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Marion stand neben Müller; sie schmiegte sich unter dem Einflusse des Gefühles, welches sie überkam, eng an ihn, so daß er ihre weichen, warmen Formen deutlich fühlte.
»Wollen wir zurückkehren?« fragte er.
»Nein,« antwortete sie. »Es muß zwar schrecklich sein, in diesen finsteren Gängen überrascht und überfallen zu werden; aber ich will mich nicht fürchten; Sie sind ja bei mir! Was thun wir jetzt?«
»Das Sicherste ist, das Zimmer des Capitäns aufzusuchen.«
»Um zu sehen, ob er dort ist?«
»Ja.«
»Gut! Gehen wir! Wissen Sie, wo es ist?«
»Ja. Bitte, hier links hinauf!
Sie stiegen empor, leise und langsam, er voran leuchtend, und sie, ihm folgend. Als er endlich stehen blieb, legte er den Finger auf den Mund, zum Zeichen, daß sie nicht sprechen solle. Am Boden erblickte Marion ein Fachwerk, gerade wie bei ihrer eigenen Wohnung. Mehrere Stufen höher gab es ein kleines, rundes Loch in der Mauer. Da hinauf stieg Müller. Nach wenigen Augenblicken kam er herab und raunte ihr in das Ohr:
»Bitte, blicken Sie durch dieses Loch! Aber, um Gottes Willen, ja nicht das mindeste Geräusch.«
Sie stieg die Stufen empor. Vor dem Loche war eine Glastafel, in welche Figuren gemalt waren. Diese Tafel war in die Tapetenborde eingesetzt, so daß man sie im Zimmer nicht von der Letzteren unterscheiden konnte. Zwischen den Figuren hindurch konnte man den Raum überblicken. Es war die Stube des Capitäns. Marion sah ihn schreibend am Tische sitzen. Sie stieg wieder herab.
»Er ist zurückgekehrt,« flüsterte sie. »Ich habe also heute den Ueberfall wohl nicht zu erwarten?«
»Nun nicht. Bitte, gehen wir!
Sie kehrten auf demselben Wege wieder nach Marion's Wohnung zurück. Nachdem Müller das Getäfel verschlossen hatte, sagte sie:
»Jetzt darf ich Licht anbrennen, und dann wollen wir berathen, was für morgen zu thun ist.«
Er löschte seine Laterne aus. Sie brannte die Lampe an, und dann nahmen sie am Tische Platz.
»Es ist doch eine entsetzliche Raffinerie, solche Gänge und Gucklöcher herzustellen,« sagte sie. »Giebt es auch an meiner Wohnung ein solches Loch, Monsieur?«
»Ja,« antwortete er. »Haben Sie es vorhin nicht beachtet?«
»Nein. Aber, so hat mich der Capitän zu jeder Zeit beobachten können?«
»Gewiß!«
»Und ich habe nichts gewußt! Wie schrecklich! Wo ist es?«
»Da oben über der Uhr.«
»Nicht im Schlafzimmer?«
»Nein. Dort giebt es kein solches verrätherisches Loch.«
»Das beruhigt mich. Von jetzt an also werde ich mich so einzurichten haben, daß ich stets ohne Schaden beobachtet werden kann. So hört man wohl auch, was gesprochen wird?«
»Jedes Wort.«
»Das ist noch schlimmer. Nun erst begreife ich, wie der Capitän Alles, Alles wissen konnte, so daß er fast allwissend zu sein schien. Giebt es auch bei Ihnen einen Eingang?«
»Nein, aber ein Beobachtungsloch.«
»Wie haben Sie es entdeckt?«
»Gleich am ersten Tage meiner Anwesenheit. Ich befand mich ruhig in meinem Zimmer und hörte an der Wand ein Geräusch. Das hat den Capitän verrathen.«
»So müssen also auch Sie stets auf der Hut sein.«
»Gewiß, zumal er mir nicht traut. Doch, wir wollten ja von morgen sprechen.«
»Ja. Sie meinen also, daß die Beiden morgen kommen werden?«
»Ich glaube nicht, daß sie länger warten werden.«
»Was soll ich thun? Wie soll ich sie empfangen?«
»Hm! Sie werden erschrecken, entdeckt zu sein, aber sie werden sich sofort fassen und irgend ein Märchen ersinnen, um ihr Erscheinen plausibel zu machen.«
»Sie meinen, Monsieur, daß man sich nicht an mir vergreifen wird?«
»Das wird man unterlassen. Der Streich kann ja nur dann gelingen, wenn man Sie im Schlafe betrifft, so daß man Sie betäuben kann, ohne daß Sie um Hilfe rufen.«
»Ah! So werden sie ihre Absicht nicht eingestehen.«
»Keinesfalls.«
»Das glaube ich auch. Sie werden eine Ausrede erfinden. Und das genügt mir nicht. Ich möchte sie auf der That ertappen, so daß ich ihnen ihre Schlechtigkeit beweisen kann.«
»Das ist das Beste, auch meiner Ansicht nach.«
»Aber, wie soll man das anfangen?«
»Es hat allerdings seine Schwierigkeit,« sagte er.
Und nach einer Pause des Nachsinnens fuhr er fort:
»Sie kommen mit Licht, aber sie dürfen das nicht mit in Ihr Zimmer nehmen. Sie werden also ihr Werk im Dunkeln ausführen.
»Wahrscheinlich.«
»Das bringt mich auf einen Gedanken. Ihre Zofe hat ungefähr dieselbe Figur wie Sie, gnädiges Fräulein –«
»Ah! Sie meinen?« fiel sie schnell ein.
»Wenn diese Zofe an Ihrer Stelle – –!«
Marion nickte ihm zustimmend zu.
»Gewiß, gewiß!« sagte sie. »Das könnte gehen.«
»Das Schwierige dabei ist, einen Grund zu finden, daß die Zofe in Ihrem Zimmer schlafen soll.«
»O, einen Vorwand werde ich sicher finden und wenn ich sagen sollte, daß es sich um einen Scherz handle.«
»Wohl! So wird man also dieses Mädchen chloroformiren und fortschaffen.«
»Man wird sie jedenfalls gleich wiederbringen, da man beim ersten Lichtstrahl, welcher auf sie fällt, den Irrthum doch sofort bemerken muß.«
»Gewiß. Und wenn sie die Zofe wiederbringen, so ist das der richtige Augenblick, ihnen zu sagen, daß sie durchschaut sind. Sie können dann ihre Absicht nicht leugnen.«
»Ja, ich werde beide niederschmettern und an dieser Genugthuung, die ich nur Ihnen verdanke, sollen Sie auch Theil nehmen.«
»Ich soll zugegen sein?«
»Ja.«
»Das wird wohl kaum zu bewerkstelligen sein.«
»Warum?«
»Weil nur die Zofe allein sich hier befinden darf.«
»Ich verstehe. Aber, bitte, kommen Sie einmal.«
Sie ergriff das Licht und führte ihn nach dem Schlafgemache. Es gab da eine schmale Glasthür, deren Fenster mit einer Gardine verhangen war.
»Sehen Sie diese Thür?« fragte sie.
»Gewiß!« lächelte er.
»Das ist mein Garderoberaum. Wir verbergen uns darin, Sie und ich.«
»Hm! Wenn sie nun hineinblicken.«
»Wir verschließen von innen.«
»Das könnte auffallen!«
»O nein. Warum sollte das Verdacht erregen?«
»Auch würde die Zofe nicht einschlafen, wenn sie wußte, daß wir uns in der Garderobe befinden.«
»Sie wird nichts davon erfahren. Wir verbergen uns hier, bevor sie schlafen geht.«
»Dann ist allerdings das Gelingen möglich. Wo aber treffen wir uns, gnädiges Fräulein?«
»Sie thun, als ob Sie schlafen gehen, kommen aber kurz nach zehn Uhr hierher zu mir, natürlich heimlich. Das Uebrige aber überlassen Sie mir. Ich werde das Arrangement schon zu treffen wissen.«
»Gut, ich werde Ihnen gehorchen. Natürlich verhalten wir uns tagsüber so, als ob wir gar nichts ahnten.«
»Das ist unumgänglich nothwendig. Also Sie denken nicht, daß ich heute einen Besuch zu erwarten habe?«
»Auf keinen Fall. Ich werde für Sie wachen.«
»Und ich sehe ein, daß meine Schuld Ihnen gegenüber immer größer wird. Welch ein Unglück für mich, wenn Sie nicht nach Ortry gekommen wären.«
Sie reichte ihm beide Hände entgegen. Er ergriff dieselben. In seinen Augen glänzte es feucht.
