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Fortsetzung 82

Schneffke beantwortete die Frage Marien's nicht sogleich sondern blickte ihr freundlich in's Auge.

»Nun?« drängte sie, schelmisch lächelnd.

Endlich antwortete er mit ernster Miene:

»Gott bewahre. Ich weiß, was sich schickt und gehört. Man ist ja Künstler und Cavalier. Ich versuchte, sie in Güte aus einander zu bringen, vergebens; Haller hielt zu fest. Endlich zog und zerrte ich zu sehr. Das gab einen fürchterlichen Riß. Ich hatte die Gouvernante in den Händen; Haller aber flog und rutschte und kugelte den Berg hinab, zerriß sich die Hosen, stürzte in das Wasser, mußte halb ersaufen und ließ sich nicht wieder sehen.«

»Das ist die Rutschparthie?«

»Ja.«

»Und Du? Du hattest nun die Gouvernante?«

»Ja.«

»War sie hübsch?«

»Sehr!«

»Weiter! Weiter!«

»Sie bedankte sich bei mir. Sie sagte mir sogar, daß sie mir einen Kuß gegeben hätte, aber nur diesem Haller nicht. Sie bot mir sogar einen Kuß an.«

»O weh!«

»Ja, wirklich.«

»Was thatest Du?«

»Ich schüttelte den Kopf.«

»Weiter nichts?«

»Was soll ich sonst noch schütteln, außer dem Kopfe?«

»Ich meine, ob Du sonst weiter nichts gethan hast?«

»Nein. Ich war zunächst ganz perplex, so daß es mir unmöglich war, etwas zu sagen.«

»Dann aber kam Dir doch die Sprache wieder?«

»Ja, aber erst nach ungefähr fünf Minuten.«

»Und was sagtest Du da zu ihr?«

»Ich danke, Fräulein! Ich mag keinen Kuß, denn ich habe sehr gute Grundsätze!«

»Solltest Du dies wirklich gesagt haben?«

»Bitte, erkundige Dich bei ihr!«

»Das muß sie aber doch außerordentlich geärgert haben!«

»O nein. Sie verneigte sich und sagte: Mein Herr, das thut mir leid. Ich bin Gouvernante und Schriftstellerin. Ich schreibe gerade jetzt ein Buch über das Küssen – –«

»Ist das möglich?«

»Natürlich! Man kann über Alles ein Buch schreiben, also auch über das Küssen. Natürlich aber muß man Das, worüber man schreibt, aus dem Fundamente verstehen, also gut gelernt und geübt haben. Gerade eben darum sagte sie weiter: Ich habe mich natürlich im Küssen üben müssen. Ich habe geküßt Arme und Reiche, Große und Kleine, Dicke und Dünne, Hohe und Niedere, Künstler und Essenkehrer, Minister und Weichensteller; aber so ein küßlicher Mund, wie der Ihrige ist, ist mir doch noch nicht vorgekommen. Daher bat ich Sie um einen Kuß. Aber, was nicht ist, das ist nicht. Behüt Dich Gott, es wär' so schön gewesen; behüt Dich Gott, es hat nicht sollen sein!«

»Ein sonderbares Frauenzimmer!«

»O, Schriftstellerinnen und Gouvernanten sind alle höchst sonderbar; ist nun einmal eine Dame zufälligerweise alles Beides, so ist sie zehnfach sonderbar.«

»Was that sie dann?«

»Sie bat mich, sie aus dem Walde zu bringen.«

»Und?«

»Nun und? Ich mußte es thun. Draußen wurde sie von ihrer Herrschaft erwartet, einer Generalin. Es war eine ganze Gesellschaft dabei. Sie waren zu Pferde. Ich bekam auch ein Pferd, einen Schimmel aus Arabien, ein verteufelt wildes Thier.«

»Gott, wenn Du gestürzt wärst!«

»Ich? Stürzen? Keine Möglichkeit! Eher stürzt das Pferd als ich! Wir sind dann im Galopp heimgeritten. Als ich nach Dresden kam, sah ich mich nach der Gesellschaft um – – kein Mensch war bei mir. Ich war Allen vorangekommen und brachte das Pferd erst dann zum Stehen, als ich bereits wieder über Dresden hinaus war.«

»Welch ein verwegener Mensch! Das wirst Du später mir zu Liebe unterbleiben lassen. Nicht?«

»Dir zu Liebe? Ha! Ich bin ein leidenschaftlicher Reiter. Nichts geht mir über dieses Vergnügen. Aber Dir zu Liebe werde ich allerdings – – – ah, wer ist da?«

Draußen ließ sich Wagenrollen und lautes Peitschenknallen hören. Eine herrschaftliche Equipage mit noch drei Kutschen und einem Küchenwagen kam angefahren.

»Der Herr! Der gnädige Herr!« rief Marie. »Ich muß hinaus!«

Im nächsten Augenblicke stand Hieronymus allein im Zimmer.

»Das war aufgeschnitten!« brummte er wohlgefällig vor sich hin. »Sie wird meine Frau, und da ist es gut, wenn sie schon bei Zeiten gehörigen Respect bekommt!«

Die Equipage hielt. Zwei Diener sprangen ab und öffneten. Ein alter Herr stieg aus.

»Jedenfalls der General selbst,« sagte der Maler. »Ein prächtiger Greis! Schön, stolz, mild, prachtvoll militärische Haltung.«

Nach ihm stieg seine Enkelin, Ella von Latreau, aus.

»Himmelelement!« sagte der Maler drin am Fenster. »Ein Engel! Eine Houri aus Muhameds Himmel! Eine Kleopatra! Wer da noch?«

Die jetzt ausstieg, war – Alice, die Schwester des Secretärs des Grafen von Rallion, die Geliebte des Telegraphisten Martin Tannert. Man wird sich erinnern, daß Ella von Latreau versprochen hatte, sie unter ihren Schutz zu nehmen.

»Ein allerliebstes Kind!« sagte der Maler. »Hübsch, kräftig, doch mild und lieblich wie Brustkanaster, Mittelsorte.«

Aus den andern Wagen stieg das Dienstpersonal.

An dem Thore stand der Schließer mit Frau und Tochter, um den Herrn zu bewillkommnen, Sie küßten ihm und Ella die Hände und führten sie hinauf in den Salon. Die Herrschaft war geliebt und verdiente diese Liebe.

Es dauerte einige Zeit, bis man so leidlich in Ordnung war. Dann zog Ella sich mit Alice in ihre Gemächer zurück und ließ dem Großpapa Zeit, an die Geschäfte zu denken.

Hieronymus Aurelius Schneffke hatte mit seinem Scharfblicke erkannt, daß nicht alle Kutschen dem Grafen gehören würden. Er ging daher hinaus und machte sich an einen der Wagenführer.

»Sind Sie im Dienste des Generals?« fragte er. »Nein, Monsieur.«

»Woher sonst?«

»Aus Metz.«

»Ah, der Graf ist in Metz ausgestiegen, nämlich aus der Bahn, und hat Sie für den Weg nach hier gemiethet?«

»Ja.«

»Wann kehren Sie zurück?«

»Noch heute, nachdem ich in Etain gefüttert und den Pferden einige Ruhe gegönnt habe.«

»Wollen Sie mich mit nach Metz nehmen?«

»Gern. Dann bitte ich aber, Ihre Angelegenheiten zu beschleunigen. In einer halben Stunde geht es fort.«

Der Maler besprach noch den Lohn und eilte dann nach seiner Wohnung im Verwalterhause. Er hatte dort nur Kleinigkeiten, welche er zu sich stecken konnte. Er nahm sich gar nicht die Mühe, Abschied zu nehmen oder ein Wort über seine Absicht fallen zu lassen. Es war ihm sogar lieb, wenn Berteu heute noch nicht erfuhr, daß er fort sei.

