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Madelon bemerkte die Aufmerksamkeit Nanons dem Ulanenwachtmeister gegenüber und mit dem feinen Instinkte, der den Frauen eigen zu sein pflegt, errieth sie, daß das Verhältniß dieser Beiden kein alltägliches sein könne.
Sie erreichten Metz gegen sechs Uhr. Hier sorgte Fritz sofort für ein Privatfuhrwerk, welches sie nach Etain bringen sollte. Da die beiden Mädchen immerhin einiges Gepäck bei sich hatten, so sah der Pflanzensammler sich genöthigt, auf dem Bocke neben dem Kutscher Platz zu nehmen.
Die Pferde waren frisch, griffen gut aus, und so gelangten sie noch vor Mitternacht an das Ziel ihrer heutigen Reise. Sie stiegen im besten Gasthofe des Ortes ab, wo Fritz zwei Zimmer bestellte, eines für sich und das andere für die beiden Schwestern.
In diesem Letzteren wurde das Abendbrot eingenommen, dann zog sich Fritz in das Seinige zurück.
»Endlich sind wir seit unserem heutigen Zusammentreffen zum ersten Male allein!« sagte Madelon. »Und nun können wir ungestört mit einander sprechen.«
»O,« meinte Nanon; »vor Herrn Schneeberg brauchen wir kein Geheimniß zu haben.«
»Meinst Du? Du schenkst ihm also Dein volles Vertrauen?«
»Ja.«
»Also auch Deine Theilnahme?«
Nanon erröthete ein Wenig, antwortete aber doch:
»Ja. Und diese verdient er auch im vollsten Maße.«
»Wer ist er denn eigentlich?«
»Ein Waisenknabe, gerade so, wie auch wir Beide Waisen sind. Ich habe Dir einiges über ihn geschrieben, was ich nun heute vervollständigen kann.«
Sie erzählte nun ausführlich, was sie von ihm wußte und wie sie mit ihm zusammengetroffen war. Doch war sie mit ihrer Schwester nicht ganz so aufrichtig wie mit ihrer Freundin Marion de Sainte-Marie.
»Eigenthümlich!« sagte Madelon. »Ich habe vor einigen Tagen einen Menschen kennen gelernt, der ihm ganz außerordentlich ähnlich sieht.«
»Ich auch. Welch ein Zusammentreffen.«
»Wer war das?«
»Ein Maler, Namens Haller, der für einen Tag bei uns auf Ortry war.«
Madelon nickte leise vor sich hin und fragte:
»Hat Dir dieser Mann gefallen?«
»Warum nicht?«
»Es ist derselbe den ich meine.«
»Wie? Derselbe? Dieser Haller ist jetzt in Berlin?«
»Ja. Wüßte ich, daß Du verschwiegen sein könntest, so würde ich Dir ein Geheimniß mittheilen.«
»Madelon! Willst Du mich beleidigen? Glaubst Du, daß ich das, was mir die Schwester anvertraut, nicht aufzubewahren verstehe? Wir sind durch alles Unglück des Lebens mit einander gegangen; unsere Herzen haben sich nie entzweit, sondern sind stets Eins gewesen. Wollen wir jetzt beginnen, Mißtrauen zu hegen?«
»Nein, nein, meine liebe Nanon. Dieser Haller ist nämlich kein Maler, sondern ein französischer Officier.«
»Was Du sagst!« rief Nanon überrascht.
»Ja, ein Officier und Spion. Frankreich will Krieg mit Deutschland beginnen; darum sendet es solche Leute zu uns, welche die Aufgabe haben, unser Land und unsere Verhältnisse zu erkunden.«
»Das hätte ich ihm nicht zugetraut.«
»Mir hat es ganz besonders leid gethan. Er wohnt mit mir in demselben Hause.«
»Was Du sagst.«
»Ich habe ihn freundlich und mit Vertrauen empfangen; und denke Dir, unsere Verhältnisse scheinen ihm nicht ganz unbekannt zu sein.«
»Das wäre wunderbar.«
»Er sprach von Aufklärungen, die er mir nach meiner Rückkehr geben will.«
»Glaubst Du daran?«
»Ich weiß allerdings nicht, was ich denken soll. Man muß es geduldig abwarten. Ich habe einige Hoffnung auf den morgenden Tag gesetzt.«
»Ich gar keine.«
»Warum? Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, daß der Pflegevater doch gewußt hat, wer wir sind. Er wird nicht gestorben sein, ohne es seinem Sohne mitgetheilt zu haben. Das ist so meine Meinung.«
»Und Du denkst, daß dieser uns das Geheimniß offenbart?
»Ja.«
»Das wird er nicht thun. Diesen Charles Berteu kenne ich besser als Du.«
»Er war zwar immer ein eigenwilliger, sprachfauler Knabe; aber wirklich zu Leide gethan hat er uns mit Absicht wohl nichts Bedeutendes.«
»Bis zu unserer Trennung, ja. Du gingst eher in Stellung als ich. Ich blieb auf Schloß Malineau zurück. Kannst Du Dich erinnern, daß er mich immer auszeichnete?«
»Das weiß ich allerdings noch sehr genau.«
»Nun, nach Deiner Entfernung trat das noch viel bestimmter hervor. Er machte mir – Liebesanträge.«
»Liebesanträge?« fragte Madelon erstaunt. »Er, der Pflegebruder.«
»Ja. Ich wieß ihn natürlich zurück. Ich war übrigens noch sehr jung. Das nahm er mir übel und warf einen Haß auf mich. Auch später noch verfolgte er mich. Er hat mir nach Ortry oft geschrieben, immer nur von Liebe und Seligkeit, von Lust und Glück, von Himmel und Hölle. Ich habe ihm einmal geantwortet, um ihn zum Schweigen zu bewegen, dann aber nicht wieder, weil es vergeblich war.«
»Das hätte ich von diesem Pflegebruder Charles nicht geahnt!«
»O, noch viel mehr! Er ist nach Ortry gekommen und hat mich während meiner Spaziergänge abgelauert. Es ist mir nur mit äußerster Anstrengung gelungen, ihm zu entfliehen.«
»Der Schändliche!«
»Dann ging ich mit Marion auf Reisen. Kurz nach meiner Rückkehr bekam ich abermals einen Brief, der mich benachrichtigte, daß er nächstens kommen werde, um mündlich mit mir zu sprechen. Ich würde nicht wagen, einen Schritt vor die Thür zu thun; aber ich habe einen Schutz, auf den ich mich verlassen kann.«
»Wer ist das?«
»Fritz Schneeberg, der Kräutersammler.«
»Ah, dieser!«
»Ich weiß ganz genau, daß er stets in meiner Nähe ist, wenn ich ausgehe. Wir haben nicht etwa eine Vereinbarung getroffen, o nein; aber es ist, als ob dieser treue Mensch allwissend wäre. Sobald ich spazieren gehe, sehe ich ihn. Ich würde ganz gewiß nicht wagen, zum Begräbnisse zu kommen, wenn ich diesen Schutz nicht hätte.«
»Denkst Du, daß Charles seine Angriffe erneuern wird?«
»Ich befürchte es!«
»Und daß Herr Schneeberg Dich beschützen kann?«
»Das hoffe ich!«
»Wie soll er das anfangen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Willst Du ihn mit in das Schloß nehmen?«
»Das wird nicht gehen.«
»Nein, das geht nicht. Wie also soll er Dich beschützen?«
»Ich muß es ihm überlassen. Es ist am Besten, ich spreche ganz aufrichtig mit ihm, und zwar noch heute Abend.«
»Heute Abend noch? Wo denkst Du hin!«
»Warum nicht?«
»Nach Mitternacht! Ein junges Mädchen zu einem einzelnen Herrn im Gasthofe!«
»Liebe Madelon, bei Euch in Berlin muß es doch recht schlimme Menschen geben!«
»Warum?«
»Weil Du so wenig Vertrauen hast. Dieser Herr Schneeberg ist so gut, so ehrlich und bescheiden. Er wird nicht ein Wort sagen, was mir unangenehm sein könnte!«
Madelon konnte natürlich nicht sagen, daß gerade dieser gute, bescheidene und ehrliche Herr Schneeberg aus Berlin sei, noch dazu von den Ulanen! Sie meinte also nur:
»Thue, was Dir recht und klug erscheint. Du kennst ihn ja besser als ich!«
»So gehe ich zu ihm. Wer weiß, ob ich morgen Zeit finde, unter vier Augen und vertraulich mit ihm zu sprechen.«
»Dann säume nicht, bis es zu spät wird! Ich gehe schlafen. Ich bin so sehr müde. Ich habe von Berlin bis hierher kein Auge schließen können.«
Nanon verließ das Zimmer und begab sich einige Thüren weiter hin. Dort saß Fritz am offenen Fenster und blickte in die milde Nacht hinaus. Er hatte während der vorigen Nacht nicht schlafen können; aber er fühlte trotzdem keine Müdigkeit. Sein Licht war verlöscht, und nun blickte er nach den Sternen des Himmels, welche alle er nicht vertauscht hätte gegen den Stern, welcher ihm seit Kurzem hier unten aufgegangen war.