»Gnädiges Fräulein, befehlen Sie, so gehe ich für Sie in den Tod!« sagte er mit vor Rührung zitternder Stimme.
»Nein, mein Lieber, nicht in den Tod!« antwortete sie. »Sie sind ein seltener Mann. Man sollte gar nicht meinen, daß Sie ein Gelehrter sind. Sie müssen leben, leben und glücklich sein!«
Ihr Busen hob sich unter einem tiefen Athemzuge. Es war ihm, als ob er sie jetzt erringen könne, wenn er ein Wort zu ihr sage; aber wäre es edel gewesen, ihre Dankbarkeit in dieser Weise auszubeuten? Nein! Er schüttelte leise den Kopf und antwortete:
»Dank, gnädiges Fräulein! Ihre Worte sind mir mehr werth, als alle Reichthümer der Welt. Wollte Gott, ich könnte noch viel mehr für Sie thun, als was ich bisher für Sie thun durfte! Halten wir also treue Kameradschaft! Und gelingt es mir, die Ihnen drohende Gefahr abzuwenden, so bin ich mehr als reich belohnt.«
Sie hatte sich halb abgewendet gehabt; jetzt drehte sie sich ihm wieder zu und sagte:
»Ja, Sie sind ebenso edel wie uneigennützig. Ich blicke Ihnen bis in die Tiefe Ihres Herzens hinab. Also treue Kameradschaft.
Gut, verlassen wir einander nicht! Aber jetzt, jetzt können wir uns wohl gute Nacht sagen?«
»Gewiß. Sie haben nichts zu befürchten.«
»Gut! Schlafen Sie wohl, mein lieber Kamerad!
Suchen auch Sie Ruhe, denn morgen werden wir wohl auf den Schlaf verzichten müssen!«
Sie reichte ihm die Hand.
»Noch Eins!« bat er. »Darf ich einen Wunsch aussprechen?«
»Gewiß! Reden Sie! »Bitte, wagen Sie sich jetzt noch nicht ohne meine Begleitung in die geheimen Gänge! Sie werden die Gründe begreifen, welche mich zu dieser Bitte veranlassen.«
»Sie haben Recht. Ich verspreche Ihnen, nichts zu thun, ohne es Ihnen vorher gemeldet zu haben.«
»Das beruhigt mich! Gute Nacht, gnädige Baronesse!«
»Gute Nacht, Monsieur!«
Er ging. Draußen, als er den Eingang verschlossen hatte, blieb er überlegend stehen.
»Hm!« dachte er. »Gewiß ist gewiß! Ich werde die Riegel vorschieben. Ah, ich hätte das ja so auch thun müssen, denn ich habe sie ja vorgeschoben vorgefunden.«
Nun begab er sich zunächst nochmals an das Zimmer des Capitäns. Er kam gerade recht, um zu sehen, daß dieser sich zum Schlafengehen entkleidete.
»Schön!« dachte er. »So brauche ich nicht zu wachen. Es ist nun ganz sicher, daß heute gegen Marion nichts unternommen wird.«
Jetzt nun suchte er die Treppe wieder auf, welche in das Gemach des Amerikaners führte. Dieser saß, als er bei ihm eintrat, am Tische. Er hatte das Licht brennen.
»Endlich!« sagte Deep-hill. »Wie lange habe ich auf Sie warten müssen!«
»Ich konnte nicht eher!«
»Ich dachte bereits, daß Sie nicht kommen würden.«
»O, ich pflege Wort zu halten, hatte aber leide eine Abhaltung, die ich nicht vorhersehen konnte.«
»Bitte, nehmen Sie Platz! Hier sind Cigarren!«
Müller steckte sich eine an. Der Amerikaner sah ihm dabei zu und sagte dann:
»Wissen Sie, was Sie sind?«
»Nun?«
»Erstens mir ein Räthsel.«
»Und zweitens?«
»Und zweitens ein außerordentlicher Mann.«
»Danke, Master Deep-hill!«
»Was Sie voraussahen, ist eingetroffen.«
»Ich wußte es.«
»Aber, erklären Sie mir, wie Sie das eben wissen konnten!«
»Ich hatte es einfach berechnet.«
»Aber doch nur auf Grund gewisser Beobachtungen und Erfahrungen, welche Sie hier bereits gemacht haben?«
»Allerdings.«
»Ich möchte einmal ein Wenig unbescheiden sein.«
»Versuchen Sie es!«
»Darf ich fragen, welche Erfahrungen es sind, die Sie in den Stand setzen, so genaue Berechnungen zu machen?«
»Ich möchte Ihnen antworten, Monsieur, darf aber nicht.«
»Sie haben kein Vertrauen zu mir?«
»Vorsicht ist nicht immer gleichbedeutend mit Mangel an Vertrauen.«
»Ich gebe das zu und muß mich also in Ihre Weigerung fügen. Es kommt mir hier Verschiedenes unbegreiflich vor, Eins aber ist mir sehr begreiflich, nämlich daß Sie es mit mir aufrichtig gemeint haben.«
»Das ist allerdings der Fall. Sie glauben also nun meiner Warnung?«
»Vollständig! Ich halte diesen alten Capitän Richemonte für einen Schurken.«
»Damit werden Sie wohl keinen Irrthum begehen.«
»Ich glaube ferner, daß er bei der Entgleisung des Zuges die Hand mit im Spiele hat.«
»Ich habe keine Veranlassung, das zu bestreiten.«
»Ja, gewiß! Sie wissen jedenfalls weit mehr, als Sie sagen wollen. Aber wie kann man es dem Capitän beweisen?«
»Das muß ich Ihnen überlassen.«
»Die Thäter sind entkommen, sonst würde man sie zum Geständniß zwingen.«
»Vielleicht ergreift man sie noch.«
»Darauf möchte ich nicht warten. Es giebt noch einen anderen Weg, die Urheberschaft Richemonte's zu beweisen.«
»Ich wäre neugierig, dies zu erfahren.«
»Ich wurde gerettet durch einen Herrn, der sich mit in meinem Coupé befand – –«
»Ah, der Pflanzensammler?«
»Ja. Kennen Sie ihn?«
»Alle Welt kennt ihn.«
»Er hat die Thäter im Walde belauscht.«
»Auch den Capitän?«
»Nein. Aber aus dem, was er gehört hat, geht vielleicht die Mitschuld des Alten hervor.«
»Nun, so fragen Sie ihn.«
»Der Mann ist leider nicht zu haben. Wie ich erfuhr, hat er den nächsten Zug zu einer Reise benutzt.«
»Jedenfalls kommt er wieder.«
»Ich hoffe es und bin also gezwungen, auf ihn zu warten. Bis dahin aber werde ich Sie ersuchen, mir Ihre Theilnahme nicht zu entziehen.«
»Ich stelle mich Ihnen zur Verfügung und bin Ihnen, so weit es in meinen Kräften steht, zu Diensten bereit.«
»So sagen Sie mir aufrichtig, was ich von dem Capitän zu befürchten habe!«
»Ich ziehe vor, Ihre eigene Meinung zu hören,« antwortete Müller vorsichtig.
»Nun, ich bin jetzt überzeugt, daß er sich in den Besitz meines Geldes setzen will.«
»Das glaube ich ebenfalls.«
»Und zwar durch ein Verbrechen!«
»Vermuthlich!«
»Einen Mord?«
»Ich widerstreite Ihnen nicht.«
»So wäre es eigentlich am Besten, ich entfernte mich einfach!«
»Einen besseren Rath kann auch ich Ihnen nicht geben.«
»Aber das widerstreitet meinem Character. Dieser alte Bösewicht soll sich in seiner eigenen Schlinge fangen.«
»Ich möchte Sie sehr zur Vorsicht mahnen.«
»Pah! Nun ich gewarnt bin, habe ich nichts mehr zu fürchten. Ich werde den Unbefangenen spielen.«
»Bis Sie der Gefangene werden!«
»Keine Sorge! Ich bin empört über ihn. Ich komme über die See herüber, um seiner Sache zu dienen und aus Erkenntlichkeit dafür will er mich morden! Wenn dies keine Strafe verdient, dann braucht überhaupt nichts bestraft zu werden. Noch habe ich keinen Beweis gegen ihn in den Händen; ich werde mir aber solche Beweise verschaffen, selbst wenn ich dabei auf fremde Hilfe verzichten müßte.«
»Wie wollen Sie das beginnen?«
»Indem ich ihm scheinbar vertraue.«
»Glauben Sie wirklich, ihn täuschen zu können?«
»Ich kenne mich; ich werde es fertig bringen.«
»O, er ist ein schlauer Fuchs! »Selbst der Fuchs geht in's Eisen! Ich werde ganz so thun, als ob ich auf seine Absichten eingehe.«
»So sind Sie verloren.«
»O nein! Ich brauche nur meine Anweisungen nicht zu unterschreiben, so bin ich sicher, daß mir nichts geschieht.«
»Das scheint so; ich denke es auch; aber der Alte ist beinahe unberechenbar.«
»Sie berechnen ihn doch auch und zwar mit Erfolg.«
Müller zuckte die Achsel und antwortete:
»Es hat ein Jeder seine eigene Weise im Rechnen; daher gelingt dem Einen sehr leicht, worüber sich ein Anderer vergebens den Kopf zerbricht.«
Der Amerikaner zog die Brauen zusammen.