Dann kehrte er nach dem Schlosse zurück, wo er seine Mappe und den Feldstuhl gelassen hatte. Beides wurde in den Wagen gethan, und dann wollte er sich verabschieden. Aber von wem? Kein Mensch war in der Stube. Der Schließer befand sich beim Grafen, und seine Frau und Tochter waren bei dessen Enkelin. Er machte es wie stets: Er that ganz das, was ihm in den Sinn kam. Er stieg die Treppe empor. Droben stand ein Livreediener.

»Wer sind Sie?« fragte dieser.

»Künstler. Ich suche Monsieur Melac.«

»Der ist nicht zu sprechen. Befindet sich bei Excellenz.«

»Madame Melac?«

»Beim gnädigen Fräulein.«

»Mademoiselle Melac?«

»Auch beim gnädigen Fräulein.«

»Donnerwetter! Ich habe keine Zeit! Ich muß Abschied nehmen. Der Kutscher wartet nicht.«

Der Diener musterte ihn und sagte dann lächelnd:

»Monsieur, ist es wirklich so eilig?«

»Sehr.«

»Herr Melac kann nicht, Frau Melac wohl auch nicht. Genügt es Ihnen vielleicht, wenn ich Fräulein Melac Ihnen sende?«

»Ja, ja; das genügt vollständig!« beeilte sich Hieronymus, zu antworten.

»Wohin soll ich sie Ihnen senden?«

»Hinunter in die Wohnung.«

»Schön! Verlassen Sie sich darauf, daß es gleich besorgt wird!«

Der Maler begab sich hinunter nach der Wohnung des Beschließers, und der Diener ging in das Vorzimmer des Fräuleins. Dort war eine Zofe beschäftigt, Servietten zu legen.

»Wer ist bei der gnädigen Comtesse?« fragte er.

»Madame und Mademoiselle Melac.«

»Kann ich Madame einmal haben?«

Die Zofe ging hinein und brachte Frau Melac heraus.

»Madame, es war ein Herr hier, welcher Sie sehr nothwendig zu sprechen hat,« meldete der Diener.

»Mich?«

»Ja. Wenigstens glaube ich richtig verstanden zu haben.«

»Wer war es?«

»Er nannte sich einen Künstler.«

»Ah, ein kleiner, wohl beleibter Herr?«

»Ja, ja, das war er.«

»Wo ist er?«

»In Ihrer Wohnung.«

Sie ging hinab, und der Diener entfernte sich, ein lustiges Lächeln auf seinen Lippen. Herr Hieronymus Aurelius Schneffke stand unten vor dem Spiegel und betrachtete sein dickes Conterfei, welches von der Glasscheibe in sprechender Aehnlichkeit zurückgeworfen wurde.

»Ein übler Kerl bin ich nicht,« meinte er. »Wer mich umarmt, der oder die hat etwas in den Händen! Donnerwetter, ich passe doch ganz prächtig zu dieser famosen Marie. Die Länge, die Breite, die Tiefe, das Gewicht, der Umfang, der Kubikinhalt, Alles, Alles klappt aufs Beste. Darum ist ein Kuß von ihren Lippen so hübsch bequem. Man braucht nicht in die Höhe zu springen, so daß man sich die Waden dehnt, und man braucht auch nicht sich zu bücken, so daß man sich das Kreuz verstaucht. Jetzt kommt der Abschied! Der soll – – ah, ich höre sie!

Das sind Frauenschritte! Sie kommt. Ich werde sie sofort umfangen!«

Er stellte sich neben den Eingang. Die Thür ging auf.

»Marie, meine liebe, süße – – himmelheiliges schock – – – Sakkerment – welch' ein Heidenpech! Er sprang zurück. Er hatte die Mutter der Erwarteten an sein sehnsüchtiges Herz gedrückt.

Frau Melac war erstaunt, sogar mehr als erstaunt.

»Monsieur!« rief sie.

»Madame,« antwortete er, da ihm in diesem Augenblicke nichts Anderes einfiel.

»Sie umarmen mich?«

»Ja, leider!« stieß er hervor.

»Leider! Das soll also heißen, daß ich nicht eigentlich zum Umarmen geeignet bin?«

Er schwitzte bereits vor Angst.

»Jetzt wohl nicht mehr!« antwortete er.

Erst als diese Worte heraus waren, bemerkte er, was für eine Unhöflichkeit er begangen hatte. Sie sah seine Verlegenheit; sie hielt ihn für einen guten Menschen. Ein Lächeln trat auf ihre Lippen.

»Jetzt also nicht mehr!« meinte sie. »Bin ich denn gar so abschreckend häßlich?«

»Nein. Daß Sie so ein Monstrum sind, das habe ich doch nicht gemeint!«

»Gut! Ihre Umarmung hat jedenfalls einer Andern gegolten?«

»Ja.«

»Diese Andere heißt Marie? Wenigstens glaube ich, diesen Namen gehört zu haben.«

»Ich kann es nicht leugnen!«

»Meinen Sie meine Tochter?«

»Ja,« nickte er zustimmend.

»So, so! Also diese wollten Sie umarmen?«

»Das war allerdings mein Wunsch.«

»Warum schickten Sie aber da zu mir?«

»Zu Ihnen?« fragte er erstaunt.

»Ja. Der Diener ließ mich rufen.«

»Ah! Hätte ich den Kerl hier!«

»Er wird Sie falsch verstanden haben.«

»Unmöglich! Ich bin nicht stumm und er ist hoffentlich nicht taub. Ich habe sehr deutlich gesprochen. Ich glaube, der Kerl hat sich einen Spaß machen wollen!«

»Wenn das der Fall ist, so ist ihm derselbe allerdings auch ganz prächtig gelungen.«

»Aber mir nicht! Ich verbitte mir solche Bedientenscherze!«

»Ich mir eigentlich auch. Da aber die Sache nun einmal nicht zu ändern ist, so wollen wir darüber hinweg zur Tagesordnung übergehen.«

»Hm!« brummte er, indem er sie prüfend anblickte. »Was verstehen Sie unter Tagesordnung?«

»Das, was nun jetzt an der Ordnung ist. Oder sollten Sie sich das nicht selbst sagen können?«

Er hatte bereits nach seinem Hute gegriffen, um sich schleunigst zurückzuziehen, falls der Fall für ihn ein schlimmes Aussehen annehmen werde. Da aber Frau Melac sich ruhig niederließ und ein keineswegs unfreundliches Gesicht zeigte, so legte er den Calabreser wieder fort und sagte:

»Es ist wahr, Madame; ich habe Sie zunächst herzlich um Verzeihung zu bitten.«

»Ich verzeihe Ihnen,« antwortete sie lächelnd. »Es giebt nicht leicht eine ältere Dame, welche eine Umarmung unverzeihlich findet. Und übrigens haben Sie mir ja die freundliche Versicherung gegeben, daß ich wenigstens nicht geradezu ein Monstrum von Häßlichkeit bin.«

»Nein, das sind Sie nicht; denn sonst hätten Sie auch nicht die mindeste Aehnlichkeit mit Mademoiselle Marie.«