Da klopfte es leise, leise an seine Thür. Er fuhr erstaunt herum und gebot:
»Herein.«
Die Thür wurde ein wenig geöffnet und er hörte:
»Sind Sie noch munter – – o nein, Sie haben ja kein Licht!«
Er kannte diese Stimme. Er sprang wie electrisirt auf und antwortete:
»Ich bin noch nicht zur Ruhe, Mademoiselle Nanon! Ich werde gleich Licht anbrennen! Bitte, kommen Sie!«
Er zündete das Streichholz an, und als dann die Lampe brannte, sah er sie lauschend unter der halb geöffneten Thür stehen, gerade wie zur Flucht bereit.
»Fürchten Sie sich vor mir, Mademoiselle?« fragte er.
»O nein! Aber es ist so spät; da macht man keine Besuche. Bei Ihnen war es dunkel, und übrigens wußte ich nicht genau, ob ich auch die richtige Thür getroffen hatte.«
»Nun, es ist die richtige. Bitte, setzen Sie sich auf das Sopha! Ich nehme hier auf dem Stuhle Platz!«
Das war so bescheiden und Vertrauen erweckend. Der Stuhl, von dem er sprach, stand fast in der entgegengesetzten Ecke des Zimmers. Sie setzte sich also auf das Sopha. Er schloß das Fenster und nahm dann auch Platz. Sie blickte ihm mit mildem, freundlichen Lächeln entgegen und fragte:
»Sie hatten kein Licht. Wird Ihnen da die Zeit nicht lang?«
»Ganz und gar nicht.«
»Was thaten Sie denn in dieser Dunkelheit?«
Eine leise Röthe flog über sein Gesicht, als er antwortete:
»O, ich that etwas sehr Leichtes und Ungefährliches. Ich guckte die Sterne an.«
»Die Sterne? Ei, ei, Monsieur Schneeberg. So sind Sie wohl gar ein Dichter?«
»O, nichts weniger als das. Ich habe im ganzen Leben noch keinen Reim gemacht.«
»Oder ein Astronom?«
»Das noch weniger. Astronomen müssen große Rechner sein, und bei langen Zahlen vergesse ich stets das kleine Einmaleins, um wie viel mehr das große!«
»Wissen Sie denn, daß man ein Dichter sein kann, ohne Reime zu machen? Eine brave Frau, welche ihr Heim mit der Harmonie des Glücks und des Friedens ausstattet, ist vielleicht eine bessere Dichterin als eine Andere, welche ganze Bände von Liedern schreibt.«
»Sie haben Recht. So eine Frau ist mehr werth als alle Schätze der Erde.«
»Und ebenso kann man Astronom sein, ohne viel rechnen zu können!«
»Daß dies wahr ist, habe ich an mir erfahren.«
»Ah! Wieso?«
»Nun, ich richte mein Augenmerk nur auf einen einzigen Stern; dem aber widme ich mein ganzes Leben.«
»Welcher wäre das?«
»Es ist weder der Morgen- noch der Abendstern, obgleich ich des Morgens und des Abends an ihn denke. Sie dürfen ihn nicht da draußen am Himmel suchen. Er ist mir näher, viel, viel näher, Mademoiselle Nanon.«
Sie erglühte; denn sein Auge ruhte mit einem tief innigen, fast anbetenden Ausdrucke auf ihr. Aber ihr Vertrauen zu ihm war so groß und unerschütterlich, daß es ihr nicht als eine Gefahr erschien, das Thema fortzusetzen:
»Also Astronom sind Sie. Das ist mir lieb, denn wenn Sie weder Dichter noch Astronom wären und dennoch die Sterne anguckten, so bliebe nur noch ein Drittes möglich.«
»Was wäre das?«
»Wissen Sie das nicht?«
»Nein.«
»Nun, man sagt, daß Verliebte den Himmel anlächeln.«
»Wirklich? Das muß eine eigenthümliche Liebe sein. Ich würde mein Lächeln lieber der Dame widmen, der ich mein Herz geschenkt habe.«
»Ja, das würden Sie, denn Sie sind kein Schwärmer. Sie sind so praktisch, so sicher, so entschlossen, obgleich ich gefunden habe, daß Ihr Gemüth eigentlich recht weich und zart ist.«
»Ich danke Ihnen, Mademoiselle. Scheint Ihnen das ein Widerspruch zu sein?«
»O nein. Ein reines, gutes, weiches Gemüth ist eine große Gnadengabe Gottes; dabei aber kann der Wille doch ein fester und energischer sein. Dieses Beides, nämlich ein tiefes Gemüth und einen starken Character, denke ich mir an dem Manne, der ein Mädchen glücklich machen kann. Sie haben heute wieder eine Probe Ihrer Energie und Entschlossenheit gegeben, indem Sie Nanon vom Tode erretteten. Wie sollen wir Ihnen dies vergelten, Monsieur Schneeberg!«
Er sah fast beschämt vor sich nieder. Dann gestand er:
»Mademoiselle Nanon, ich wollte, ich könnte Ihnen täglich solche und noch viel gefährlichere Dienste leisten. Ich höre nie gern von Dank sprechen; aber ich fühle mich so glücklich, wenn Ihr Auge mir sagt, daß Sie mit mir zufrieden sind.«
»So viele Dienste? Und doch kam ich zu Ihnen, um Sie wieder um eine Gefälligkeit zu bitten, die Ihnen jedenfalls unangenehm sein muß.«
»Unangenehm? O nein. Jede Gefälligkeit, die ich Ihnen erzeigen kann, ist mir hochwillkommen!«
»Wenigstens wird sie Ihnen Störung und Unbequemlichkeiten bereiten.«
»Das achte ich nicht, wenn ich Ihnen nützlich sein kann.«
»Nun gut, lieber Monsieur Schneeberg; ich werde einmal recht aufrichtig mit Ihnen sein. Es giebt nämlich einen Menschen, den ich nicht leiden kann und der mich nämlich zwingen will, seine Frau zu werden.«
Das offene Gesicht Fritz's verfinsterte sich.