»Halten Sie mich vielleicht für einen Ignoranten?« fragte er.
»Nein, aber für einen heißblütigen Character. Es ist das ein Vorzug, kann aber auch leicht zum Schaden ausschlagen.«
»Nun, zunächst bin ich noch im Vortheile: Ich habe meinen Verdacht, wovon der Alte gar nichts ahnt, ich habe ferner Ihre Warnung, welche Sie nicht ohne triftigen Grund ausgesprochen haben werden und ich bin schließlich im Besitze des Geheimnisses, daß es hier verborgene Oertlichkeiten giebt.«
»Dieser Besitz wird Ihnen nicht viel helfen.«
»Ah pah! Ich werde den geheimen Gang, durch welchen der Alte zu mir kam, und durch welchen auch Sie gekommen sind, untersuchen!«
»Ich rathe Ihnen sehr, dies zu unterlassen. Verlassen Sie das Schloß. Sie sind überall in Sicherheit, nur hier nicht!«
»Sie mögen Recht haben; aber ich fühle mich gereizt, den Kampf mit diesem alten Spitzbuben unmittelbar zu führen. Können Sie mich über den verborgenen Gang aufklären?«
»Ich kenne diese Heimlichkeit selbst noch nicht vollständig.«
»Ah, Sie bleiben zurückhaltend! Das thut mir leid. Ich sagte Ihnen bereits, welche Theilnahme ich Ihnen widme!«
»Ich bin Ihnen dankbar, Monsieur. Ich habe Ihnen bewiesen, daß diese Theilnahme eine gegenseitige ist.«
»Gewiß! Aber wenn Sie ein Wenig aufrichtiger sein wollten, würde ich mich viel glücklicher schätzen.«
»Vielleicht ist mir dies später möglich. Sie wissen, daß ich nicht das bin, was ich zu sein scheine. Sie wissen, daß ich den Capitän genau kenne, daß ich ihn beaufsichtige. Ich bitte Sie, auf meine Warnung zu hören und das Schloß baldigst zu verlassen.«
»Das kann mir keinen Nutzen bringen. Sie wissen, daß ich an diese Gegend gebunden bin – –«
»Das begreife ich nicht. Sie kommen, um mit dem Capitän ein Geschäft abzuschließen; Sie sehen, daß er Sie betrügt, ja, daß er das Schlimmste sinnt – was ist es, was Sie an ihn binden könnte?«
»Ah, ihn meine ich nicht. Es giebt eine ganz andere Person, welche mich veranlaßt, in dieser Gegend zu bleiben. Ich nehme an, daß Sie errathen, wen ich meine. Habe ich nun einmal die Absicht, in dieser Gegend zu bleiben, warum denn nicht auch hier im Schlosse?«
»Weil dies für Sie der gefährlichste Ort ist.«
»O nein! In der Höhle des Löwen ist man oft sicherer, als außerhalb derselben. Der Capitän kann mich finden, ob ich hier wohne oder in Thionville.«
Müller erhob sich von seinem Sitze und sagte:
»Ich kann mir ein Recht, auf Ihre Entschlüsse und Bestimmungen einzuwirken, nicht anmaßen; ich habe es gut gemeint.«
»Das sehe ich auch ein. Ich weiß, daß unsere Bekanntschaft zu jung ist, als daß Sie mir Alles mittheilen können; ich strebe also darnach, mir Ihr Vertrauen zu erwerben, und dies wird mir leichter, wenn ich da wohne, wo auch Sie sich befinden – abermals ein Grund, in Ortry zu bleiben.«
»Nun, so habe ich für jetzt nur eine Bitte.«
»Sie ist Ihnen gewährt. Sprechen Sie!«
»Lassen Sie keinem Menschen ahnen, daß Sie von mir gewarnt worden sind.«
»Ich werde schweigen.«
»Und was auch passiren möge, verrathen Sie nicht, daß ich den heimlichen Gang kenne und Sie mit Benutzung desselben hier besucht habe!«
»Auch das verspreche ich Ihnen, möchte aber allerdings gern eine Gegenbitte aussprechen.«
»Lassen Sie hören!«
»Ich bemerke, daß Sie in einem Tone mit mir verkehren, wie es zwischen Personen gebräuchlich, welche sich Höflichkeit schulden, aber auch nichts weiter als Höflichkeit. Sie äußern zwar Theilnahme für mich, aber eine Theilnahme, wie man sie für einen jeden Menschen hat, der sich die Freundlichkeit seiner Mitbrüder nicht verscherzt hat. Ich sage Ihnen aufrichtig, daß mir dies nicht genügen kann.«
Ueber Müllers Gesicht glitt ein sehr bezeichnendes Lächeln.
»Das klingt ja außerordentlich dictatorisch!« sagte er.
»Sehen Sie, bitte, von dem äußeren Klange ab! Ich strebe nach Ihrer Freundschaft; ich sehe ein, daß diese nicht im Sturme erobert werden kann, aber ebenso deutlich erkenne ich, daß irgend Etwas zwischen uns liegt, was ich leider nicht zu bestimmen vermag. Es ist irgend etwas Unwägbares, irgend etwas nicht mit den Händen zu Greifendes, was aber trotzdem da ist und auch trotzdem seine Wirkung äußert. Ich würde Ihnen zum größten Dank verpflichtet sein, wenn Sie mir offen und ehrlich sagen wollten, was dieses unbestimmbare Hinderniß eigentlich ist!«
»Ja, ja,« nickte Müller bedächtig; »ich halte Sie für einen Südländer und ich habe damit jedenfalls das Richtige getroffen. Man will über den Fluß hinüber und so springt man mit beiden Beinen zugleich in das Wasser, ohne nur vorher zu überlegen, ob man schwimmen gelernt hat oder nicht!«
»Kann ich gegen meine Natur, gegen mein Temperament?«
»Nein, aber moderiren kann man dieses Temperament! Doch, rechten wir nicht.«
»Wollen Sie sagen, daß ich nicht Recht habe?«
»Das behaupte ich nicht.«
»Sie geben also zu, daß irgend Etwas zwischen uns liegt, was eine herzliche Annäherung verhindert?«
»Ja, ich gebe es aufrichtig zu.«
»Gott sei Dank! Darf ich nun aber auch dieses so fatale Hemmniß kennen lernen?«
»Sie werden es kennen lernen, seiner Zeit; jetzt ist mir noch nicht erlaubt, es zu sagen.«
»Liegt es in meiner Person?«
»Nein; diese wäre mir ja ganz und gar sympathisch, wie ich Ihnen offen gestehe.«
»Oder in meinen Verhältnissen?«
»Nein, denn diese Verhältnisse sind mir unbekannt.«
»Worin dann sonst? Vielleicht in meinen Anschauungen und Intentionen?«
»Ja, das ist das Richtige.«
»Dann wird es mir nicht schwer werden, das, was Sie mir noch nicht mittheilen dürfen, zu errathen. Also es handelt sich um meine Anschauungen! Etwa um die religiösen?«
»Nein.«
»Die politischen?«
Müller ließ ein leises Pfeifen hören, wiegte den Kopf hin und her und antwortete dann:
»Mein verehrtester Master Deep-hill, Sie sehen doch ein, daß ich Ihnen Ihre Fragen nicht weiterhin beantworten kann.«
»Warum nicht?«
»Sehr einfach: Wenn ich Ihnen Etwas nicht mittheilen darf, so ist es mir jedenfalls auch verboten, es Ihnen errathen zu lassen. Das Eine wäre dann ganz genau so wie das Andere.«
»Gut, ich verstehe! Ich glaube aber, bereits beim Errathen zu sein, versichere Ihnen aber, über Ihre Worte nachzudenken.«
»Thun Sie das. Ein gutes Nachdenken ist in keiner Lage überflüssig. Es sollte mich freuen, wenn unsere Bekanntschaft eine gewinnreiche für Sie werden könnte!«
»Das ist ja mein Wünschen und Sehnen. Ich habe gelitten, was Tausende nicht zu tragen vermöchten. Ich habe mich elend gefühlt, elend und verlassen, wie selten Einer. Ich hatte ein Glück verloren, wie es größer keines geben konnte, und ich wanderte rast- und ruhelos, um es wiederzufinden. Jetzt ist es, als wolle mir nach langer Finsterniß eine neue Morgenröthe leuchten. Soll es eine Täuschung sein? Soll es für mich allein kein Sternchen geben, wo doch über dem Allerärmsten die Sonne Gottes leuchtet?«
Er hatte aus dem tiefsten Innern herausgesprochen. Sein Blick hing fast wie mit Angst an Müllers Auge. Dieser war selbst tief gerührt. Er streckte ihm die Hand entgegen und antwortete:
»Warum sollten Sie verzagen? Ich bin gewiß, daß es auch für Sie noch einen Strahl des Lichtes giebt. Aber wenn Sie so sehr und so viel bitten, so sagen Sie mir, in welchem Lande Ihr Weh seinen Anfang nahm!«
»Hier, in Frankreich.«
»Warum kehren Sie zurück? Warum werfen Sie sich mit Gewalt der bösen Erinnerung in die Arme? Warum bringen Sie einem Lande Opfer, dem Sie bereits das größte Opfer, Ihr Lebensglück, gebracht haben?«
Deep-hill blickte sinnend vor sich nieder.