»Das ist's, worauf wir kommen müssen! Also Marie war es, welche Sie umarmen wollten?«

»Ja.«

»Aber wissen Sie, welche Personen man umarmt?«

»Jedenfalls nur diejenigen, welche man lieb hat.«

»Damit wollen Sie sagen –?«

»Daß ich Marie lieb habe? Ja.«

»Aber Monsieur, kennen Sie Marie schon längst?«

»Nein.«

»Erst seit gestern?«

»Ja.«

»Das ist aber doch ganz ungewöhnlich schnell gegangen?«

»Ja, ich kam; ich sah, und ich siegte!«

Frau Melac lachte belustigt auf und antwortete:

»Oder vielmehr: Sie kamen; Sie sahen, und Marie siegte. Ist's nicht so?«

»Auch so, ja. Wir haben einander gesehen und besiegt. Wir haben vor einander die Segel und die Flaggen gestrichen; wir werden uns Bord an Bord legen, um als einträchtige Doppelfregatte über das Meer des irdischen Lebens zu stampfen und zu dampfen.«

»Sie verstehen es, sich außerordentlich poetisch auszudrücken, mein Lieber!«

»Ja, man hat das Seinige gelernt,« lachte er.

Sie stimmte in seine Lustigkeit ein, was ihm all seinen Muth wieder gab, und sagte dann:

»Wie es scheint, haben Sie bereits mit Marie gesprochen?«

»Ja, sehr sogar!«

»Wann?«

»Vorhin, vor der Ankunft des Grafen, der mir höchst ungelegen kam. Er konnte zehn Minuten später eintreffen.«

»Hat Marie Ihnen ihr Wort gegeben?«

»Nein, aber einen Kuß.«

»Einen Kuß? Ah!«

»Ja, so ungefähr.«

Er umarmte sie, ehe sie ihn abwehren konnte und gab ihr einen herzhaften Kuß auf den Mund.

»Sachte, sachte!« mahnte sie, ihn von sich schiebend. »Sie sind ja ein echter Alexander der Große im Erobern.«

»Das ist angeborene Gottesgabe,« antwortete er lachend.

»Und dennoch kann ich diese Schnelligkeit nicht begreifen, mit welcher Sie mit Marie Eins geworden sind.«

»Ja, es kam auch über mich ein Wenig rasch. Aber während der Eine fünfzehn Jahre braucht, um nur zu erfahren, daß man lebt, um zu heirathen, hat der Andere bereits die sechste Frau zu Tode geärgert. Die Liebe kommt bei dem Einen wie eine Schnecke und bei dem Anderen wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Das geht Puff auf Puff und Knall auf Knall. Es leuchtet, ein Donnerschlag und man ist getroffen und erschlagen für die ganze Lebenszeit.«

Frau Melac mußte herzlich lachen. Sie meinte:

»Ich wiederhole, daß Sie Ihre Bilder vortrefflich zu wählen verstehen. An Ihnen ist ein zarter lyrischer Dichter verdorben. Nicht?«

»Vielleicht drücke ich mich in späteren Jahren kräftiger aus. Jetzt ist man jung und zart besaidet. Wenn Einen später das Leben in die Schule nimmt, so wird man mürrisch, bekommt das Podagra und dichtet nur noch tragische Lebensscenen.«

»So wünsche ich, daß Sie möglichst lange jung bleiben.«

»Da gebe ich Ihnen ohne alle Abstimmung meine Zustimmung. Aber nun einmal ohne Scherz, Madame! Hier meine Hand. Sind Sie mir bös, daß mein Herz mich getrieben hat, zu Marie von Liebe zu sprechen?«

»Ich kann Ihnen nicht zürnen. Kein Mensch kann die Stimme seines Herzens zum Schweigen bringen. Nur hat man die Pflicht, auch den Verstand sprechen zu lassen.«

»O, das thue ich ja.«

»Und glauben Sie, daß die Stimme der Vernunft in diesem Falle mit derjenigen des Herzens im Einklange stehen werde?«

»Ich bin überzeugt davon.«

»Aber wir wohnen in Frankreich, und Sie wohnen im Auslande. Wollen Sie uns das einzige Kind so weit fort entführen?«

Er schüttelte den Kopf und antwortete:

»Tragen Sie keine Sorge. Ich bin frei. Der Maler ist an keinen Ort gebunden. Ueberhaupt ist es mir auch noch gar nicht beigekommen, Ihnen oder Marien ein bindendes Wort abzufordern.«

»Ah! Wie habe ich das zu verstehen?«

»Ich habe Marien gesagt, daß ich sie liebe, und sie hat mir das Gleiche erwidert. Dann kam der Graf und jetzt muß ich fort. Wir haben also über unsere Zukunft noch kein Wort sprechen können.«

»Ich glaubte, das sei in Ordnung gebracht?«

»Nein. Ich allerdings werde mich für gebunden betrachten. Komme ich wieder und Marie ist noch frei, dann werde ich mir Mühe geben, Ihnen zu beweisen, daß ich Ihres Kindes nicht ganz unwerth bin. Sagen Sie dann Ja, so werden Sie mich glücklich machen.«

»Das ist ehrenwerth, Monsieur. Meine Sympathie haben Sie. Weiß mein Mann davon?«

»Nein.«

»Soll er erfahren?«

»Das überlasse ich am Besten Ihnen.«

»Werden Sie noch vor Ihrer Abreise mit ihm sprechen?«

»Ich muß fort und weiß nicht, ob er Zeit hat.«

»Ich glaube allerdings kaum, daß er eine Minute für Sie erübrigen kann. Er ist beim gnädigen Herrn und kann nicht um Entlassung bitten.«

»So muß es genügen, Sie von unserer Herzensangelegenheit unterrichtet zu haben. Werden Sie mir erlauben, Marien zuweilen eine Zeile zu senden?«

»Gern, Monsieur. Hoffentlich sehen wir Sie bald wieder?«

»Ich wünsche es. Schreiben muß ich Ihnen auf alle Fälle, da ich Sie ja über die Familie Bas-Montagne unterrichten muß. Jetzt darf ich Sie nicht länger zurückhalten. Bitte, nehmen Sie eine Hand des Dankes und des Abschiedes. Seien Sie überzeugt, daß ich ein ehrlicher Mann bin und daß Sie mir das Glück Ihres Kindes anvertrauen können.«

»Ich glaube es. Leben Sie wohl, Monsieur.«

Sie hatte sich erhoben und reichte ihm ihre Hand, die er an seine Lippen drückte. Er wollte gehen; sie aber sagte:

»Warten Sie noch einen Augenblick. So viel kann der Fuhrmann schon noch ersparen.«

Sie ging.

»Sakkerment, jetzt wird sie mir den Alten auf den Hals schicken,« brummte Schneffke. »Na, mir auch recht! Es ist ganz in der Ordnung auch mit dem Vater zu sprechen, nachdem man mit der Tochter und der Mutter gesprochen hat.«

Er mußte ein Weilchen warten; dann trat – Marie ein. Das war eine frohe Ueberraschung.