»Der soll sich sehr in Acht nehmen, Mademoiselle Nanon. In dieser Hinsicht verstehe ich keinen Scherz!« sagte er.
»Und leider,« fuhr sie fort, »ist dies grad Derjenige, bei welchem ich morgen sein werde!«
»Darf ich erfahren, wer es ist, Mademoiselle?«
»Der Sohn des Todten.«
»Also Ihr Pflegebruder?«
»Ja.«
Sie erzählte ihm nun von den Briefen, die sie erhalten hatte, und auch, daß er einige Male gewaltthätig hatte werden wollen.
»Das ist auch in Ortry geschehen?« fragte Fritz.
»Leider!«
»Ein Glück für ihn, daß ich nicht dazugekommen bin.«
»O, da waren Sie noch gar nicht in Ortry.«
»Ah, so!«
»Aber er hat mir gedroht, nächstens zu kommen.«
»Das soll er lieber bleiben lassen.«
»O, er ist ein sehr starker Mensch!«
Fritz warf einen Blick an sich selbst hinab, verzog seinen Mund zu einem leisen, mitleidigen Lächeln und sagte dann:
»Ich wollte es, nämlich, daß er sehr stark wäre!«
»Warum?« fragte sie verwundert.
»Daß ich nur einmal einen Menschen fände, mit welchem anzubinden es sich in Wirklichkeit verlohnte. Was ich bisher gehabt habe, war nur Spielerei. Man will sich doch gern einmal kennen lernen.«
Sie blickte lächelnd zu ihm hinüber und meinte:
»Ja, Sie müssen eine fürchterliche Körperkraft besitzen!«
»Ich kenne sie noch nicht, kann also auch nicht urtheilen.«
»Wissen Sie, daß ich mich gefürchtet habe, als Sie mir zum ersten Male Ihre Hand reichten?«
»Gefürchtet? Herrgott, sich gefürchtet!«
»Ja, wirklich. Ich dachte, es würde um meine Hand geschehen sein, Monsieur Schneeberg.«
»Wie könnte ich Ihnen auch nur im Entferntesten wehe thun.«
»Ja, als Sie dann meine Hand so leise in die Ihrige nahmen, so vorsichtig und leise, als ob ich aus lauter Flaumfedern bestände, da merkte ich allerdings, daß ich mich geirrt hatte.«
»Man darf nicht immer nach der Gestalt gehen. Ich kenne einen Herrn, einen Ulanenofficier, mit dem ich nicht in die Schranken treten möchte.« Er meinte damit seinen Rittmeister und fuhr fort: »Ist Ihr Pflegebruder auch so lang und stark?«
»Nicht so lang, aber sehr breit und stark. Das sollen ja die Gefährlichsten sein. Nun denken Sie sich, daß ich morgen den ganzen Tag bei ihm sein muß!«
»Wann ist die Begräbnißfeierlichkeit?«
»Um drei Uhr Nachmittags.«
»So ist es ja Zeit, wenn Sie kurz vorher erscheinen.«
»Als Pflegetochter? O nein, da muß man eher kommen. Die Leute würden erfahren, daß wir zögerten, obgleich wir anwesend waren.«
»Es sind doch jedenfalls andere Trauergäste auch vorhanden?«
»Sehr viele jedenfalls.«
»So brauchen Sie ja nichts zu fürchten.«
»Meinen Sie das nicht. Er wird ganz gewiß die Gelegenheit ergreifen, mich allein zu sprechen.«
»Und das fürchten Sie?«
»Am Tage nicht.«
»Sie bleiben auch des Abends dort?«
»Ja, wenn auch nicht bis zur Nacht. Es wird ein Trauermahl gegeben, und wir dürfen nicht eher gehen, als bis dieses beendet ist.«
»Hm! Ich verstehe, Mademoiselle Nanon. Wie weit ist es von hier bis nach Schloß Malineau?«
»Noch anderthalbe Stunde.«
»Steht dieses Gebäude ganz allein?«
»Zehn Minuten davon steht eine alte Pulvermühle einsam im Walde, und auf der andern Seite, ebenso weit vom Schlosse, liegt das Dörfchen, welches zum Schlosse gehört.«
»Wie heißt dasselbe?«
»Auch Malineau. Man kommt hindurch, wenn man von hier nach dem Schlosse will.«
»Giebt es einen Gasthof dort?«
»Nein, aber eine Schänke.«
»Mit Ausspannung?«
»Ja.«
»Wie wollen Sie morgen von hier nach dem Schlosse gelangen?«
»Zu Fuße. Irgend Jemand könnte uns unser kleines Gepäck, dessen wir bedürfen, nachbringen.«
»Ich bitte Sie, das anders zu machen!«
»Es wird wohl kaum anders gehen.«
»O doch. Sie nehmen von hier eine Kutsche für den ganzen Tag und fahren mit derselben direct nach dem Schlosse. Wenn Sie ausgestiegen sind, kehrt der Kutscher in der Schänke ein und wartet bis zum Abende, wo Sie ihm einen Boten schicken, daß er Sie wieder abholen und nach Etain zurückbringen soll.«
»Und Sie fahren mit?«
»Nein.«
»Warum nicht? Gerade weil ich nicht auf Ihren Schutz verzichten wollte, kam ich heute so spät noch zu Ihnen.«
»Haben Sie keine Sorge. Ich werde viel eher als Sie an Ihrem Ziele sein, wenn auch mich Niemand bemerken sollte, und Sie werden den ganzen Tag unter meinem Schutze stehen.«
»Wirklich? Versprechen Sie mir das?«
»Ja. Hier meine Hand.«
»So bin ich beruhigt in Beziehung auf mich, nicht aber in Beziehung auf Sie, mein lieber Monsieur Schneeberg.«
»Haben Sie um mich keine Sorge. Ich bin überzeugt, daß wir den morgenden Tag ebenso friedlich beschließen werden wie den heutigen!«
»Das gebe Gott! Und da Sie so gut und freundlich gegen uns sind, will ich Ihnen auch eine Hoffnung mittheilen, welche wir für morgen hegen.«
»Möge sie in Erfüllung gehen.«
»Wir denken nämlich, daß unser Pflegevater von unserer Abstammung unterrichtet gewesen ist, und daß er es vor seinem Tode seinem Sohne mitgetheilt hat.«
»Und Sie meinen, daß dieser es Ihnen nun seinerseits morgen offenbaren wird?«