»Es liegt in Ihrer Frage etwas mir Unverständliches,« sagte er; »aber obgleich ich es nicht verstehe, fühle ich doch, daß es ein Fingerzeig für mich sein soll, eine Mahnung, eine Warnung, der ich gern gehorchen möchte.«
»Sie rathen ganz richtig, Monsieur! Ich meine, Sie haben ein Herzensglück verloren. Suchen Sie sich jetzt ein solches, warum werfen Sie sich denn äußeren Eventualitäten in die Arme, von denen Sie ein Glück niemals zu erwarten haben? Wenn sich jetzt Könige Schach bieten, so haben doch nicht Sie nöthig, auch va banque zu spielen. Sie erfahren es an dem alten Capitän, daß Sie dabei doch nur zu Grunde gehen! Hier meine Hand! Ich fühle, daß ich Sie lieb haben könnte! Denken Sie über meine Worte nach, und finden Sie das Richtige, so wird es sicherlich zu Ihrem Glücke sein! Jetzt gute Nacht!«
»Gute Nacht!« wiederholte der Amerikaner mechanisch.
Sein Blick folgte Müllern, wie dieser sich durch den geheimen Eingang entfernte und dann das Getäfel wieder in die rechte Lage brachte. So stand er eine ganze Weile. Endlich ging ein helles Leuchten über sein Gesicht.
»Es wird sicherlich zu Ihrem Glücke sein!« wiederholte er. »Ah, sie liebt mich! Er hat mit ihr gesprochen. Sie liebt mich; er hat es erfahren. Ich werde glücklich sein – – aber nur dann, wenn ich das Richtige finde! Was aber ist das? Was hat er damit gemeint? Ich muß mir ein jedes seiner Worte wiederholen. Er hat mit ganzer Ueberlegung gesprochen, und ein jedes seiner Worte hat Bedeutung. Er ist ein ganzer Mann, und ich muß erfahren, was er gemeint hat!« –
Der nächste Tag verging ohne besondere Ereignisse. Müller hatte sich mit seinem Schüler zu beschäftigen, und am Nachmittage fuhr Marion nach Thionville, um ihre neue Freundin, Miß de Lissa, zu besuchen. Der alte Capitän hatte sich nur während des Mittagsessens sehen lassen und kam auch während des Abendmahles nur für wenige Augenblicke in den Speisesaal. Rallion, der Jüngere, hütete das Zimmer; sein Vater war abgereist.
So nahte die Zeit, in welcher man zur Ruhe zu gehen pflegt. Müller verschloß seine Wohnung und schlich sich nach derjenigen Marions.
Das schöne Mädchen hatte bereits auf ihn gewartet.
»Willkommen!« sagte sie. »Sind Sie mit Allem versehen?«
»Ja.«
»Die Laterne?«
»Ich habe sie mit.«
»Waffen?«
»Zwei Revolver, also mehr als genug.«
»So wollen wir uns auf unseren Beobachtungsposten zurückziehen. Kommen Sie!«
Sie verlöschte das Licht und führte ihn in die Garderobe, in welcher eine Kerze brannte. Sie verschloß die Thür hinter sich. Man konnte von hier aus durch die dünnen Gardinen Alles bemerken, was im Schlafzimmer vor sich ging.
»So, setzen wir uns!« sagte Marion. »Ich habe diese beiden Sessels selbst heimlich herbei geschafft.«
In der Nähe der Thür standen zwei Polstersessel neben einander, auf denen die Beiden Platz nahmen.
»So! Nun kann es beginnen,« meinte die Baronesse, nachdem sie das Licht ausgeblasen hatte.
»Wird die Zofe hier schlafen?«
»Ja. Ich habe freilich ein – ein gewisses Opfer bringen müssen.«
»Das bedaure ich sehr!«
»Es ging nicht anders; es gab keinen stichhaltigen Grund als nur diesen einzigen.«
Sie sprach nicht weiter. Müller hätte diesen Grund sehr gern kennen gelernt, unterließ aber jede Frage, da dies als zudringlich erschienen wäre. Doch sie fuhr freiwillig fort:
»Sie müssen nämlich wissen, daß ich ein sehr romantisch gestimmtes Wesen bin!«
»Davon habe ich noch Nichts bemerkt!«
»O doch!« lachte sie leise vor sich hin. »Denken Sie sich: Ich habe über mein Herz verfügt!«
»O wehe!«
»Ich bin in dem glücklichen Besitze eines heimlich Angebeteten!«
»Der Beneidenswerthe!«
»Es ist mir aber verboten worden, ihm zu gehören!«
»Das ist sehr traurig.«
»Darum sehen wir uns nur heimlich!«
»Wie rührend, aber unvorsichtig!«
»Auch heute erwartet er mich!«
»Der Ritter Toggenburg!«
»Ich fliege zu ihm!«
»Glückliche Schwalbe!«
»Aber die Baronin hat eine Ahnung. Sie könnte sich überzeugen wollen, daß ich anwesend bin, daß ich schlafe.«
»Der Knoten lößt sich mehr und mehr.«
»So muß also die Zofe an meiner Stelle schlafen.«
»Haben Sie ihr das Alles gerade so gesagt?«
»O nein! Das würde mir eine Unmöglichkeit gewesen sein. Ich habe sehr, sehr wenig gesagt, ihr aber sehr viel errathen lassen. Hat sie ihre Phantasie zu sehr in Thätigkeit gesetzt, so ist das nun nicht meine Schuld.«
»Sie wird übrigens sehr bald in Erfahrung bringen, weshalb sie veranlaßt wurde, Ihre Stelle einzunehmen. Ah! Sehen Sie? Die Zofe kommt!«
Die Genannte trat ein, mit einem Lichte in der Hand. Sie sah sich um, verschloß die Thür des Wohnzimmers und machte es sich dann im Schlafzimmer bequem. Sie nahm einige Bücher aus dem Schranke und blätterte nach Bildern, bis sie müde zu werden schien. Dann entkleidete sie sich, verlöschte das Licht und legte sich schlafen.
Während der letzten zehn Minuten hatte Müller sich vom Stuhle erhoben und war an das Fenster getreten. Als das Licht verlöschte, kehrte er zu seinem Sitze zurück.
»Es ist bereits halb Zwölf,« flüsterte Marion. »Wann denken Sie, daß sie kommen?«
»Wer weiß es! Jedenfalls kommen sie nicht eher, als bis sie denken, daß Sie fest schlafen, gnädiges Fräulein.«
»Das ist eine kleine Geduldsprobe für uns.«
»Bitte, ruhen Sie immerhin. Ich werde wachen.«
»O, meinen Sie, daß ich schlafen könnte? Nein. Ich bin in so gespannter Erwartung, daß es mir unmöglich wäre, auch nur zwei Augenblicke zu schlafen.«
Von nun an schwiegen Beide. Es verging Viertelstunde um Viertelstunde, bis die erste Stunde nahe war. Man hörte die Zofe leise schnarchen. Da zuckte Marion zusammen.
»Hören Sie?« flüsterte sie.