»Marie!« rief er. »Mutter hat also bedeutend mehr Verstand als dieser Lakai, mit dem ich noch einige Worte im Vertrauen sprechen möchte.«

»Zweifelst Du daran?«

»Nein, nach Dem, was ich mit ihr gesprochen habe. Sie hat Dich geschickt?«

»Ja.«

»Haben es die Anderen gehört?«

»Ja; aber sie wußten nicht, was ich hier soll. So schnell willst Du fort?«

»Ja. Draußen warten bereits die Pferde.«

»Aber Du wirst schreiben?«

Da zog er sie an sich und fragte:

»An wen, mein Engel? An den Vater?«

»Doch wohl auch an mich.«

»Ja, wenn ich gewiß wußte, daß Du meine Zeilen auch lesen wirst.«

»Gern, herzlich gern. Ich werde täglich einen Brief erwarten.«

»Kind, das ist zu viel verlangt! Sagen wir monatlich!«

»Das ist zu wenig.«

»Wöchentlich?«

»Das mag eher gehen.«

»Und Du antwortest mir auch?«

»Ja, obgleich ich diese Art von Briefen noch nicht geschrieben habe.«

»O, das lernt sich leicht. Uebrigens will ich Dir einen kleinen Fingerzeig geben: Du schickst mir allemal einen tüchtigen Kuß mit.«

»Wie macht man das?«

»Man macht mit der Feder einen Kreis auf das Papier, gerade so groß, daß man den Mund, wenn man ihn spitzt, hinein bringt. Dann schreibt man in diesen Kreis das Wort »ein Kuß,« und wenn es trocken geworden ist, setzt man den Kuß auch wirklich hinein.«

»Bleibt er drin?«

»Wenn das Couvert gut ist, ja.«

»Und was wird dann später mit ihm?«

»Ich nehme mir ihn weg.«

»Womit? Mit den Fingern?«

»Nein, sondern mit der Beißzange, Du kleiner, lieber Spaßvogel Du!«

»Glaubst Du, daß meine Küsse aus einem so harten, festen Material bestehen?«

»Das wollen wir sogleich einmal probiren.«

Und sie probirten so lange, bis draußen der Fuhrmann durch ein lautes Peitschenknallen seine Ungeduld zu erkennen gab.

»Hörst Du,« meinte der Maler. »Dieser Mensch ist ganz sicher höchst unglücklich verheirathet, sonst würde er uns diese paar Minuten gönnen. Also, lebe wohl, mein Leben.«

»Lebe wohl und – bleibe mir treu.«

Eine Minute später rollte der Wagen mit dem glücklichen Hieronymus von dannen.

Charles Berteu hatte sich während des ganzen Tages nicht zu Hause sehen lassen. Erst am Spätnachmittage kehrte er zurück. Seine Mutter kam ihm ängstlich entgegen.

»Wo bleibst Du so lange?« fragte sie. »Ich habe mit größter Ungeduld auf Dich gewartet.«

»Warum?« antwortete er rasch.

»Das weißt Du noch nicht?«

»Was soll ich wissen? Ich hatte in der Pulvermühle zu thun. Da war ich bis jetzt.«

»Ohne es mir zu sagen. Hätte ich es gewußt, so konnte ich zu Dir schicken, um Dich holen zu lassen.«

»War es so nothwendig?«

»Hast Du denn nicht gesehen, daß sämmtliche Vorhänge des Schlosses emporgezogen sind?«

»Die Rouleaux? Das habe ich gesehen. Jedenfalls stäubt man die Zimmer aus.«

»Nein. Der General ist angekommen.«

Er stand starr.

»Der General?« fragte er. »Allein?«

»Nein, sondern mit dem Fräulein und sämmtlicher Dienerschaft.«

»So bleibt er hier?«

»Wie es scheint.«

»Alle Teufel! Sein Kommen war, da der Vater gestorben ist, zu erwarten; aber so bald!«

»Er hat nach Dir geschickt.«

»Auch das noch.«

»Du sollst die Bücher mitbringen und das Verzeichniß der Vorräthe. Er will abschließen.«

»Himmeldonnerwetter! Da geht es dem Vater noch im Grabe schlecht.«

»Er ist zu unvorsichtig gewesen. Er konnte und mußte es viel klüger anfangen. Jetzt geht es auch uns an den Kragen.«

»Uns? Uns kann kein Mensch Etwas thun.«

»Aber die Stelle.«

»Die wäre ja auf alle Fälle verloren. Oder glaubst Du etwa, daß der General mich als Verwalter angestellt hätte?«

»Nein. Aber jetzt sei nun aufrichtig! Haben wir Etwas vor uns gebracht?«

»Nein. Es ist Alles verbraucht worden.«

»Dummkopf!«

»Wer? Ich?«

»Nein, der Todte.«

»Ach so! Na, fort müssen wir auf alle Fälle. Jetzt werde ich mich dieser Nanon versichern. Ich denke, daß uns dann geholfen ist.«

»Die bekommst Du nicht!«

»Pah! Es giebt ein Mittel. Ich kenne einen Mann, der sie mir in die Hand geben wird.«

»Wer ist das?«

»Das ist nichts für Dich! Jetzt will ich zum General!«

Er begab sich, eine Menge Bücher tragend, nach dem Schlosse, von wo er erst nach längerer Zeit zurückkehrte. Sein Gesicht war finster.

»Wie ist es gegangen?« fragte seine Mutter.

»Schlecht.«

»So hat er es bereits berechnet?«

»Nein. Den Verlust wird er erst später finden. Aber er empfing mich bereits in einer Weise, aus welcher ich ersah, daß es auch ohne dieses Deficits für uns aus sein würde. Ich mache, daß ich fortkomme.«

»Um Gotteswillen! Und mich lässest Du da?«

»Nein. In einigen Tagen bin ich zurück, um Dich abzuholen.«

»Wohin gehst Du?«

»Nach Ortry.«

»Ah, zum Capitän? Der muß sich unserer annehmen.«

»Muß? Der ist unberechenbar!«

»Er hat dem Vater viel zu verdanken!«

»Glaubst Du, daß dieser Mann dankbar ist?«

»Er ist es eigentlich gewesen, der den Vater auf Abwege gebracht hat. Er darf uns nicht fallen lassen.«

»Moralisch zwingen läßt der Alte sich nicht. Aber ich habe Geheimnisse von ihm in der Hand, die er mir abkaufen muß. Er muß sie mir bezahlen, entweder baar oder mit – – Nanon; darauf kannst Du Dich verlassen!«

Am Nachmittage des Eisenbahnunglückes saß Doctor Müller im Garten von Ortry auf einer Bank, in tiefes Sinnen versunken, aus welchem er erst erwachte, als er Schritte vernahm, welche sich von der Seite her näherten. Er blickte auf und erkannte Deep-hill, den Amerikaner. Er erhob sich höflich und verbeugte sich, um ihn vorüber zu lassen; dieser aber blieb stehen.

»Wir sahen uns bereits heute?« fragte er, indem er den Hut zog.