»Ja. Madelon gegenüber habe ich allerdings einige Zweifel geäußert, damit sie nicht allzusehr enttäuscht wird, wenn sich unsere Hoffnung nicht erfüllen sollte. Was denken Sie davon?«
»Ich will Ihnen keine Unwahrheit sagen: Sie werden Nichts erfahren.«
»Aber was kann ihm das Geheimniß nützen?«
»Viel, sehr viel!«
»Ich sehe es nicht ein!«
»Weil Sie eben das Geheimniß nicht kennen, Mademoiselle. Eins aber ist sicher: Es bildet in seiner Hand eine Waffe gegen Sie, sogar eine sehr gefährliche Waffe.«
»Gott! Wollen Sie mir bange machen?«
»Nein. Ich meine nicht eine Waffe, welche Ihnen körperlich gefährlich werden kann, sondern ich denke, daß er sie in Anwendung bringen wird, um Ihren Widerstand gegen seine bisher erfolglose Werbung zu besiegen.«
»Es wird ihm nicht gelingen!«
»Das kann man nicht wissen. Wie nun, wenn er Ihnen Reichthümer verspricht?«
»Er ist nicht reich!«
»Oder Ehren?«
»Die Ehre, welche er besitzt, ist nichts werth.«
»O, ich spreche nicht von seinem Reichthum und seiner Ehre, sondern ich meine damit das, was Ihnen gehört. Ihr Vater kann ein Edelmann gewesen sein.«
»Meinen Sie?«
»Es ist sehr leicht möglich. Wenn ich Sie so ansehe, Mademoiselle, so ist es mir, als ob Sie nur die Tochter einer ausgezeichneten Familie sein könnten. An Ihnen ist Alles so fein, so schön, so hell, so licht. Sie sind wie ein Stern, dessen Strahl einem Jeden, den er trifft, doppeltes Leben geben muß.«
Sie legte die Hände ineinander, blickte ihn so treu und gut an und sagte:
»Monsieur, Sie lassen da Ihr gutes Herz Dinge sagen, welche Sie ihm eigentlich verbieten sollten.«
»Nun gut! Wie nun aber, wenn Ihr Vater reich gewesen wäre?«
»Das ist allerdings möglich, denn Mutter hat so viele werthvolle Sachen gehabt, welche sie nach und nach verkaufen mußte.«
»So sehen Sie! Nun fordert dieser Charles Berteu Ihre Liebe oder wenigstens Ihre Hand. Sagen Sie »Ja«, so enthüllt er Ihre Abstammung und Sie werden reich; sagen Sie aber »Nein«, so theilt er Ihnen Nichts mit, Sie bleiben arm.«
»Ich bleibe lieber arm!«
»Und Mademoiselle Madelon? Müssen Sie nicht auch auf diese Rücksicht nehmen?«
Sie blickte nachdenklich vor sich nieder und antwortete dann:
»Madelon wird lieber arm bleiben als mich unglücklich sehen wollen!«
»Gott segne Sie Beide! Noch Eins. Wo wohnt dieser Charles Berteu? Im Schlosse selbst?«
»Nein, sondern in einem Nebengebäude, welches für den Verwalter bestimmt ist.«
»Kennen Sie dieses Gebäude?«
»Sehr gut, denn wir sind ja in demselben erzogen worden.«
»Ist es bedeutend?«
»Neun Fenster in der Front und vier Fenster in der Tiefe.«
»Hoch?«
»Parterre und ein Stockwerk.«
»Hat es Läden?«
»Nur im Parterre.«
»Blitzableiter?«
»Ja.«
»Balkon?«
»Nein, aber eine Veranda, welche um das ganze Gebäude führt und mit Wein bepflanzt ist.«
»Ah, diese Veranda reicht bis an das Stockwerk?«
»Ja.«
»Das Haus steht also frei und hat keinen Garten?«
»So ist es. Warum fragen Sie nach diesen Dingen?«
»Nur aus Vorsicht, nicht nach einem bestimmten, fertigen Plane. Man muß sich bei solchen Veranlassungen Alles zu vergegenwärtigen suchen. Wie viel Uhr beabsichtigen Sie morgen aufzubrechen?«
»Um die Hälfte des Vormittages.«
»So werde ich Ihnen einen Wagen besorgen.«
»Ich wußte es, daß Sie sich unserer noch weit mehr annehmen würden, als wir höflicher Weise verlangen dürfen. Wir wachsen von Stunde zu Stunde in Ihrer Schuld, mein lieber Monsieur Schneeberg.«
»Ich würde ganz glücklich sein, wenn diese Schuld so groß werden könnte, daß Sie sich fürchteten, von ihr zu sprechen.«
»Aber was kann ich Ihnen dafür bieten!«
Er schüttelte den Kopf, machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung und sagte:
»Man sagt, daß es Geschöpfe giebt, welche ihre Kraft gar nicht kennen. So ist es auch mit den Menschen. Es giebt Menschen, welche unendliche Reichthümer besitzen, ohne daß sie es ahnen. Ich kenne eine junge Dame, welche so reich ist, daß jeder freundliche Blick ihres Auges aus lauter Diamanten zusammengesetzt ist. Soll mir ein solcher Blick nicht tausendmal mehr werth sein als Das, was Sie mein Guthaben nennen?«
Da ließ sie ein leises, goldenes Lachen hören und antwortete:
»Darf ich wissen wer diese junge Dame ist?«
»Ja. Sie selbst sind es, Mademoiselle Nanon.«
»So werde ich Sie von nun an nur mit diamantenen Blicken bezahlen.«
»Thun Sie das, und ich werde nicht wünschen, seliger zu sein!«
Da stand sie vom Sopha auf, und auch er erhob sich von seinem Stuhle. Sie reichte ihm die beiden kleinen, weißen Händchen dar, welche er vorsichtig und leise ergriff.
»Wissen Sie, was Sie sind, Monsieur Schneeberg?« fragte sie.
»Ich möchte es von Ihnen hören!«
»Ein Kind sind Sie, ein kleines, allerliebstes, folgsames und zufriedenes Kind, welches man immer und immer wieder küssen und herzen möchte.«
»Gott, wäre es doch so!« antwortete er, indem seine breite Brust sich unter einem tiefen Seufzer dehnte.