»Ja. Sie kommen. Sie haben an einen Stuhl gestoßen.«
Beide lauschten mit angehaltenem Athem. Während der Zeit von einigen Minuten war nichts zu hören; dann aber vernahmen sie ein Geräusch, wie wenn Federbetten bewegt werden. Nachher waren Schritte zu vernehmen, auf welche jetzt nicht mehr die vorige Sorgfalt verwendet wurde. Dann wurde es wieder still.
»Es ist geschehen,« sagte Marion leise.
»Sie werden ihren Irrthum bemerken und bald wiederkommen.«
»Gott! Erst jetzt fühle ich so deutlich, welcher Gefahr ich entgangen bin. Monsieur, wie sehr, sehr danke ich Ihnen!«
Er fühlte seine Hand ergriffen. Er faßte ihr Händchen und wagte es, dasselbe an seine Lippen zu ziehen. Sie duldete es. Er küßte diese schöne, warme Hand wieder und immer wieder, und sie entzog sie ihm nicht. Er gab die Hand nicht wieder frei; er hielt sie fest zwischen seinen Händen, und sie widerstrebte auch jetzt noch nicht. Ja, nach einiger Zeit fühlte er eine Berührung seiner Schulter. Eine wahrhaft himmlische Wonne durchströmte seinen ganzen Körper. Ihr Köpfchen war auf seine Achsel niedergesunken und da ließ sie es ruhig und vertrauensvoll liegen.
War sie ermüdet? War sie doch noch eingeschlafen? Er fragte sich es gar nicht. Er hatte gar keinen Raum für diese Frage; er war ja ganz erfüllt von der Wonne, die ihn durchfluthete.
So saßen sie nun abermals Viertelstunde um Viertelstunde, ohne zu sprechen, ja sogar ohne sich zu bewegen, bis sich dann unten vom Hofe herauf Pferdegetrappel hören ließ.
Die Baronin hatte sich nämlich gerade angeschickt, Nachttoilette zu machen, als sich der Capitän bei ihr anmelden ließ. Erstaunt über einen so ungewöhnlichen Besuch, hatte sie ihn empfangen.
»Sind wir allein und unbelauscht?«
»Sie sehen, daß wir allein sind,« antwortete sie. »Zu lauschen wagt bei mir kein Mensch.«
»Dann habe ich Ihnen eine wichtige Neuigkeit mitzutheilen.«
Sie war seine Freundin nicht; sie haßte ihn und nur in ihrem Hasse gegen Andere waren sie einig. Darum vermuthete sie auch jetzt nichts Gutes.
»Eine Neuigkeit?« fragte sie. »Ich glaube nicht, daß sie mich erfreuen wird!«
»Sie irren. Es ist eine sehr gute Botschaft. Sie werden nämlich verreisen, Frau Baronin.«
»Ich? Verreisen? Wann?«
»Noch während dieser Nacht.«
»Was fällt Ihnen ein! Wohin?«
»Bis vor das Schloßthor.«
Sie begann zornig zu werden.
»Herr Capitän!« rief sie.
Er musterte sie mit überlegenem Blicke und fragte:
»Was beliebt?«
»Soll ich etwa annehmen, daß ich der Gegenstand irgend eines Ihrer schlechten Witze sein soll?«
»Nein, obgleich es ein außerordentlich guter Spaß ist, den ich heute entriren werde. Sie sollen nämlich an Stelle Marion's verreisen.«
»Ich verstehe Sie nicht!«
»Ich bin es leider längst gewöhnt, bei Ihnen kein Verständniß zu finden. Dieses Mal aber wird es Ihnen hoffentlich nicht schwer werden, mich zu begreifen. Sie wissen, daß Marion sich weigert, dem Obersten Rallion ihre Hand zu geben – – –«
»Ich habe ihr leider nichts zu befehlen, würde ihren Widerstand aber schon zu brechen wissen.«
»Wirklich? Was würden Sie thun?«
»Sie zwingen! Sehr einfach!«
Der Alte ließ ein kurzes, verächtliches Lachen hören und fragte:
»Darf ich wohl erfahren, welcher Art der Zwang sein würde, den Sie in Anwendung zu bringen gedächten?«
»Ich habe jetzt noch nicht an etwas Spezielles gedacht, bin aber sicher, daß ich ein passendes Mittel finden würde.«
»Nun, während Sie noch gar nicht nachdenken, bin ich bereits beim Handeln. Ich werde Marion so lange bei Wasser und Brod einsperren, bis sie gefügig wird.«
Diese Nachricht war der Baronin hoch willkommen.
»Das wäre allerdings das Klügste,« sagte sie, »aber ich glaube nicht, daß Sie diesen guten Vorsatz auch wirklich in Ausführung bringen!«
»Sie irren abermals! Heute Nacht wird Marion eingesperrt.«
»Wohin?«
»Das ist meine Sache. So viel ist aber gewiß, daß kein Mensch den Ort entdecken wird. Sie erhält ihre Freiheit nur als Rallions Verlobte wieder.«
»Recht so! Aber, man wird sie vermissen!«
»Daß dies nicht geschehen wird, dafür haben eben Sie zu sorgen! Marion wird verreisen. Es ist eine Nachricht gekommen. Es wird angespannt, und ich bringe sie nach dem Bahnhofe, ich selbst, nicht der Kutscher. An ihrer Statt aber steigen Sie ein. Man wird diese Verwechselung gar nicht bemerken, da es finster ist. Es genügt, daß eine Dame einsteigt. Sie nehmen den großen Schlüssel mit. Draußen lasse ich Sie absteigen und Sie kehren mit Hilfe des Schlüssels möglichst unbemerkt in Ihre Wohnung zurück. Später komme ich natürlich ohne Marion vom Bahnhofe.«
Sie nickte ihm beistimmend zu.
»Gut ausgedacht!« sagte sie. »Aber wird Marion sich gutwillig einsperren lassen?«
»Das ist abermals meine Sache. Hat sie sich in meinen Befehl gefügt, so werde ich dafür sorgen, daß sie von ihrer Reise zurückkehrt. Sind Sie bereit, zu helfen?«
»Gewiß! Wann werden Sie anspannen lassen?«
»Der Zug geht kurz nach vier Uhr. Sie werden drei Viertelstunde vorher bereit sein müssen.«
»Schön! Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.«
Man sah ihr die Freude an, welche sie über diesen Streich fühlte, der ihrer verhaßten Stieftochter gespielt werden sollte. Der Capitän machte ihr eine ironisch-achtungsvolle Verbeugung und sagte:
»Ich bin Ihnen sehr verbunden, würde mich aber glücklich fühlen, wenn die Frau Baronin die Güte haben wollte, auch in anderen Angelegenheiten von so harmonischer Gesinnung mit mir zu sein!«
Er ging und wartete bei sich, bis Alles zur Ruhe war; sodann begab er sich durch den geheimen Gang zu Rallion, der ihn bereits mit Ungeduld erwartete. Der Gedanke, nun mit Sicherheit auf Marion's Besitz rechnen zu können, ließ ihn das Verwerfliche der geplanten That vollständig übersehen.
»Endlich!« sagte er. »Ich dachte, Sie würden viel früher kommen, Herr Capitän.«
»Wir haben noch nichts versäumt. Vielleicht kommen wir sogar noch zu früh. Hier, nehmen Sie!«
Er gab dem Grafen ein paar Filzschuhe, wie er selbst auch welche angezogen hatte.
»Wozu das?« fragte Rallion verwundert.
»Um das Geräusch unserer Schritte zu dämpfen. Es darf uns natürlich Niemand hören. Ziehen Sie die Schuhe an und dann wollen wir gehen.«
Der Graf kam dieser Aufforderung nach und folgte dann dem Alten durch die geheime Thür hinaus nach den verborgenen Treppengängen. So gelangten sie beim Scheine der Laterne, welche der Alte trug, nach dem Wohnzimmer Marion's. Vor der Täfelung blieb der Alte halten, schloß die Blendlaterne und steckte sie ein.
»Jetzt nicht das geringste Geräusch!« sagte er. »Ich werde erst nachsehen, ob sie vielleicht noch wach ist.«
»Wo befinden wir uns?« fragte der Oberst.
»Vor dem Wohnzimmer. Aus diesem geht es durch Portièren nach der Schlafstube. Warten Sie.«
Er schob die Täfelung ganz leise zurück. Der Raum, in den er blickte, war vollständig dunkel. Er trat ein und schlich sich nach der Portière. Auch das Schlafzimmer war ohne Licht. Er huschte lautlos nach dem Bette und horchte. Die leisen, regelmäßigen Athemzüge, welche er deutlich hörte, bewiesen ihm, daß der Schlaf seines Opfers ein fester sei. Er brachte das Chloroform in Anwendung. Dies nahm eine ziemliche Zeit in Anspruch, so daß der Graf ungeduldig wurde. Er sah und hörte nichts und so lag ihm der Gedanke nahe, daß irgend etwas nicht in Ordnung sei. Endlich hörte er das leise Heranschleichen des Alten.
