umfaßte Emma mit seiner Linken, hielt sich mit der Rechten an der Griffstange fest, holte aus und that den entscheidenden Sprung. Er kam auf die Füße, knickte zwar unter seiner Last zusammen, raffte sich aber sofort wieder empor und schoß mit ihr die hohe Böschung des Dammes hinab.

Es geschah dies keine Sekunde zu früh!

Ein Krach, ein fürchterlicher, entsetzlicher Krach, als seien Berge von Erz und Stein zusammengebrochen, ertönte. Ein rasendes Rollen, Pfeifen, Heulen, Wogen, Dröhnen und Stampfen folgte. – Das Entsetzliche war geschehen: Der Zug war entgleist und krachte, sich überstürzend, den Damm hinab.

Was nun geschah, läßt sich unmöglich beschreiben. Ein ganzer Berg von Trümmern bedeckte die Stelle. Die Wagen hatten sich geschlagen, waren in einander gerannt, lagen auf der Seite, auf dem Rücken oder standen hinten oder vorn in die Höhe.

Von Menschenstimmen war wohl eine Minute lang gar nichts zu hören. Dann aber begann ein Wimmern, Stöhnen, Rufen, Schreien, Heulen, Beten und Brüllen, welches einer jeden Schilderung spottet.

Hart hinter der Unglücksstelle waren zwei Paare zu sehen, das eine auf der rechten und das andere auf der linken Seite des Dammes. Emma lag ohnmächtig im Grase und der Amerikaner kniete bei ihr. Hat sie Schaden genommen? fragte er sich. Er hoffte jedoch, diese Frage mit Nein beantworten zu können. Er öffnete ihr das Kleid, damit die Lunge freiere Bewegung erhalten möge. Dabei sah er, von welcher Schönheit dieses reizende Mädchen war.

»Herrlich, herrlich!« flüsterte er. »So vollkommen, so tadellos kann nur eben eine Engländerin sein! Was war Amély dagegen, der kleine Kolibri! Könnte ich die Liebe dieser Göttin erringen!«

Und auf der anderen Seite kniete Fritz bei Madelon. Auch sie hatte die Augen geschlossen, öffnete sie aber jetzt und blickte verwirrt um sich.

»Lebe ich noch?« fragte sie.

»Ja, Sie leben, Fräulein,« antwortete Fritz. »Wir sind der Gefahr noch im letzten Momente entronnen. Gott sei Dank für diese Rettung!«

»Und wo ist Fräulein Emma?«

»Drüben auf der anderen Seite jedenfalls.«

»Ist auch sie gerettet?«

»Ich hoffe es.«

»Sie hoffen es nur? Sie wissen es nicht genau?«

»Nein. Ich konnte ja noch nicht hinüber! Der Zug ist da drüben hinabgestürzt. Gott! Er wird sie doch nicht dennoch gepackt und zerschmettert haben!«

»Wir müssen sehen! Hinüber, hinüber!«

Sie hatte im Momente alle Spannkraft zurückerhalten. Sie klimmte mit einer Eile den Damm hinan, als ob sie nicht soeben den fürchterlichsten Schreck erlebt habe, den man sich nur denken kann.

Fritz vermochte kaum, ihr zu folgen, hielt sich aber doch an ihrer Seite. Droben angekommen, erblickten sie die beiden Anderen. Emma lag noch immer bewußtlos.

»Sie ist todt!« rief Madelon erschreckt.

»Nein,« antwortete der Amerikaner laut; »sie lebt; sie athmet! Kommen Sie!«

Jetzt ging es schnell hinab. Madelon kniete nieder, beschäftigte sich eine Minute mit der Freundin und sagte dann:

»Es scheint nur eine Ohnmacht zu sein. Lassen Sie uns allein, Messieurs. Ihre Hilfe wird auch anderweit gebraucht.«

»Das ist wahr. Kommen Sie!« sagte Fritz.

Sie eilten der Schreckensstelle zu. Es war ein Anblick zum Grauen. Die Locomotive hatte sich tief in die Erde gewühlt. Sie zischte, dampfte und ächzte noch jetzt, wie ein sterbender Drache, der seine Wuth gefesselt fühlt. Die Körpertheile des Heizers und Maschinisten lagen in der Nähe, fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

Auch in und bei den Waggons sah es fürchterlich aus. Die Geretteten und nur leicht Verwundeten hatten sich unter den Trümmern mühsam hervorgearbeitet; die Uebrigen aber waren noch von den Lasten gebannt, die auf ihnen lagen. Die Un- und die Leichtverletzten begannen nun die Nachforschung nach den Armen, welche weniger glücklich gewesen waren. Fritz arbeitete mit dem Amerikaner Allen voran.