»Und wissen Sie, was Sie noch sind?«
»Noch Etwas?«
»Ja. Ein Mann sind Sie, ein stolzer, starker, muthiger und treuer Mann, ohne Fehl und Falschheit, ein Mann, dem man den Kopf an das Herz legen möchte, um ihn immer und ewig dort liegen zu lassen. Das sage ich Ihnen, weil ich Sie kenne. Ein Anderer würde mich nun gleich in seine Arme nehmen und liebkosen: aber Sie thun das nicht; Sie machen da trotz Ihrer Einfachheit viel höhere Ansprüche. Sie wollen mit der Seele, mit dem Gemüthe genießen. Sie wollen mit dem Herzen liebkosen und küssen. Monsieur Schneeberg; ich bin ein armes, dummes Mädchen; ich weiß nicht, was eine Andere an meiner Stelle thun würde, aber ich wollte, Sie würden einmal recht sehr glücklich, unendlich glücklich! Und heute will ich noch eine letzte, große Bitte aussprechen. Wollen Sie sie mir erfüllen?«
»Kann ich denn, Mademoiselle?«
»Ja.«
»Nun, so ist's als hätte ich sie schon erfüllt!«
»Gut! Denken Sie einmal, daß ich jetzt Ihr kleines gutes Weibchen wäre, nicht?«
»O Gott, wie gern!«
»Nun will ich einmal meinen Kopf an Ihr Herz legen. So! Nicht wahr, ich darf?«
»Tausend und tausend Mal!«
»Nun legen Sie mir Ihre rechte Hand auf den Kopf. Bitte, lieber Monsieur Schneeberg!«
»So?« fragte er, indem er ihren Wunsch erfüllte.
Es war ihm als ob ihm das Herz vor Seligkeit zerspringen wolle.
»Ja, so,« antwortete sie. »Nun beugen Sie sich ein Wenig herab zu mir und sagen mir ganz genau die Worte nach, welche ich Ihnen vorsagen werde! Wollen Sie das?«
»Ich muß ja; ich habe versprochen, Ihren Wunsch zu erfüllen.«
»Ja, Sie müssen gehorchen,« sagte sie unter einem glückseligen Lächeln, »Sie, der große, starke Mann mir, dem kleinen Mädchen! Also, nun sagen Sie:«
Und leise und langsam, sehr langsam sprach sie ihm die Worte vor:
»Meine liebe, liebe, gute Nanon!«
Es traten ihm die Thränen in die Augen. Er hätte am Liebsten vor Glück und Seligkeit laut aufweinen mögen; aber er bezwang sich und sagte es nach:
»Meine liebe, liebe, gute Nanon!«
Und nun plötzlich ergriff sie seinen Kopf, zog ihn noch ein Stück niederwärts und preßte ihre Lippen nur einmal zwar, aber so recht warm und innig auf seinen Mund.
»Gute Nacht, mein lieber, lieber, guter Fritz!«
Das hörte er noch, dann war sie plötzlich zur Thür hinaus. Er blieb stehen, als ob er kein Glied bewegen könnte, und erst nach einer längeren Pause wendete er sich ab.
»Welch ein Mädchen!« flüsterte er. »Rein wie ein Engel des Himmels! Und welch ein Glück! Es wäre für einen Fürsten zu köstlich und zu groß! Und da fällt es mir zu, mir, dem Waisenknaben, dem Ulanenwachtmeister, der keine andere Zukunft hat, als die gar nicht glanzvolle Anwartschaft auf eine Anstellung als Gensd'arm oder Steueraufseher!« – – –
Schloß Malineau war gegen Ende des vorigen Jahrhunderts niedergebrannt und wurde von dem damaligen Besitzer im Style französischer Renaissance schöner und größer wieder aufgebaut, als es vorher gewesen war. Derselbe, ein stolzer Aristokrat, hatte nicht gewollt, daß ein Untergebener mit ihm unter demselben Dache wohne, und darum die Wohnung des Inspectors oder Verwalters von dem Hauptcomplexe abgezweigt.
Diese Letztere war ganz so, wie Nanon sie beschrieben hatte; höchstens muß noch hinzugefügt werden, daß sie ein glattes Dach besaß, gerade wie das Schloß selbst auch.
In dieser Wohnung herrschte heute ein Geruch, welcher lebhaft an Firniß oder Kienöl erinnerte. Es war jener Geruch, welcher neuen Särgen zu entströmen pflegt.
In einer zweifenstrigen Stube des Stockwerkes saß ein junger Mensch, der vielleicht sechsundzwanzig Jahre zählen mochte. Seine Gestalt war nicht hoch, aber außerordentlich breit und kräftig gebaut. Ein dicker Kopf, ein Stiernacken und kleine, starre Augen machten zwar den Eindruck des körperlich Kräftigen, aber des geistig niedrig Stehenden.
Er hatte ein Buch vor sich liegen. In demselben standen Ziffern, mit denen er sich beschäftigte.
Dieser junge Mensch war Charles Berteu, der Sohn des verstorbenen Verwalters, welch Letzterer heute beerdigt werden sollte. Er schien sehr übler Laune zu sein.
Da öffnete sich die Thür und eine Frau in Trauer trat ein. Sie war klein, aber starkknochig, hatte keine Zähne mehr – aber eine lederartige, gelbe Haut, welche ihr Gesicht sehr unangenehm machte.
»Nun, Charles,« sagte sie. »Wie viel Wein?«
»Schon wieder dieser verdammte Wein!« fuhr er auf. »Wir selbst haben keine einzige Flasche!«
»Aber drüben im herrschaftlichen Keller!«
»Nun, ich rechne ja bereits seit einer Stunde, wieviel wir nehmen könnten und wie viel Dreien aus Fünfen zu machen wären; aber es ist verteufelt schwierig.«
»So berechne es später! Heute ist keine Zeit dazu.«
»Aber wenn uns nun die Herrschaft plötzlich überfällt, und die Bücher sind nicht in Ordnung!«
»Man kommt nicht sogleich!«
»Oho! Der General hat geschrieben, daß er in vier Wochen kommen werde. Das wäre ja gut und schön. Aber nun haben wir den Tod des Vaters melden müssen, und da steht zu erwarten, daß er viel eher eintreffen wird, um die Bücher und Bestände zu untersuchen.«
»Auch das würde uns nicht in Verlegenheit bringen. Der General ahnt doch nicht im Entferntesten, daß Vater zweierlei Buchführung eingeführt hatte, eine für sich und eine für den gnädigen Herrn.«
»Das ist's ja eben, was mir Schmerzen macht! Vater war äußerst bewandert in solchen Finessen; da er mir aber stets nur halben Einblick verstattete, so ist mir jetzt die Sache fast zu schwierig. So viel habe ich herausgefunden, daß wir Ersparnisse nicht gemacht haben.«
Die Frau stieß einen Seufzer aus.
»Reich sind wir nicht!« sagte sie.
»Ganz und gar nicht. Ehe der General kommt, müssen neunhundert Franken in die Casse. Woher aber nehmen?«
»Ich denke, der alte Capitän – – –?«
»Nun ja, diese Pulverbestellung wird Geld bringen, doch ist das auch nur ein größeres Loch, welches man gräbt, um ein kleines auszufüllen.«
»Ich hatte mir das ganz anders gedacht. Wir hätten beim Tode des Vaters unsere Wolle trocken haben können.«
»Das war ja stets seine Absicht auch – aber diese verdammten Geburtsscheine und Taufzeugnisse! Wo in aller Welt sie nur stecken müssen.«
»Wir finden sie nicht, nachdem wir bereits Alles umgestürzt haben.«
»Sie waren aber da, wirklich da?«
»Ja. Die Mutter der beiden Mädchen hat sie selbst aufbewahrt, und zwar an einem sicheren Orte.«
»Vater hat diesen Ort gewußt?«
»Natürlich.«
»Wußte er auch, welches der wirkliche Name der beiden Mädchen ist?«
»Er wußte Alles.«
»Desto ärgerlicher, daß er so schnell sterben mußte, ohne noch ein Wort sprechen oder schreiben zu können.«
»Was könnten wir für die Documente bekommen! Gewiß große, sehr große Summen!« sagte die Frau.