»Ja, Monsieur.«

»Auf dem Unglücksplatze?«

»Ja. Ich hatte die Ehre, die Aufopferung zu bewundern, mit welcher Sie für die Verunglückten thätig waren. Ich heiße Müller und bin Erzieher des jungen Barons.«

»Meinen Namen kennen Sie?«

»Ja, Monsieur.«

»Erlauben Sie, für einige Augenblicke bei Ihnen Platz zu nehmen?«

Nichts konnte dem Erzieher lieber sein. Er verbeugte sich und antwortete:

»Sie haben zu befehlen!«

»O nein,« lächelte der Andere. »Die continentale Anschauung, daß der Erzieher gesellschaftlich unter Demjenigen steht, der ihn engagirt hat, ist uns Amerikanern nicht geläufig.«

»Amerika ist zu beneiden. Es ist ein Land, welches mit den schädlichsten und lächerlichsten Vorurtheilen aufgeräumt hat.«

»Und ein Vorurtheil ist das betreffende. Ein Mann, dem ich die Erziehung, also das Glück und die Zukunft meiner Kinder anvertraue, entweder weil ich keine Zeit zu dieser Erziehung habe, oder weil mir die Fähigkeiten dazu mangeln, dieser Mann kann doch unmöglich unter mir stehen.«

»Wollte Gott, auch Andere vermöchten sich zu dieser richtigen Anschauung zu erheben!«

»Dieser Seufzer ließ mich vermuthen, daß Sie in Ihrer Stellung hier sich nicht ganz glücklich fühlen?«

»Ich bin zufrieden,« antwortete Müller zurückhaltend.

»Was nennen Sie zufrieden? Zufrieden ist gar nichts; Zufriedenheit ist ein Mittelding, weder warm noch kalt, weder jung noch alt, weder arm noch reich!«

»Und doch trachten Millionen darnach, nur zufrieden sein zu können.«

»Sie werden es niemals sein, weil sie es niemals sein können, weil die Ansprüche des Menschen mit seinen Erfolgen wachsen.«

»Sie sprechen von Ehrgeizigen.«

»O nein!«

»Und von Ungenügsamen.«

»Sie scheinen genügsam!«

»Mein Lebensweg ist mir vorgeschrieben. Ich thue meine Pflicht und vertraue auf Gott.«

Der Amerikaner blickte ihm forschend in das Auge.

»Herr, ist das Ihr Ernst?« fragte er.

»Warum nicht?«

»So sind Sie – – ah, ja, Sie nannten sich Müller?«

»So ist mein Name.«

»So sind Sie ein Deutscher?«

»Ja.«

»Nur ein Deutscher kann so sprechen wie Sie. Nur ein Deutscher thut seine Pflicht und vertraut auf Gott. Was macht Gott aus Ihnen, wenn Sie sich nicht selbst rühren?«

»Ihr rühre mich ja, wenn ich meine Pflicht thue!«

»Sie rühren sich, aber Sie streben nicht. Sie sind Erzieher; Sie werden unter Umständen Erzieher bleiben, obgleich Sie vielleicht das Zeug haben, Professor zu werden.«

Müller lächelte leise vor sich hin und antwortete:

»Haben Sie keine Sorge um uns Deutsche. Wir streben auch.«

»Wornach aber? Nach Idealen?«

»Das Ideale macht oft glücklicher als das Materielle!«

»Und doch – – ja, nehmen Sie mir es nicht übel – – ich hasse diese idealen Deutschen!«

»Alle?«

»Alle! Sie haben mich um mein Ideal gebracht. Wohin werden Sie gelangen? Wohin trachten Sie? Wissen Sie es? Können Sie es mir sagen?«

»Von welchem Felde sprechen Sie?«

»Zunächst von der Politik.«

»Davon verstehe ich nichts.«

»Das dachte ich mir. Diese Herren Erzieher sind überall zu Hause, nur in der Politik nicht, während jeder Angehörige einer andern Nationalität es sich angelegen sein läßt, in dieser Beziehung etwas zu leisten.«

»Hm! Es ist auch darnach!«

Die Augen des Amerikaners blitzten.

»Herr, wollen Sie mich beleidigen?« fragte er.

Es war ein eigenthümlicher, übermächtiger Blick, welchen der Erzieher ihm zuwarf.

»Beleidigen?« fragte Müller. »Wie kommen Sie zu dieser eigenthümlichen Ansicht?«

»Weil Sie mir widersprechen.«

»Ist ein einfacher Widerspruch eine Beleidigung?«

»Es klang so!«

»Monsieur, Sie sind kein Amerikaner.«

»Was sonst?«

»Ein Franzose.«

»Ah!«

»Und zwar ein Südfranzose, wohl gar ein Korse.«

»Wie kommen Sie zu dieser Vermuthung?«

»In Folge Ihrer Gesichtszüge und Ihres hitzigen Temperamentes. Sie erklären es für eine Beleidigung, daß ich mir erlaube, eine andere Ansicht als die Ihrige zu hegen und hatten mich doch selbst bereits vorher auf das Empfindlichste, auf das Tiefste beleidigt.«

»Donner! Wieso?«

»Indem Sie mir, dem Deutschen, in das Gesicht sagten, daß Sie die Deutschen hassen, Alle, ohne Ausnahme.«

»Man darf die Wahrheit sagen.«

»Wenn sie nicht beleidigend ist, im anderen Falle verschweigt man sie und wäre es auch nur aus reiner Höflichkeit oder aus wohl angebrachter Vorsicht.«

»Vorsicht? Meinen Sie, daß eine Offenheit wie die meinige Schaden bringen könnte?«

»Gewiß!«

»Wer will mir schaden?«

»Jeder Mann, den Sie sich zum Feinde machen, kann Ihnen schaden. Ein einziger, kleiner Feind kann Ihnen mehr schaden, als alle Ihre bedeutenden und einflußreichen Freunde Ihnen Nutzen bringen können.«

»Ah! Ist das nicht ein deutsches Spruchwort?«

»Jawohl.«

Um die Lippen des Amerikaners spielte ein eigenthümliches, stolzes, selbstbewußtes Lächeln. Er musterte Müller einige Augenblicke lang und sagte dann:

»Gut! Ziehen wir einen Vergleich! Ich bin reich.«

»Ich glaube es.«

»Unabhängig.«

»Höchst wahrscheinlich.«

»Einflußreich.«

»Ich gebe es zu.«

»Und Sie?«

»Hm! Ich bin das gerade Gegentheil: Arm, gebunden und ohne allen Einfluß.«

»Ich glaube Ihnen, wie Sie mir geglaubt haben. Also, ich setze den Fall, daß ich Sie beleidige. Wie wollen Sie mir schaden?«

Müller zuckte die Achsel.

»Gar nicht, weil ich nicht rachsüchtig bin. Ich weiß meine Ehre zu vertheidigen, im Uebrigen aber bin ich Mensch und Christ.«

»Dann sind Sie ein seltenes Exemplar des Genus Homo. Aber so war es ja gar nicht gemeint. Setzen wir vielmehr den Fall, daß Sie rachsüchtig wären. In welcher Weise wollten Sie mir schaden?«

Da hoben sich Müllers Lider langsam empor; seine Augen ruhten eine ganze Weile still, fest und ernst in denen seines Nachbars; dann zuckte er kurz die Achsel und antwortete:

»Ich würde mich dadurch rächen, daß ich mich ganz und gar nicht mit Ihnen beschäftige.«

Diese Worte wurden in einem Tone gesprochen, aus welchem eine gewisse Bedeutung klang, welche der Amerikaner nicht zu überhören vermochte. Er fragte:

»Ich verstehe Sie nicht. Wie meinen Sie das? Sie würden mich verachten?«

»Nein.«

»Nun denn, ich würde für Sie gar nicht existiren?«

»So meine ich es.«

»Und dadurch würden Sie mir schaden?«

»Ja.«

»Das ist mir ein Räthsel.«

»Und doch ist es so deutlich und verständlich. Wenn ich Ihnen schade, indem ich Sie nicht beachte, bringe ich Ihnen – – –«

»Jetzt verstehe ich,« fiel der Amerikaner rasch ein. »Sie meinen, daß es ein Vortheil für mich sein würde, daß Sie sich mit mir beschäftigen?«

»Ja.«

Man sah es Deep-hill an, daß er sich von dem Verhalten und den Worten Müllers frappirt fühlte.