Da blickte er zufällig auf. Von weiter vorn kamen drei Männer gerannt, einer in der Uniform eines Bahnwärters, die beiden Anderen in Civil.

»Monsieur,« raunte er dem Amerikaner zu, »jedenfalls sind das die Beiden!«

»Ja, sie müssen es sein. Wir nehmen sie fest!«

»Aber auf frischer That.«

»Wieso? Die That ist vorüber und wird ihnen wohl kaum bewiesen werden können, wenn Sie sie nicht genau zu recognosciren vermögen.«

»Ihre Gesichtszüge habe ich nicht gesehen; aber dennoch werden wir sie überführen.«

»Auf welche Weise?«

»Haben Sie den Muth, den Todten zu spielen?«

»Das wäre nicht schwer; aber der Messerstich, der Griff an die Gurgel!«

»Pah! Ich werde sie scharf überwachen!«

»Gut! Dann habe ich Ihren Plan verstanden und bin bereit, ihn mit auszuführen.«

»Nehmen Sie vorher die Werthpapiere aus der Brieftasche.«

»Das ist nicht nöthig. Diese teuflischen Schufte haben sich getäuscht. Meine Papiere haben nur in meinen eigenen Händen Werth. Selbst wenn ihnen der Coup gelungen wäre, hätten sie keine Centime erhalten.«

»Dann also rasch! Sie sind vorn bei der Locomotive, Sie aber, Monsieur, dürfen von ihnen vorher nicht bemerkt werden.«

»Wohin aber?«

»Hier in dieses Coupee erster Classe. Es ist ziemlich demolirt. Ich bedecke den Körper mit den Trümmern; so bemerkt man nicht, daß Sie unverletzt sind. Durch das Lampenloch von oben beobachte ich die Kerls. Thut Einer etwas nur im Geringsten Bedrohliche für Sie, so schieße ich ihn mit dem Revolver über den Haufen. Also hinein!«

Der Amerikaner kroch in das arg beschädigte Coupee, und Fritz bedeckte ihn mit den Trümmern, so daß nur der Kopf und ein Theil des Oberkörpers zu sehen war.

»So! Warten Sie,« sagte er dann. »Jetzt hole ich vorerst noch einen Zeugen.«

Der Oberschaffner war unbeschädigt geblieben. Er leitete jetzt die Rettungsarbeit, während man die Hilfe erwartete, nach welcher gesendet worden war. Fritz näherte sich ihm und gab ihm einen Wink, abseits hinter einen umgestürzten Waggon zu kommen, wo sie von den beiden zukünftigen Franctireurs nicht beobachtet werden konnten.

»Was wünschen Sie?« fragte der Beamte.

»Wollen Sie die Verbrecher haben, welche diesen Unfall hervorbrachten?«

»Herr, wenn Sie die mir verschaffen könnten!«

»Sie sind hier.«

»Hier? Unmöglich?«

»Und doch! Es ist keine Zeit zu langen Auseinandersetzungen; hören Sie nur kurz Folgendes: Ich belauschte gestern im Walde zwei Männer, welche davon sprachen, daß mit diesem Zuge ein Amerikaner komme, welcher ein Vermögen in seiner Brieftasche trage. Sie wollten ihn ermorden – nach seiner Ankunft in Thionville, wie ich vermuthete. Ich fuhr ihm entgegen, um ihn zu warnen. Ich traf ihn. Aber diese Schurken hatten einen anderen Plan, als ich errathen konnte. Sie ließen den Zug entgleisen und sind jetzt gekommen, scheinbar, um Hilfe zu leisten, in Wirklichkeit aber, um den Amerikaner zu suchen und ihm noch rechtzeitig die Brieftasche abzunehmen!«

»Ah, wir werden sie bedienen! Wo ist der Herr?«

»Er hat sich dort in das Coupee erster Classe gesteckt, um den Todten zu spielen.«

»Ich muß ihn sehen.«

Der Beamte trat zu dem Amerikaner und bat, das Taschenbuch sehen zu dürfen. Deep-hill zog es hervor und reichte es ihm hin.

»Gut,« meinte der Oberschaffner. »Jetzt kenne ich es. Wollen sehen, ob sie die Probe bestehen!«

»Aber warten Sie noch einen Augenblick,« bat Fritz. »Ich muß auf den Wagen, um zu verhindern, daß sie ihn tödten.«

»Das ist vorsichtig und löblich gehandelt. Da liegt ein Fetzen Wachsleinwand. Werfen wir ihn hinauf, damit Sie sich darunter verstecken können. Ich werde es bewerkstelligen, daß die Schufte hierherkommen. Das Weitere wird sich dann finden.«

*


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