»Wo haben Sie nur gesteckt?« flüsterte er diesem zu.
»Bei Marion natürlich! Denken Sie etwa, das Chloroform wirke bereits nach einigen Secunden?«
»Nein, aber mir scheint, es sind mehrere Viertelstunden vergangen. Ich dachte bereits, daß Ihnen Etwas geschehen sei.«
»Pah! Mir geschieht Nichts!«
»So ist Alles in Ordnung?«
»Alles.«
»Dann will ich mit hinein in's Zimmer.«
»Halt, warten Sie noch! Wir müssen uns erst sagen, auf welche Weise wir das Mädchen fortschaffen.«
»Nun, tragen müssen wir es natürlich!«
»Das versteht sich ganz von selbst! Die Anwendung des Chloroformes ist nicht ganz ungefährlich. Darum habe ich mit der Dosis gespart. Es ist möglich, daß Marion unterwegs erwacht.«
»Das schadet nichts!«
»Mir nicht, aber Ihnen.«
»Wieso?«
»Wollen Sie etwa, daß sie bemerkt, wer es ist, dem sie ihre Gefangenschaft zu verdanken hat?«
»Hm! Sie haben Recht. Sie soll wenigstens nicht wissen, daß ich auch bei dieser Ortsveränderung mitgewirkt habe.«
»Ja. Wir müssen Ihnen vorerst die Chance offen halten, als ihr Retter aufzutreten. Darum dürfen wir während der kurzen Zeit kein Licht brennen.«
»Aber ich kenne die Oertlichkeit gar nicht und es ist ja so finster, daß ich unbedingt Licht brauche.«
»Sie brauchen keins. Ich werde Ihnen genau sagen, wie wir zu gehen haben.«
»Aber Marion ist doch – – hm!«
»Nun, was ist sie denn?«
»Entkleidet!«
»Das kann uns nicht stören. Die Kleider liegen auf dem Sopha; die nehmen Sie, während ich das Mädchen nehme. Ich binde Marion ganz einfach in das Betttuch. Vorerst kann ich sie allein tragen. Später werden Sie freilich mit zuzugreifen haben.
Jetzt vorwärts! Sie schlichen sich nach dem Schlafzimmer, wo der Graf bald die zurückgelassenen Kleidungsstücke der Zofe fand. Er brauchte nicht lange zu warten, so raunte der Alte ihm zu:
»Fort! Ich habe sie.«
Von der Möglichkeit, belauscht zu werden, hatten sie keine Ahnung. Draußen angekommen, schob der Alte die Täfelung mit dem Fuße zu und dann stiegen sie langsam die Treppe hinab.
Es war das keinesweges leicht, da der Raum außerordentlich schmal war. Aber der Capitän besaß trotz seines Alters so viel Körperkraft, daß ihm die Last, welche er trug, nicht übermäßig schwer wurde. Sie gelangten hinunter in den Hauptgang, da, wo die verborgenen Treppen ihren Ausgang nahmen.
»So,« sagte der Alte. »Hier muß ich ein wenig ausruhen.«
»Wohin denn?«
»Es geht jetzt stets zu ebener Erde fort. Gehen Sie hinter mir, und nehmen Sie ein wenig Fühlung, dann können Sie keinen einzigen Fehltritt thun.«
Sie begannen nun die Wanderung, immer in das tiefe Dunkel hinein. Es wurden einige Thüren geöffnet. Später fühlte der Graf hölzerne Wände wie von auf einander stehenden Kisten zu seiner Rechten und Linken. Dann blieb der Alte halten.
»Am Ziele!« sagte er.
»Schön! Das war ein verdammtes Avanciren. Wo befinden wir uns jetzt?«
»Das werden Sie nachher sehen.«
»Ist Marion noch betäubt?«
»Ja. Sie hat sich noch nicht bewegt.«
Er legte seine Last zu Boden und öffnete dann eine Thür. Sie drehte sich laut kreischend in den verrosteten Angeln.
»Das ist die Einzelhaftzelle,« sagte er. »Fühlen Sie den Eingang?«
»Ja.«
»Werfen Sie die Kleider hinein. Ich werde unsere Gefangene darauf betten.«
Der Graf gehorchte diesem Gebote. Die Angeln kreischten wieder; mehrere Riegel wurden vorgeschoben und dann nahm der Alte die Laterne heraus.
»So, jetzt sollen Sie sehen, wo Sie sich befinden,« sagte er, indem er das Licht auf die Umgebung fallen ließ. Es war ganz dasselbe Gewölbe, in welchem Müller sich des Schlüssels bemächtigt hatte.
Dem Grafen war doch ein Wenig bange um Marion geworden.
»Sie wird doch nicht etwa erstickt sein,« sagte er.
»Nein. Sie athmete. Ich bin überzeugt, daß sie in kurzer Zeit zu sich kommen wird.«
»Ich möchte doch sehen, wie sie sich benimmt!«
»Das ist unmöglich. Uebrigens können Sie sich leicht denken, wie freudig überrascht sie sein wird, sich in so sicherer Verwahrung zu befinden.«
»Hat sie Essen und Trinken?«
»Nein. Das würde ja ganz und gar gegen unsere Absichten sein.«
»Und wann gehe ich zu ihr?«
»Nicht vor morgen Abend. Sie soll ihre jetzige Lage wenigstens vierundzwanzig Stunden lang empfinden. Ich werde übrigens dabei sein, wenn ich mich auch nicht sehen lasse. Kommen Sie jetzt, wir kehren zurück.«
Er führte Rallion denselben Weg zurück, auf welchem sie gekommen waren, und verriegelte dann die Täfelung von außen, um seinem Verbündeten die Möglichkeit eines selbstständigen Handelns abzuschneiden. In seinem Zimmer angekommen, war er mit sich selbst sehr zufrieden.
»So!« sagte er zu sich. »Was wird sie denken, wenn sie beim Erwachen bemerkt, wo sie sich befindet? Sie wird natürlich sofort ahnen, wer ihr diesen Streich gespielt hat. Das ist der Anfang der Strafe für den Widerstand, den sie mir zu leisten wagte.«
Jetzt nun endlich wechselte er den Anzug und begab sich zum Kutscher hinab, welchen er natürlich zu wecken hatte.
»Das Coupé heraus!« sagte er. »Die gnädige Baronesse wird verreisen.«
Der Mann war einigermaßen verwundert und erkundigte sich:
»Nach dem Bahnhofe, gnädiger Herr?«
»Ja. Ich fahre selbst. Du wirst schon hören, wenn ich zurückkehre.«
Der Kutscher führte den Befehl aus. Er schirrte die Pferde ein, spannte sie an und brannte auch die Wagenlaternen an. Der Alte brachte die Dame geführt. Sie war verschleiert. Der Kutscher zweifelte nicht im Mindesten daran, daß es die Baronesse Marion sei. Er schloß das Thor auf und verschloß es dann hinter den Fortfahrenden wieder.
Dann kehrte er in seine Kammer zurück und brannte sich eine Pfeife an. Er konnte den nach Thionville führenden Weg von hier aus beobachten und mußte also an den Wagenlaternen die Wiederkehr des Alten bemerken. Davon aber, daß nach einiger Zeit die im Thore befindliche kleine Pforte leise geöffnet wurde, bemerkte er nichts. Die Baronin kehrte heimlich in ihre Wohnung zurück.
Am anderen Morgen sprach es sich sehr schnell herum, daß Baronesse Marion plötzlich habe verreisen müssen. Der Capitän hielt es für ein Gebot der Klugheit, am Frühstückstische zu erscheinen, um die Anwesenden mit der Abreise seiner Verwandten bekannt zu machen. Müller nahm die darauf bezügliche Bemerkung schweigend hin, konnte aber doch nicht umhin, einen erwartungsvollen Blick nach der Thür zu werfen.
Diese öffnete sich, als man soeben mit dem Frühstücke begonnen hatte – Marion trat ein und grüßte ganz in herkömmlicher Weise.
Der Alte sprang bei ihrem Anblicke vom Stuhle auf und starrte mit weit aufgerissenen Augen das Mädchen an.
»Marion! Alle Teufel!« entfuhr es ihm.