»Sprechen Sie noch im Beispiele, oder bewegen Sie sich bereits in der Wirklichkeit?« fragte er.

»Dies zu beurtheilen muß ich Ihnen überlassen.«

»Gut! Das ist genug! Sie haben Etwas. Sie haben ein Geheimniß. Sie können mir nützen, indem Sie es mir mittheilen und schaden, wenn Sie es verschweigen.«

Müller zuckte die Achsel und antwortete:

»Man merkt allerdings, daß Sie eine Art Diplomat sind. Diese Herren sehen hinter jedem Worte ein Geheimniß.«

»Hier aber handelt es sich in Wahrheit um ein solches.«

»Vielleicht sind Sie selbst dieses Geheimniß,« antwortete Müller.

»Oder Sie?«

Er fixirte den Erzieher abermals und fuhr dann fort:

»Mir ist, als ob ich Sie bereits gesehen hätte.«

»Ich war nie in Amerika.«

»Da nicht.«

»Auch nie in Südfrankreich.«

»Ich meine nicht, daß ich Sie, Ihre wirkliche Person gesehen habe, sondern ich finde in Ihren Zügen Etwas, so etwas, wie nenne ich es nur? So etwas Bekanntes, Anheimelndes.«

»Anheimelnd? Der Deutsche, den Sie hassen!«

»Dennoch! Ich möchte allerdings in diesem Augenblicke sagen, daß ich doch nicht alle Deutschen hasse! Sie haben gewisse Züge, die mir entweder bereits lieb sind oder lieb werden könnten, ich weiß nur nicht – ah, da fällt es mir ein.«

Er faßte Müller beim Arme und drehte ihn so, daß er sein Profil vor sich hatte.

»Ja,« sagte er; »so ist es! Es ist kein Irrthum. Es sind dieselben Grundzüge, nur schärfer, ausgeprägter, mit einem Worte, männlicher! Waren Sie in England?«

»Nein.«

»Haben Sie Verwandte dort?«

»Auch nicht.«

Müller ahnte, was kommen werde. Er war zu scharfsinnig, um es nicht sofort zu vermuthen, behielt aber seine ganz und gar unbefangene Miene bei und fragte:

»Es giebt wohl irgend eine zufällige Aehnlichkeit?«

»Ja.«

»Darf ich fragen, mit wem?«

»Mit einer Dame.«

»Ihrer Bekanntschaft?«

»Eigentlich nicht, obgleich ich sie gesehen und gesprochen habe.«

»Fast möchte ich neugierig werden.«

»Auch Sie haben sie gesehen. Erinnern Sie sich Miß de Lissa's, jener Engländerin, welche heute die Verwundeten mit verband?«

»Ja. Sie war meist in Gesellschaft unserer gnädigen Baronesse Marion?«

»Ja, ich bin mit ihr von Trier aus gefahren und hatte das Glück, sie zu retten. Mit dieser Dame haben Sie eine Aehnlichkeit. Jetzt weiß ich es ganz genau.«

»So ist es eben nur ein Zufall, wie so oft.«

»Gewiß. Diese Dame hat einen eigenthümlichen, ich möchte sogar sagen, einen tiefen Eindruck auf mich gemacht, und jedenfalls trägt diese Aehnlichkeit die Schuld, daß ich in Ihnen nicht den Deutschen vor mir habe.«

»So bin ich dieser Dame zum großen Dank verpflichtet.«

»Das soll heißen, daß Sie auch gegen mich keine Idiosynkrasie empfinden?«

»Ja, das wollte ich sagen.«

»Gut, mein Lieber! Lassen Sie uns, wenn auch nicht Freunde, aber doch auch keine Feinde sein.«

»Gern, gern. Und wunderbar! Was mich zu Ihnen zieht, scheint auch eine Aehnlichkeit zu sein.«

»Ah! Das wäre allerdings ungewöhnlich.«

»Es ist wirklich so. Ich kenne eine Dame – –«

»Eine Dame?« fiel der Amerikaner lachend ein. »Bin auch ich einer Dame ähnlich?«

»Ja.«

»Für welche Sie Sympathie hegen?«

»Gewiß.«

»Das ist lustig, Monsieur Müller. Wer ist diese Dame?«

»Die Gesellschafterin der Baronesse.«

»Sie wohnt also hier auf Ortry?«

»Ja, ist aber gegenwärtig verreist.«

»So bin ich neugierig, sie zu sehen. Wann kehrt sie zurück?«

»Vielleicht übermorgen. Sie ging, ihren Vater zu begraben.«

»Wie heißt sie?«

»Nanon Charbonnier.«

»Nanon! Welch ein Name. Ich hatte einst – – ah, das gehört ja nicht hierher. Also ihr sehe ich ähnlich?«

»Ja.«

»Das ist ebenfalls Zufall.«

»Ich bezweifle es nicht. Aber die Dame, welcher ich ähnlich sehe, muß ich mir doch einmal genauer betrachten. Kennen Sie ihren vollständigen Namen?«

»Miß Harriet de Lissa aus London.«

»Wo wohnt sie?«

»Bei einem Doctor Bertrand in Thionville.«

»Hm! Man müßte einmal Patient sein.«

»Das ist nicht nöthig. Ich bin überzeugt, daß Sie diese Dame hier auf Ortry sehen werden.«

»Wirklich?«

»Ja. Baronesse Marion scheint Freundschaft mit ihr geschlossen zu haben und sprach davon, sie einzuladen. Es war das heute beim Nachtische, als Sie sich bereits von der Tafel entfernt hatten.«

»Diese Einladung ist nicht so leicht. Sie hängt von dem Willen des Capitäns ab, welcher hier ein sehr strenges Regiment zu führen gewohnt ist.«

»Pah! Gastfreundschaft wird doch gepflegt?«

»Auf Ortry nicht. Der Capitän ist nicht gesellig.«

»Das habe ich bemerkt. Ich bin an ihn adressirt; ich wurde nach Ortry eingeladen; der Capitän hat mich an der Bahn gesehen und mir die Weisung gegeben, auf das Schloß zu kommen, und dennoch habe ich ihn hier noch nicht gesehen.«

»Daß er sein Zimmer noch nicht verlassen hat, weiß ich; aber ich dachte, er hätte Sie zu sich rufen lassen.«

»Das ist nicht geschehen.«

Müller nickte leise vor sich hin.