»Dummheit!« antwortete der Sohn. »Du würdest wohl wirklich die Documente an die beiden Mädchens verkaufen! Das fehlte noch! Ich will Alles haben, Alles!«
»Und nun hast Du nichts!«
»Unsinn! Die Schriftstücke werden sich früher oder später doch noch finden; die Hauptsache sind die Mädchens. Ich heirathe Nanon; dann bin ich des Erbes sicher!«
»Seit wann hast Du sie denn eigentlich heirathen wollen, ohne daß sie Ja gesagt hat?«
»Halte den Mund! Sie wird mich doch noch nehmen müssen!«
»Pah!«
»Ich werde es Dir beweisen. Wäre Vater nicht gestorben, so hätte ich mich jetzt zu ihr nach Ortry auf den Weg gemacht, da wir so wie so den Pulvertransport haben. Der Alte hätte mir geholfen, denn es kann ihm nur lieb sein, daß die Nanon von der Baronesse wegkommt, die in ihr eine Stütze hat. Da jedoch der Todesfall eingetreten ist, kann ich es anders anfangen. Geht es nicht im Guten, so geht es im Bösen. Heut aber muß es sich entscheiden. Heut wird sie mein, freiwillig oder mit Gewalt!«
»Nur Vorsicht, Charles!«
»Pah! Wer zum Anführer der Franctireurs mit gewählt wurde, kann kein unebener Kerl sein!«
»Aber wenn sie nun nicht kommt?«
»Sie kommt. Sie hat nicht gewußt, was der Vater war, und darum sehr viel auf ihn gehalten.«
»Und wenn sie nun Deine Frau ist – was dann?«
»So wird das ganze Haus umgerissen, um die Documente zu finden.«
»Dann erbt aber die Madelon die Hälfte!«
»Keine Centime; dafür laß mich sorgen! Mein Plan ist bereits gemacht. Uebrigens sage ich Dir offen, daß ich die Nanon nicht nur des Geldes wegen haben will. Sie ist ein verdammt maulrechtes Mädchen, ein Bissen, wie man feiner keinen bekommen kann. Ich lecke alle Finger nach ihr. Horch!«
Man hörte von unten her das Rollen eines Wagens und das Getrappel von Pferden.
»Wer mag das sein?« fragte die Mutter.
»Gehe hinab, und siehe nach!«
»Wenn sie es nun ist, willst Du sie da nicht selbst empfangen?«
»Nein. Das paßt nicht in meine Hausrolle. Sie ist das Ziehkind, und ich bin der richtige Sohn. Sie hat zu mir zu kommen, um mich zu begrüßen.«
Die Frau ging; dann hörte man unten jugendliche Mädchenstimmen erschallen. Nach einer Weile nahten Schritte. Die Mutter machte die Thür auf und sagte:
»Hier hast Du eine Ueberraschung – alle Beide!«
Er drehte sich rasch um; er erblickte Nanon und Madelon. Seine Stirn wurde kraus. Das war nicht nach seinem Sinne. Madelon war ihm im Wege. Er stand auf, reichte Beiden die Hände entgegen und sagte:
»Es ist ein Trauerhaus, in dem Ihr seid; aber trotzdem will ich Euch willkommen heißen. Auf Nanon hatte ich gerechnet, aber auf Dich nicht, Madelon. Wie kommst Du aus Deutschland, von Berlin hierher?«
Die beiden Mädchen waren sehr ernst. Man sah es ihnen an, daß sie sich in der Nähe dieses Menschen nicht wohl befanden.
»Nanon hat mir telegraphirt, und ich bin sofort auf die Bahn gestiegen,« antwortete die Gefragte.
»Das konntet Ihr Beide bleiben lassen, nämlich Du das Telegraphiren und Du das Reisen!«
Da antwortete Nanon herzhaft:
»Deinetwegen ist es auch nicht geschehen. Wir selbst wollten uns gern einmal einander sehen.«
»Schau, welches Mundwerk Du Dir angeschafft hast! Na, geht hinunter; ich habe nothwendig, und unten giebt es Arbeit für Euch. Mutter wird Euch anstellen!«
Sie wendeten sich bereits zum Gehen; da aber rief er noch:
»Halt! Ihr seid mit Fuhrwerk gekommen?«
»Ja,« antwortete Nanon.
»Wem gehört es?«
»Einem Kutscher aus Etain.«
»Er fährt doch sogleich wieder fort?«
»Nein. Er wartet bis heute Abend in der Schänke.«
»Sapperlot! Wollt Ihr heute Abend wieder fort?«
»Ja.«
»Daraus wird Nichts. Ihr bleibt länger da.«
»Das geht nicht. Unser Urlaub ist so kurz, daß wir schon heute wieder fort müssen.«
»So. Der Kutscher bleibt also wirklich in der Schänke?«
»Ja.«
»Wer bezahlt ihn?«
»Wir.«
»Gut. Ihr könnt gehen.«
Sie gehorchten diesem Gebote, und er schrieb und rechnete weiter. Nach längerer Zeit kam seine Mutter, um nach Etwas zu fragen. Er gab ihr Auskunft und sagte ihr dann, daß sie Nanon zu ihm schicken solle.
»Du willst sie jetzt um ihre Einwilligung fragen?«
»Ja.«
»Sie wird sich weigern.«
»Das werde ich abwarten.«
»Sie scheint ein ganz anderes Mädchen geworden zu sein, viel fester, sicherer und selbstständiger.«
»So bin auch ich ein anderer Kerl geworden. Wollen doch sehen, wer da Herr bleiben wird.«
Sie ging, und gleich darauf trat Nanon ein. Sie wußte natürlich sofort, um was es sich handelte, doch zeigte sie nicht die geringste Spur von Verlegenheit, oder gar von Furcht.
Er hatte auf dem Sopha Platz genommen; er zeigte neben sich hin und sagte:
»Da bist Du ja. Schau, so gefällt es mir. Den Weisungen des Hausoberhauptes muß augenblicklich gefolgt werden. Komm, setze Dich her zu mir.«
»Danke!« antwortete sie. »Ich mache leichte, schnell zu erledigende Angelegenheiten gern im Stehen ab.«
»Du denkst, es handelt sich um eine so leichte Sache? Da irrst Du Dich. Es ist vielmehr eine sehr ernste und wichtige Angelegenheit, welche ich mit Dir zu besprechen habe. Setze Dich also nieder!«
»Gut, so nehme ich Platz.«
Sie setzte sich auf einen Stuhl, welcher fern von ihm stand. Er zog die Stirn in Falten und musterte ihre Gestalt vom Kopfe bis zu den Füßen herab.