Sie schritt in ruhiger Haltung nach ihrem gewöhnlichen Platz und fragte verwundert:
»Was ist's? Ist mein Erscheinen heute etwas so Auffälliges?«
»Ich denke – ah! Unbegreiflich!«
»Was ist unbegreiflich?«
Da nahm Müller das Wort:
»Der Herr Capitän sagte uns soeben, daß Sie während der vergangenen Nacht ganz unerwartet zu einer plötzlichen Abreise gezwungen worden seien.«
Sie schüttelte den Kopf und sagte im unbefangensten Tone:
»Da hat sich der Herr Capitän sehr geirrt. Ich wußte nicht, was mich jetzt zu einer Reise veranlassen könnte.«
Der Capitän vermochte sich das Erscheinen Marion's nicht zu erklären. Ihr Verhalten zeigte auch keineswegs etwas Feindseliges. Er beschloß also, einstweilen zu schweigen. Aber als er nach eingenommenem Frühstücke für kurze Zeit am Fenster stand und Marion unter einem Vorwande sich ihm näherte, richtete er seine Augen stechenden Blickes auf ihr Gesicht und sagte:
»Was ist das für ein Räthsel? Man sagte mir, daß Du nach dem Bahnhofe gebracht worden seist!«
»Von wem?«
»Darnach habe ich nicht gefragt. Auch erfuhr ich, daß Du Dich während der Nacht nicht in Deinem Zimmer befunden habest.«
»Wer sagte das?«
»Deine Zofe.«
»Sie hatte Recht. Ich war allerdings nicht in meiner Wohnung.«
Der Capitän öffnete die Augen wo möglich noch weiter und fragte:
»Wo denn?«
»Interessirt Dich das so sehr?«
»Natürlich! Man sagt mir, Du seist verreist; Du kommst trotzdem zum Frühstücke; da muß ich allerdings sehr wißbegierig sein, wie das zusammenhängt.«
»Das möchte ich selbst gern wissen. Ich bin nicht auf den Gedanken gekommen, zu verreisen.«
»Aber wo befandest Du Dich?«
»In Sicherheit, Herr Capitän.«
Diese Antwort war scheinbar ganz leichthin gegeben, aber es traf ihn dabei ein Blick, welcher ihm sagte, daß diese Worte eine tiefere Bedeutung hätten.
»In Sicherheit?« fragte er. »Ich begreife nicht, was Du mit diesen Worten sagen willst. Ich denke, daß ein Jeder hier in Ortry sich in Sicherheit befinde!«
»Vielleicht sind Andere nicht ganz derselben Meinung.«
Sie wendete sich von ihm ab und verließ den Speisesaal. Darauf hatte die Baronin gewartet. Sie trat sofort zu dem Alten heran und fragte:
»Können Sie mir das erklären?«
»Nein,« antwortete er.
Es war ihm anzusehen, daß er sich in außerordentlicher Verlegenheit befand.
»Sie haben aber doch mit ihr gesprochen! Sie haben sich natürlich erkundigen müssen!«
»Freilich, freilich that ich das!«
»Was antwortete sie?«
»Sie wich mir aus.«
Die Baronin räusperte sich, ließ ein Lächeln sehen, welches so ziemlich impertinent genannt werden konnte und sagte:
»Verehrtester Herr Capitän, ich beginne zu ahnen, daß Sie heute Nacht einen Streich begangen haben, welcher keine große Bewunderung verdient!«
»Danke für dieses Compliment!« stieß er hervor.
»Es war jedenfalls ein verdientes. Sie haben sich überhaupt gestern nicht sehr lobenswerth benommen!«
Er wußte, daß sie ihn haßte, aber in dieser Weise hatte sie noch nicht mit ihm zu sprechen gewagt. Die anderen Anwesenden hatten sich entfernt; er befand sich mit der Baronin jetzt allein, darum brauchte er nicht übermäßig leise zu sprechen. Er richtete sich möglichst stolz empor und sagte:
»Welche Sprache erlauben Sie sich, gnädige Frau!«
»Eine sehr deutliche!«
»Das aber verbitte ich mir! Was wollen Sie mit diesem »nicht sehr lobenswerth benommen« bezeichnen?«
»Ihr gestriges Verhalten zu der Engländerin.«
»Darf ich Sie bitten, deutlicher zu sein?«
»Sie waren beim Anblicke dieser Dame vollständig consternirt.«
»Nur überrascht.«
»O, ich dächte, es wäre etwas mehr gewesen, als eine bloße Ueberraschung. Sie waren nicht überrascht, erstaunt oder betreten, sondern förmlich erschrocken.«
Er ließ ein überlegenes, spöttisches Lachen hören, musterte sie mit einem höhnischen Blicke und antwortete:
»Sie sprechen wie ein Gelehrter. Das hätte ich einer Schäfers- oder Hirtentochter keineswegs zugetraut!«
»Wohl ebenso wenig, wie ich Ihnen einen solchen Mangel an Selbstbeherrschung zugetraut hätte! Die Engländerin scheint eine Aehnlichkeit mit einer Ihnen sehr bekannten Persönlichkeit zu besitzen.«
»Allerdings.«
»Und das brachte Sie so aus aller Fassung.«
»Pah! Es war nur mir auffallend.«
»Ich hörte aber, daß Sie mit dieser Dame bereits in der Nähe des verunglückten Zuges gesprochen haben.«
»Allerdings.«
»Ohne daß ihnen bereits da diese Aehnlichkeit aufgefallen ist?«
»Ich muß das freilich zugestehen. Es mag dies daran liegen, das es Zweierlei ist, eine Person am Tage oder bei täuschendem Lampenlichte zu erblicken.«
»Mir aber dennoch unbegreiflich. Sie hielten sie für eine gewisse Margot. Trug nicht Ihre Schwester diesen Namen?«
»Ja. Aber was bezwecken Sie mit diesen Erkundigungen? Ich habe Ihnen noch niemals die Erlaubniß gegeben, mich in dieser Weise in's Verhör zu nehmen.«
»Sie vergessen, daß wir jetzt Verbündete sind.«
Er zuckte die Achsel, warf ihr einen Blick nur so von der Seite her zu und fragte:
»Glauben Sie das wirklich?«
»Natürlich! Nach Dem, was ich gestern auf Ihren Antrieb thun mußte, habe ich jedenfalls Veranlassung, mich Ihre Verbündete zu nennen.«
»Das waren Sie gestern, heute aber nicht mehr.«
»Und dennoch bin ich es. Oder soll ich nicht fragen dürfen, wie Marion's Erscheinen mit ihrer angeblichen Abreise ungefähr zusammenhängt?«
»Das weiß ich ja selbst nicht.«
»Ich denke, Sie ist Ihre Gefangene!«
»Ich dachte es auch; ich war überzeugt davon.«
»Sie hat sich also selbst befreit?«
»Das habe ich bisher für ein Ding der Unmöglichkeit gehalten. Ich werde mir schleunigst Klarheit verschaffen.«
Er ging, aber nicht nach seiner Wohnung, sondern nach derjenigen des Grafen Rallion. Er fand denselben im Bette liegend.
»Ah, Herr Capitän!« meinte Rallion. »Das ist ein sehr unerwarteter Besuch.«
»Wohl auch ein unwillkommener?«
Er warf dabei einen höchst mißtrauischen Blick auf den Grafen.
»Unwillkommen?« fragte dieser. »Was denken Sie? Zwar liege ich noch im Bette, aber Sie erlauben mir, mich zu erheben. Ich wollte die heute Nacht geopferte Ruhe nachholen.«
»Wann gingen Sie schlafen?«
»Sofort nach unserer Verabschiedung.«
»Sie haben geschlafen bis jetzt?«
»Ja.«
»Das Bett nicht verlassen?«
»Keinen Augenblick. Aber warum diese Fragen? Sie kommen mir einigermaßen eigenthümlich vor!«
»Das glaube ich Ihnen. Sie scheinen ja ganz fieberhaft erpicht auf Ihre Rolle zu sein!«
»Ich verstehe Sie nicht. Welche Rolle meinen Sie?«
»Die des Retters bei Marion.«
»Da haben Sie nicht Unrecht. Ich kann den Abend kaum erwarten.«
»Sie haben ihn nicht erwartet; ich weiß das bereits.«
»Ich verstehe Sie nicht, mein bester Freund!«
»O bitte! Wir wollen das Wort Freund nicht in Anwendung bringen. Ich mag es nicht zur Beziehung eines Mannes gebrauchen, auf den ich mich nicht verlassen kann.«
»Donnerwetter! Sie werden immer mystischer.«
»Und Sie zeigen eine Verstellungskunst, welche ich bei Ihnen bisher nicht gesucht habe.«
Da richtete sich der Graf empor.