»Diese Vernachlässigung scheint unbegreiflich; er ist aber ein vollständig unberechenbarer Character.«

»Seine Zurückgezogenheit muß mir um so mehr auffallen, als er begründete Ursache hat, sich darüber zu freuen, daß nicht auch ich zu den Opfern der heutigen Katastrophe gehöre. Meine Rettung bringt ihm Gewinn.«

Um Müllers Lippen flog ein fast unbemerkbares Zucken, doch ging er auf dieses Thema gar nicht ein, sondern sagte:

»Wie ich hörte, haben Sie Ihre Rettung einem Bürger aus Thionville zu verdanken?«

»Ich zweifle, daß er da Bürger ist. Ich saß mit ihm in einem Coupee. Er unterließ es, sich genau vorzustellen. Er sagte, daß er Pflanzensammler sei.«

»Ah! Bei Doctor Bertrand?«

»Ja, wo die Engländerin wohnt. Kennen Sie vielleicht diesen Kräutermann?«

»Ich bin ihm im Walde begegnet.«

»Er scheint mehr zu sein, als Das, wofür er sich ausgiebt.«

»Hm! Möglich.«

Der Amerikaner fixirte Müllern abermals. Er sagte:

»Sie sprechen diese Worte mit einer so eigenthümlichen Betonung aus! Steckt vielleicht irgend ein verborgener Sinn hinter ihnen?«

»Ja.«

»Welcher?«

»Das zu erklären, bitte ich, mir zu erlassen.«

»Wetter noch einmal! Sie spielen den Geheimnißvollen?«

»Gerade so wie Sie!«

»Monsieur! Ich begreife Sie wieder nicht!«

»Aber ich Sie. Sie werden diesen Pflanzensammler für seine That belohnen?«

»Ganz gewiß werde ich das!«

»Sie werden ihn also aufsuchen?«

»Ja.«

»Oder ihn nach Ortry kommen lassen?«

»Jedenfalls. Ich muß doch unsern Retter dem Capitän vorstellen. Er hat ja auch die Schwester dieser Gesellschafterin gerettet.«

»Und doch werden Sie das nicht thun.«

»Nicht? Ihn nicht kommen lassen?«

»Nein.«

»Nicht aufsuchen?«

»Nein.«

»Und auch nicht belohnen?«

»Auch nicht. Er würde nichts von Ihnen annehmen.«

»Sie kennen ihn also genauer, als Sie vorhin ahnen ließen?«

»Ja.«

»Monsieur Müller, so habe ich mich in Ihnen getäuscht. Sie sind nicht wirklich ein Deutscher!«

»Warum nicht?«

»Weil Sie ein Freund dieses sogenannten Pflanzensammlers sind. Habe ich Recht?«

»Ich bin allerdings sein Freund. Ich nenne ihn sogar Du, wenn wir uns unter vier Augen befinden.«

»Nun gut, so sind Sie auch kein Deutscher. Der Capitän wird niemals einen Deutschen anstellen, und ein Deutscher wird, wenn er Ehre besitzt, nicht gegen sein Vaterland conspiriren.«

»Ah, ich conspirire gegen Deutschland?«

»Ja. Der Pflanzensammler ist ein Eingeweihter, und Sie als sein Freund können nicht weniger sein.«

»Ja, er ist eingeweiht, und ich bin noch unterrichteter als er, sogar unterrichteter als der Capitän.«

Der Amerikaner machte doch ein sehr verwundertes Gesicht. Das hatte er nicht erwartet.

»Noch mehr als der Capitän?« fragte er.

»Ja, sogar noch unterrichteter als Graf Rallion.«

»Donnerwetter! Sie wissen Alles?«

»Alles. Zunächst erwarte ich, daß Sie ein Ehrenmann sind!«

»Zweifeln Sie etwa daran?« brauste der Andere auf.

»Nein. Es liegt in Ihrem Interesse, daß Sie mir Vertrauen schenken. Ich habe eine Bitte, versichere Ihnen aber, daß ich nichts verlangen werde, was gegen Ihre Ehre oder auch nur gegen Ihren Vortheil sein würde.«

»Was wünschen Sie?«

»Ihr Ehrenwort, über Alles, was wir jetzt gesprochen haben und noch sprechen werden, zu schweigen.«

Der Amerikaner blickte nachdenklich auf die Hand, welche Müller ihm entgegenstreckte, sagte dann aber doch:

»Sie sind eingeweiht; Sie machen auf mich einen guten Eindruck, den Eindruck, daß ich Ihnen vertrauen kann; gut, hier meine Hand! Ich werde schweigen, so lange Sie es wünschen.«

Sie schlugen ein. Dann sagte Müller:

»Ich bin nicht Der, welcher ich scheine – –«

»Das habe ich mir bald gesagt,« fiel Deep-hill ein.

»Ich halte Fäden in der Hand, von denen Rallion und Richemonte keine Ahnung haben. Sie selbst, Monsieur, wissen noch weniger als diese Beiden.«

»Das ist richtig. Ich hoffe aber, Genügendes zu erfahren.«

»Das werden Sie. Sie sind gekommen, um Frankreich mit Geld zu unterstützen?«

»Frankreich eigentlich nicht, sondern die Arrangeurs des Freischaarenwesens.«

»Als solche sind Ihnen nur Rallion und Richemonte bekannt, wenn ich mich nicht irre?«

»Allerdings.«

»Man wußte, mit welchem Zuge Sie kamen?«

»Ganz genau.«

»Und daß Sie das Geld bei sich hatten?«

»Auch das.«

»Man wollte sich in den Besitz dieser Summen setzen, ohne sich Ihnen zu verpflichten – –«

»Mich berauben? Meinen Sie?«

»Ja.«

»Und tödten?«

»Ja.«

»Durch die Entgleisung der Eisenbahn?«

»Ja.«

»Ich glaube es, denn das ist nunmehr nachgewiesen. Nur Eins ist mir da unbegreiflich!«

»Sie werden es wohl bald begreifen.«

»Ich meine nämlich, daß die Mörder diese Umstände so genau wissen konnten!«

»Darüber bin ich mir sehr im Klaren.«

»Aber Rallion und Richemonte waren ja ganz allein im Geheimnisse!«

»Das eben beweist, wer die Mörder sind!«

Der Amerikaner öffnete die Augen weit und blickte Müller erschrocken an.

»Alle tausend Teufel!« sagte er. »Sie meinen doch nicht etwa gar, daß – –«

»Nun was? Aber sprechen Sie leise!«

»Daß Rallion – –?« fuhr der Amerikaner fort.

Müller nickte blos.

»Und der Capitän?«

»Jawohl.«

»Die Mörder gedungen haben?«

»Gerade das und nichts Anderes meine ich!«

»Das wäre ja fürchterlich!«

»O, diese Beiden haben noch ganz Anderes vollbracht! Hören Sie, was ich Ihnen sagen werde! Der Capitän hat sich heute vor Ihnen noch nicht sehen lassen, um nicht gezwungen zu sein, mit Ihnen über den Fall zu sprechen.«

»Er ließ sich mit Unwohlsein entschuldigen.«

»Welches Zimmer bewohnen Sie?«

»Da oben die drei Fenster.«

Er deutete empor. Es war dieselbe Wohnung, in welcher der Fabrikdirector ermordet worden war. Müller nickte, er hatte bereits seine Beobachtungen gemacht.