»Das muß man sagen,« begann er dann, »ein sauberes Mädchen bist Du geworden. Meinst Du nicht auch?«
In ihren Augen leuchtete es auf. Was sie sonst nie gethan hätte, heut und ihm gegenüber that sie es: Sie antwortete:
»Ja, das meine ich allerdings.«
Er war ganz frappirt von dieser Antwort, die er gar nicht erwartet hatte.
»Donnerwetter!« stieß er hervor. »Wirklich? Du weißt, daß Du so schön bist? Da bist Du wohl von Deinem Werthe ganz außerordentlich überzeugt?«
»Ganz ebenso wie Du von dem Deinigen.«
»Gut, so passen wir zusammen. Zwei sehr werthvolle Personen. Wollen wir uns zusammenthun?«
»Danke!« antwortete sie schnippisch.
»Nicht? Warum nicht?«
»Du meinst mit dem nicht sehr ästhetischen Ausdrucke »Zusammenthun« doch das, was man gewöhnlich verehelichen, verheirathen, vermählen nennt?«
»Ja, natürlich.«
»So ist es zu verwundern, daß Du anstatt eines edlen Ausdruckes gerade den dümmsten und gemeinsten wählst! Nicht daß sich jeder Theil selbst für werthvoll hält, giebt eine glückliche Ehe, sondern daß jeder Theil von dem Werthe des Andern überzeugt ist. Uebrigens habe ich noch gar nicht an meine Vermählung gedacht; von einem Zusammenthun aber kann überhaupt keine Rede sein; das versteht sich ja wohl ganz von selbst.«
»Du sprichst wie ein Buch! Also gegenseitige Werthschätzung. Wie hoch schätzest Du da wohl meinen Werth?«
»Ich habe an Dir noch keinen Werth bemerkt, konnte also auch keine Schätzung vornehmen.«
»Nun, Du wirst meinen Werth selbst noch erkennen. Die höchsten Werthe sind die verborgenen. Zu Tage liegt nur das taube Gestein; nach Diamanten aber muß man graben. Ich werde Dir Gelegenheit geben, bei mir nachzugraben, und Du sollst Dich wundern über die Schätze, welche Du finden wirst.«
»Zum Graben habe ich keine Lust. Es werden Einem Steine genug angetragen, die bereits geschliffen sind.«
»So meinst Du, daß ich ungeschliffen bin?«
»Nein, denn ich weiß ja überhaupt nicht, ob bei Dir ein Stein gefunden werden könnte, der sich des Schleifens verlohnte.«
»Hölle und Teufel! Du bist wahrhaftig eine Katze, welche es versteht, ihre Krällchen zu gebrauchen!«
»Sie sind ja da, um zur Wehr zu dienen.«
»Schön! Machen wir also nicht unnütze Worte; sie führen doch zu nichts! Behandeln wir die Sache also vollständig kalt, objectiv und geschäftsmäßig! Ich habe nämlich Lust, Dich zu heirathen!«
»Ich glaube es. Zu verdenken ist es Dir nicht. Ich aber habe keine Lust.«
»Das ist sehr offen. Ich hoffe, daß Du auch ferner so aufrichtig bleibst. Dann kommen wir schneller zur Klarheit. Hast Du etwa bereits einen Bräutigam?«
»Nein. Zwar bin ich Dir keineswegs eine Antwort schuldig, aber ich will sie dennoch geben, damit wir früher zum Ende kommen.«
»Warum also magst Du mich nicht?«
»Weil Du nicht nach meinem Geschmacke bist!«
»Ah. Du heirathest nach Geschmack?«
»Ich halte Dich überhaupt nicht für den Mann, bei dem ich glücklich sein kann.«
»Pah! Man täuscht sich! Weißt Du, was mein Vater an Euch Beiden gethan hat?«
»Es ist uns so oft vorgerechnet worden, daß diese Frage sehr überflüssig ist. Ich weiß Alles auswendig.«
»Du solltest dankbar sein.«
»Ich sehe keinen Grund dazu. Mutter hat ihre Juwelen und Alles verkauft, um Euch zu bezahlen. Ich hege sogar die Vermuthung, daß sie irgend eine Summe bei Euch deponirt hat, die aber unterschlagen worden ist.«
»Donnerwetter! Das nenne ich ebenso kühn, wie aufrichtig!«
»Ich habe keinen Grund zur Furcht; Dich aber brauche ich am Allerwenigsten zu scheuen.«
»Lassen wir das! Also Du heirathest mich weder aus Liebe, noch aus Dankbarkeit. Wie steht es denn mit der Klugheit? So eine recht schlau angelegte Verbindung muß doch eine sehr glückliche sein!«
»Danke.«
»Ihr kennt Euren Namen nicht –«
»Kennst Du ihn?« fragte sie schnell.
»Hm.«
»Gieb eine bestimmte, deutliche Antwort.«
»Gut. Wenn Du meine Frau wirst, gebe ich Euch Euren Namen, Euere Legitimationen und somit die Ansprüche auf die Erbschaft, die Ihr zu erheben habt.«
»Ah, Du willst durch mich erben?«
»Natürlich. Das leugne ich gar nicht.«
»Beweise mir erst, daß Du im Besitze unserer Dokumente bist.«
»Ah. Du glaubst mir nicht?«
»Nein. Ich kenne Dich als Lügner.«
»Dich werde ich nie betrügen.«
»Spare diese Versicherungen. Zeige die Documente her!«
»Fällt mir nicht ein.«
»Nun, so sind wir fertig!«
Sie erhob sich, um zu gehen. Er sprang auf und sagte:
»Also Du magst mich nicht?«
»Nein.«
»Selbst wenn ich die Documente besitze?«
»Beweise, daß Du sie hast, und dann will ich mit Dir verhandeln, eher aber nicht!«
»Zeigen kann ich sie nicht.«
»Brechen wir also ab.«
Da flammte eine wilde, begehrliche Gluth in seinen Augen auf. Er trat herzu, faßte sie beim Arme und sagte:
»Ich will Dich aber haben, und werde Dich haben, so oder so. Verstehst Du mich?«
»Wenn Du eine einzige Drohung ausstößest, verlasse ich augenblicklich das Haus.«
»Nun, so will ich mir wenigstens den Kuß nehmen, den die Schwester dem Bruder zu geben hat!«
Er öffnete die Arme, um sie zu umschlingen; aber noch bevor ihm dies gelang, erhielt er einen Schlag in's Gesicht, daß er mit einem Schrei zurücktaumelte. Auf dem Tische, Nanon gleich zur Hand, hatte ein Teller gestanden. Sie hatte ihn blitzschnell ergriffen und dem Zudringlichen in das Gesicht geschlagen, so daß er in Scherben zu Boden fiel. Im nächsten Augenblicke hatte sie das Zimmer verlassen.