»Herr Capitän,« sagte er, »spielen Sie nicht Theater. Ich bemerke zu meinem Erstaunen, daß Sie irgend Etwas gegen mich haben, obgleich ich mir keines Fehlers bewußt bin. Sagen Sie, was Sie mir vorzuwerfen haben.«
»Daß Sie meinen Befehl übertreten haben.«
»Befehl? Ah, ich möchte wissen, wer auf Ortry der Mann sein könnte, einem Grafen Rallion Befehle zu ertheilen!«
»Ich!«
»Ah pah! Eine Weisung können Sie mir ertheilen, aber keinen Befehl. Doch, streiten wir uns nicht! Machen Sie es kurz! Was habe ich verbrochen?«
»Sie haben dort den geheimen Ausgang forcirt.«
»Forcirt? Ich?«
»Ja, trotzdem ich die Täfelung verriegelt hatte.«
»So, also das habe ich gethan?«
»Ja, aber noch mehr!«
»Noch mehr? Darf ich das erfahren?«
»Sie haben sich in die geheimen Gänge begeben.«
»Wirklich?«
»Gewiß!«
»Darf ich fragen, zu welchem Zwecke?«
»Um Marion zu befreien.«
»So so! Also das habe ich gethan? Wirklich?«
»Wollen Sie es etwa leugnen?«
»Gewiß leugne ich es!«
»Ich beweise es Ihnen aber!«
»Das wird Ihnen wohl schwerlich gelingen.«
»Sofort! Ich habe mit Marion gesprochen!«
»In dem Gefängnisse?«
»Nein, sondern im Speisesaale, beim Frühstücke!«
Jetzt sprang der Graf aus dem Bette, fuhr mit den Füßen in die Pantoffel, griff zum Schlafrocke und sagte:
»Da muß ich aufstehen; da kann ich freilich nicht liegen bleiben. Sie spielen ein Wenig Komödie mit mir!«
»Das fällt mir gar nicht ein. Sie haben mir da einen Streich gespielt, der unseren ganzen Bau über den Haufen wirft.«
»Nun ist's genug! Jetzt darf ich nicht länger zuhören! Also Sie haben Marion wirklich gesehen?«
»Ja.«
»Mit ihr gesprochen?«
»Ja.«
»Am Frühstückstische?«
»Ja.«
»Das ist ja unmöglich, vollständig unmöglich!«
»Das ist sogar eine Wirklichkeit, welche Sie am Allerbesten zu erklären vermögen.«
»Sie machen mir also alle die Vorwürfe wirklich im Ernste?«
»Wollen Sie etwa glauben, daß ich zum Scherz aufgelegt bin, nachdem ich durch das Erscheinen Marion's so blamirt wurde?«
Da faßte Rallion ihn bei der Schulter und rief:
»Capitän, ich muß fast glauben, daß Ihr Kopf auf einem falschen Platze steht. Wer hat den Schlüssel zu den sämmtlichen Thüren, durch welche wir heute Nacht kamen?«
»Ich.«
»Und ich soll dann diese Thüren geöffnet haben?«
»Ja.«
»Womit?«
»Natürlich auch mit Schlüssels!«
»Woher soll ich diese haben?«
Da stieß der Alte ein höhnisches Lachen aus und antwortete:
»Halten Sie mich denn wirklich für so einen Schwachkopf? Ich glaubte bis vorhin allerdings, die verlorenen Schlüssel hinter den Kisten suchen zu müssen, jetzt aber weiß ich, daß sie in Ihre Hände gelangt sind.«
»Aber Capitän, Mensch, Freund. Sind Sie denn ganz und gar des Teufels? Ich habe keine Schlüssels!«
»Wirklich nicht?«
»Bei meiner Ehre. Und wenn ich sie hätte, was würden sie mir nützen? Ich kann doch nicht da hinaus!«
Er deutete dabei nach dem geheimen Ausgange hin.
»Sie sind nicht da hinaus?«
»Nein. Sie haben doch verriegelt.«
»Schön! Wollen sehen.«
Er trat zur Täfelung und untersuchte dieselbe. Er hatte vielleicht in seinem ganzen Leben kein so verblüfftes Gesicht sehen lassen, wie er jetzt zeigte.
»Donnerwetter!« sagte er. »Es ist Alles in Ordnung hier.«
»Nun, was weiter?«
»Ich dachte, Sie hätten die Täfelung aufgesprengt.«
»Wie könnte ich mir so Etwas beikommen lassen.«
»Dann ist mir die Geschichte geradezu unbegreiflich.«
»Ich kann nicht nur die Geschichte, sondern auch Sie nicht begreifen, mein Lieber!«
Da schlug der Alte mit der Faust auf den Tisch und sagte:
»Soll ich dann etwa gar annehmen, daß ich geträumt habe? Sie waren ja dabei. Waren wir nicht heute Nacht in Marion's Zimmer?«
»Natürlich!«
»Und haben sie nach dem Gewölbe gebracht?«
»Freilich!«
»Und dort eingeriegelt?«
»Gewiß.«
»Da denken Sie sich nun meinen Schreck, als ich sie vorhin in das Speisezimmer eintreten sah!«
»Verdammt! Wir sind doch nicht verhext!«
»Das keinesfalls!«
»Aber wie kam sie frei?«
»Das weiß der Teufel!«
»Haben Sie sie denn nicht gefragt?«
»Konnte ich das? Sie verhielt sich ganz unbefangen, ganz so, als ob sie gar nichts wisse. Ein einziges Wort, welches sie sagte, könnte mich vermuthen lassen, daß sie Comödie spielte.«
»Vermuthungen können uns nichts nützen. Wir müssen Gewißheit haben. Wir können Beide beschwören, daß wir Marion geholt und da unten eingesperrt haben. Auf welche Weise sie entkommen ist, können wir nur erfahren, wenn wir ihr Gefängniß untersuchen.«
»Ja. Ziehen Sie sich schnell an, und kommen Sie! Ich habe Sie wirklich im Verdachte gehabt.«
»Ich bin sehr unschuldig, mein Lieber; aber wir werden den Schuldigen entdecken.«
»Ich hoffe es und wehe ihm! Wer unsere Gefangene befreit hat, der muß in unsere Geheimnisse eingedrungen sein. Er wird auf alle Fälle unschädlich gemacht! Also, legen Sie Ihre Kleider an. Ich werde sogleich wieder hier sein.«
Er ging, öffnete aber bereits nach einigen Minuten von außen die Täfelung. Der Graf war eben mit seinem Anzuge fertig geworden. Der Capitän hatte die brennende Laterne bei sich. Sie begaben sich in den Gang hinab und eilten dann nach dem Orte, von welchem ihrer Meinung nach Marion entwichen war.
Sie fanden unterwegs nicht die leiseste Spur, daß ein menschliches Wesen hier gewesen sei. Als der Capitän das Gewölbe öffnete, in dessen hinterem Theile sich das Gefängniß befand, war es ihm, als ob er ein Geräusch vernehme. Er blieb stehen, ergriff den Grafen beim Arme und fragte:
»Hören Sie Etwas?«
»Ja. Man klopft!«
»Das ist da hinten, wo wir Marion eingesperrt hatten.«
»Es scheint so.«
»Donnerwetter! Da kommt mir ein Gedanke, ein ganz und gar miserabler Gedanke.«
»Mir auch.«
»Ihnen auch? Ah, was denken Sie?«
»Wir haben eine Falsche eingesteckt.«
»Es hat den Anschein ganz darnach. Aber wie könnte das möglich gewesen sein?«
»Das frage ich auch.«
»Wir waren ja in Marion's Zimmer!«
»Es war natürlich auch Marion's Bett?«
»Ohne allen Zweifel!«
»Wer sollte denn in diesem Zimmer und in diesem Bette geschlafen haben? Wer anders als eben Marion.«
»Natürlich!«
Sie sahen einander ganz rathlos an. Hinten ließ das Pochen nicht nach. Der Capitän meinte endlich:
»Es ist und wird nicht anders: Wir haben eine Unrechte erwischt und hier eingeriegelt.«
»Aber wie war das möglich?«
»Das wird sich sofort aufklären, sobald wir sehen, wer diese Unrechte eigentlich ist.«
»Ich bin verteufelt begierig, das zu erfahren.«
»Das wird sogleich geschehen. Wir müssen so thun, als ob wir von gar nichts wissen. Kommen Sie.«
Je weiter sie nach hinten kamen, desto lauter wurde das Klopfen. Endlich hörten sie eine rufende Stimme. Während einer Pause, welche die Zofe machte, hörte sie die Schritte der beiden Männer.
»Macht auf!« rief sie. »Laßt mich heraus!«
»Gleich, gleich!« antwortete der Capitän.
*