»Gut,« sagte er. »Denken Sie einmal, daß ich allwissend bin. Der Capitän hat heute ein Gift präparirt – –«

»Donnerwetter! Doch nicht etwa für mich?«

»Für Sie.«

»Ich danke sehr!«

»Keine Sorge! Sie sollen nicht sterben, wenigstens jetzt noch nicht, sondern nur fest schlafen.«

»Wozu?«

»Jedenfalls will er Ihre Brieftasche untersuchen, in welcher Weise Ihre Werthpapiere Werth auch für ihn haben.«

»Ohne meine Unterschrift gar keinen!«

»Weiß er das?«

»Ich denke.«

»Trotzdem wird er kommen. Ich habe ihn beobachtet. Er hat den Eintritt bei Ihnen ganz genau untersucht und dann sich von dem Gifte in eine Phiole gegossen; also handelt es sich um Sie.«

»Ich schieße ihn nieder!«

»Das werden Sie nicht thun, denn gegenwärtig befindet sich in dieser Phiole und auch in der Flasche, aus welcher sie gefüllt wurde, nur Wasser. Ich habe heimlich Zutritt bei ihm genommen und die Umtauschung bewerkstelligt. Nun steht zu erwarten, daß er Ihnen den Inhalt der Phiole heimlich beibringt.«

»Den Teufel werde ich trinken!«

»Nein, gerade Alles werden Sie trinken, was man Ihnen vorsetzt. Der Alte wird dann überzeugt sein, daß das Gift bei Ihnen wirkt, und in Ihr Zimmer kommen, um Ihre Brieftasche zu untersuchen.«

»Woher wissen Sie das Alles?«

»Ich weiß es nicht, sondern ich vermuthe es; ich combinire es mir. Es ist aber eben so gewiß, als ob ich es genau weiß.«

»Ich bewundre Sie! Was aber soll ich thun? Was Sie mir da rathen, ist zu gefährlich.«

»Nein. Ich garantire Ihnen mit meinem Ehrenworte, daß Sie keinen Schaden leiden werden!«

»Ihr Ehrenwort? Hm! Ja! Ich kenne Sie nicht. Sie sind der Hauslehrer Müller. Kann man einem solchen Manne so mir nichts dir nichts das Leben und Vermögen anvertrauen?«

Da kam dem Erzieher ein Gedanke. Er ließ ein überlegenes Lächeln sehen und sagte:

»Gut, Sie sollen mich kennen lernen und Vertrauen zu mir haben. Ich mußte Ihnen die Wahrheit verschweigen, weil ich Ihrer noch nicht sicher war. Ich bin in England gewesen.«

Der Amerikaner horchte auf.

»Wirklich?«

»Ja. Ich bin sogar ein Engländer.«

»Alle Wetter! Und diese Aehnlichkeit – –!«

»Ich heiße de Lissa.«

»Welche Ueberraschung! Jene Dame ist Ihre Verwandte?«

»Ja, meine Schwester. Jetzt bin ich aufrichtig mit Ihnen gewesen. Werden Sie sich mir nun anvertrauen?«

Da streckte ihm der Amerikaner die Hand entgegen und sagte:

»Hier meine Hand! Ich bin der Ihrige ganz und gar, so weit Sie nur über mich verfügen wollen!«

»Gut! Sagen muß ich Ihnen, daß der Capitän Sie heimlich beobachten wird. Er vermag Ihr ganzes Zimmer zu überblicken.«

»Wieso?«

»Das kann ich Ihnen nicht beschreiben, werde es Ihnen aber baldigst zeigen. Was Sie nur immer in Ihrem Zimmer thun, das thun Sie ganz in der Voraussetzung, daß der Alte Sie beobachtet. Sie werden also genießen, was man Ihnen bietet?«

»Ja, da Sie es wollen!«

»Sie beschäftigen sich vor dem Schlafengehen mit Ihren Werthpapieren, damit der heimliche Beobachter sieht, wo Sie dieselben hinlegen.«

»Sie sind schlau!«

»Dann stellen Sie sich tief schlafend und bewegen sich auch nicht, so lange er sich in Ihrem Zimmer befindet. Das Licht verlöschen Sie natürlich, sobald Sie sich zur Ruhe legen.«

»Aber wenn er mir an das Leben will?«

»Das thut er nicht; bevor Sie die Papiere nicht mit Ihrer Unterschrift versehen haben, wird er Sie schonen. Uebrigens können Sie, wenn Sie das Licht verlöscht haben, wieder aufstehen, um sich eine Waffe, ein Messer mit in das Bett zu nehmen. Später komme ich, um mich zu überzeugen, ob meine Vermuthungen in Erfüllung gegangen sind.«

»So soll ich meine Zimmerthür nicht verschließen?«

»Verschließen Sie dieselbe fest; ich komme trotzdem zu Ihnen, ebenso wie der Alte.«

»So giebt es einen geheimen Eingang in mein Zimmer?«

»Ja.«

»Nun, Monsieur, ich danke für so ein gastfreundliches Haus, in welchem man seines Lebens keinen Augenblick sicher sein kann!«

»Ich wache über Sie. Jetzt sind wir fertig und können uns trennen. Adieu, Monsieur!«

Er erhob sich von der Bank. Der Amerikaner that dasselbe, faßte ihn aber bei der Hand und hielt ihn zurück.

»Halt, Mylord,« sagte er, »ich will – – –«

»Pst!« fiel Müller ein. »Nicht dieses englische Wort, selbst nicht, wenn Sie denken, mit mir unter vier Augen zu sein. In diesem Hause hat Alles Ohren.«

»Gut, Monsieur Müller. Noch Eins, ehe wir uns trennen. Ich bin reich – –«

Müller nickte nur. Er ahnte, was nun kommen werde.

»Und unabhängig, eigentlich auch von altem, gutem, makellosem Adel. Ich habe Ihre Schwester gesehen. Wollen Sie als Ehrenmann mir eine Frage beantworten?«

»Gern.«

»Ist das Herz dieser Dame noch frei?«

»Ich glaube es. Ich bin überzeugt, daß sie mir, falls das Gegentheil stattfände, sofort ihr Vertrauen geschenkt hätte.«

»Haben Sie oder hat Ihre Familie vielleicht irgend welche Berechnungen auf die Hand dieser Dame gegründet?«

»Nein. Sie hat das Recht, ihr Herz wählen zu lassen.«

»Würden Sie mir erlauben, mich ihr zu nähern?«

»Ja, wenn Sie wirklich der Ehrenmann sind, für den ich Sie halte.«

»Zweifeln Sie ja nicht daran! Sie haben recht gerathen. Ich bin Franzose; ich stamme aus dem schönen Süden Frankreichs. Traurige Verhältnisse, an denen ich nicht schuld war und welche nicht den geringsten Makel auf meine Ehre werfen, trieben mich in die Ferne. Ich kann an jedem Augenblicke meinen wahren Namen wieder tragen. Sollte es mir gelingen, das Herz dieser Dame zu erringen, so dürfen Sie versichert sein, in mir einen ehrenwerthen Freund und Verwandten zu finden!«

Müller zeigte sich keineswegs begeistert; er antwortete kalt aber freundlich:

»Versuchen Sie Ihr Heil! Vielleicht sind Sie glücklicher als Andre. Meine Schwester ist ein ernster Charakter. Sie ist nicht leicht zu erringen.«

»Desto größeren Werth hat dann der Sieg. Und, Monsieur, ich darf doch erwarten, daß sie kein Wort von unserer Unterhaltung ahnen wird?«

»Gewiß. Unser gegenseitiges Ehrenwort legt uns ja das tiefste Schweigen auf. Adieu! Auf Wiedersehen heute in der Nacht!«

Er ging. Der Amerikaner blickte ihm nach und murmelte:

»Wer hätte das gedacht! Dieser Mann ist ein ganzer Mann, ein Diplomat wie selten einer. Ich bin überzeugt, daß ich ihn auch jetzt noch nicht zum kleinsten Theile durchschaue. Eine wahre Hühnengestalt! Wie schade um diese häßliche Verkrümmung! Eigenthümlich, daß gerade Buckelige meist so einen scharfen Geist besitzen! Ich werde ihm vertrauen, seinetwegen und seiner Schwester wegen!«

*


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