Er ballte die Fäuste drohend und knirrschte:
»Das sollst Du mir entgelten! Ich liebe sie rasend! Mein muß sie werden, aus Berechnung, aus Liebe und auch zur Strafe!«
Von hier an verging der Tag wie jeder Trauertag. Verwandte und Bekannte kamen, um an dem Leichenconducte Theil zu nehmen, und als der Sarg in die Grube gesenkt worden war, kehrte man in das Trauerhaus zurück, um sich zur Tafel zu setzen.
Als Pflegekinder des Verstorbenen fiel Nanon und Madelon die Verpflichtung zu, die Gäste zu bedienen.
Kurz nach der Rückkehr vom Kirchhofe hatte Charles Berteu den Kutscher aufgesucht, welcher seine Stube in einem nur zum Gebrauche des Verwalters errichteten Stallgebäude hatte. Dieser Kutscher war ganz gleichen Schlages mit seinem Herrn; sie hatten bereits schon manchen Streich mit einander ausgeführt.
»Hast Du den fremden Kutscher gesehen, welcher die beiden Schwestern gebracht hat?« fragte Berteu.
»Nein.«
»Auch Geschirr und Pferde nicht?«
»Ebenso wenig.«
»So gehe zur Schänke, wo er ausgespannt hat, und siehe Dir Alles an – die Pferde, das Geschirr, den Kerl, seine Kleidung, kurz Alles!«
»Wozu? Giebt es einen lustigen Streich?«
»Ja, einen Streich und zwanzig Franken für Dich!«
»Alle Wetter! Da bin ich sehr gern dabei!«
»Es liegt mir nämlich daran, zu erfahren, ob Abends in der Dunkelheit Du für diesen Kutscher gelten könntest, unser Wagen mit dem seinigen und so weiter.«
»Also eine Komödie der Verwechselungen? Das wird drollig! Ich gehe; ich gehe. Aber, Monsieur, einige Franken pränumerando! Ich muß in der Schänke einkehren. Sie werden Einsicht haben!«
»Hier!«
Der Kutscher steckte das Draufgeld schmunzelnd ein und entfernte sich, um nach der Schänke zu gehen.
Dort saß unter den wenigen anwesenden Gästen – Fritz. Er war zu Fuße hergekommen, hatte das Schloß umschlichen und wollte nun, nachdem er einen Labetrunk zu sich genommen hatte, die Pulvermühle aufsuchen, von welcher Nanon gesprochen hatte.
Er bemerkte, daß der Eingetretene den Etainer Kutscher ganz auffällig musterte, dann sich längere Zeit im Stalle verweilte und endlich auch den vor der Thür stehenden Wagen genau betrachtete.
Das fiel ihm natürlich auf. Als der Mann dann wieder Platz genommen hatte, trank er ihm zu und zog ihn in ein Gespräch, während dessen er hörte, daß er der Kutscher von Charles Berteu sei.
Nun schöpfte er Verdacht. Hier war höchst wahrscheinlich Etwas in Vorbereitung, ein Streich, welcher das Kutschgeschirr betraf. Er glaubte, der Kutscher würde bald nach dem Schlosse zurückkehren; dies war aber nicht der Fall, vielmehr setzte er sich zu den anderen Gästen, um ein Kartenspiel mit ihnen zu machen.
Die Sache war langweilig, und so brach Fritz auf, um sich noch ein Wenig in der Gegend umzusehen. Es war sicher, daß, wenn Etwas gegen die Schwestern geschehen sollte, dieses erst Abends vorgenommen werden würde.
Er entdeckte die Pulvermühle mitten im Walde. Es war eine Walzmühle, und ein ziemlich breiter Fahrweg verband sie mit dem Schlosse. Das Werk stand heute still. Am Tage der Beerdigung des Verwalters wurde nicht gearbeitet.
Nun begann es dunkel zu werden, und er kehrte nach der Schänke zurück. Dort saß der Kutscher noch immer, blieb aber nicht lange mehr. Als er fort war, folgte ihm Fritz bis nach dem Schlosse. Er hatte sich mit einigen Instrumenten versehen, für den Fall, daß er sie bei seinem Lauscher- und Wächterwerke brauchen sollte.
Der Kutscher ging in sein Stallzimmer, und Fritz begab sich auf Recognition. Es war jetzt so finster, daß man schon etwas wagen konnte. Er kletterte an den Stangen der Veranda, welche sich um das ganze Gebäude zog, empor, und befand sich nun auf einer mit Zinkblech gedeckten Plattform, von welcher aus man in jedes Fenster des Stockwerkes zu blicken vermochte.
Er schlich sich von einem Fenster zum andern, rund herum. Er sah und zählte die Trauergäste und auch die beiden Mädchen, von denen dieselben bedient wurden; er betrachtete sich alle erleuchteten Zimmer genau, und er erkannte auch sofort, welches von den Letzteren dasjenige von Charles Berteu sei.
Dieser saß bei seinen Gästen. So lange er sich dort befand, stand nichts zu befürchten; darum hielt Fritz ihn von draußen aus scharf im Auge.
Erst nach langer Zeit erhob sich Berteu und ging zur Thür hinaus. Fritz bückte sich nieder und kroch auf der Veranda leise nach der Gegend hin, in welcher sich das Zimmer befand, welches er für dasjenige Berteus gehalten hatte. Er hatte diesen Punkt noch nicht erreicht, als aus dem geöffneten Fenster ein Ruf erschallte:
»Mathieu!«
»Ja, Herr!«
Diese Antwort kam von der Kutscherwohnung herauf.
»Schnell zu mir!«
Fritz blieb vorsichtig liegen. Unten hörte man die Schritte des Kutschers. Als diese im Innern des Hauses verklungen waren, kroch er weiter und gelangte an das Fenster, welches der warmen Abendluft wegen geöffnet war. Er bemerkte, daß Berteu, eine Cigarre rauchend, an dem offenen Fenster saß. Der Kutscher trat ein. Fritz konnte von dem nun folgenden Gespräch jedes Wort verstehen.
»Nun, hast Du die Augen aufgethan?« fragte Berteu.
»Und wie! Je besser man bezahlt wird, desto besser und schärfer kann man sehen!«
»War das Geschirr fein?«
»Na, Mittelsorte, so ungefähr wie das unserige.«
»Die Pferde?«
»Zwei Braune, grad so wie wir auch haben.«
»Der Kutscher?«
»Von meiner Statur, lang und stark.«
»So glaubst Du also, daß es beim Dunkel der Nacht möglich ist, unser Gespann mit dem Fremden zu verwechseln?«
»Ganz sicher. Nur müßte man sich vor Beleuchtung hüten.«
»Das versteht sich ganz von selbst! Kannst Du Dir vielleicht denken, um wen es sich handelt?«
Der Kutscher zog eine schlaue Grimmasse und antwortete:
»Natürlich um Diejenigen, welche mit dem fremden Geschirr gekommen sind. Wenn es anders wäre, müßte ich mich außerordentlich irren.«
»Du hast allerdings ganz richtig gerathen, alter Schlaukopf. Es handelt sich um einen Streich, den ich meinen Pflegeschwestern spielen will, von dem aber Niemand Etwas ahnen und erfahren darf. Wir wollen ihn berathen. Deine Rechnung wirst Du, wie Du ja weißt, dabei finden.«
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