Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fortsetzung 83

Der heutige Eisenbahnunfall hatte die Bevölkerung der ganzen Umgegend in Aufruhr gebracht und auch die Tagesordnung auf Schloß Ortry gestört. Es gab keinen Unterricht. Alexander hatte sich mit einem Reitknechte nach der Unglücksstelle begeben; so war Müller also frei.

Er that, als ob er nach dem Park spaziere, bog aber bald seitwärts ein, um auf schmalen Feldwegen die Stadt zu erreichen. Dort angekommen, begab er sich zu Doctor Bertrand, welcher ihm entgegenkam.

»Ah, Herr Doctor Müller!« sagte er. »Beabsichtigen Sie vielleicht eine Audienz bei Miß de Lissa nachzusuchen?«

»Ja. Ist sie zu sprechen?«

»Sie ist ganz allein in ihrem Zimmer. Soll ich Sie anmelden, oder – –«

»Bitte, anmelden!«

Der Arzt öffnete die Thür und sagte hinein:

»Herr Doctor Müller aus Ortry. Ist es erlaubt?«

»Ja. Herein!«

Als Müller eintrat, hatte Emma sich von ihrem Sitze erhoben. Sie wartete, bis er die Thüre zugemacht hatte, dann eilte sie auf ihn zu und fiel ihm um den Hals.

»Richard, lieber Richard!« sagte sie, ihn herzlich küssend.

»Endlich! Da draußen an der Bahn durfte ich ja gar nicht merken lassen, daß ich Dich kenne!«

»Meine liebe, gute Emma! Wer hätte gedacht, daß ich Dich hier sehen würde!«

»Kannst Du mir verzeihen?«

»Nun, einen ziemlichen Strich durch die Rechnung macht mir Dein Kommen!«

»Schadet es sehr?«

»Vielleicht nicht; aber wenn man Dich erkennt!«

»Wer sollte mich erkennen?«

»Der alte Capitän!«

»O, der soll mich gar nicht sehr zu sehen bekommen!«

»Und dann unsere große Aehnlichkeit!«

»Aehnlichkeit? O weh! Bin ich Dir auch jetzt noch ähnlich? Ich danke! Dieses Haar!«

»Falsche Perrücke!«

»Der prachtvolle Bart fort!«

»Er mußte weichen.«

»Dieser Zigeunerteint!«

»Abgekochte Wallnußschaale! Sogar hier an den Händen!«

»Und dann dieser – dieser – schauderhaftes Wort! Dieser fürchterliche Buckel!«

»Wurde für nothwendig gehalten!«

»Aber ich schäme mich in Deine Seele hinein!«

»Pah! Die Metamorphose wird nicht auf sich warten lassen!«

»Hoffentlich! Also setze Dich und beichte! Wie steht es mit dem Kriege?«

»Er ist vor der Thür.«

»Und aber mit dem Siege?«

»Den erhalten wir!«

»Gott sei Dank! Nun will ich herzlich beten, daß Du nicht verwundet wirst! Der Maler ist bei Großpapa.«

»Ah, doch!«

»Großpapa wird ihn an der Nase führen. Schreibe nur gleich mehrere Berichte, die wir ihm in die Hände spielen.«

»Das soll heute Nacht geschehen. Aber nun ausführlich! Wie kommst Du auf den Gedanken, mich zu überraschen?«

»Aufrichtig gestanden, zunächst aus weiblicher Neugierde.«

»Wegen Marion?«

»Ja.«

»Nun, wie gefällt sie Dir?«

Da wurde Emma ganz begeistert.

»Ein wunderbar schönes, ganz und gar eigenartig schönes Mädchen!« sagte sie.

»Orientalisch, nicht?«

»Ja, aber keineswegs jüdisch!«

»O nein!«

»Und dieser Geist, dieses Gemüth! Richard, ich bin in sie verliebt, ganz und gar verliebt, mehr als Du selbst!«

»Das macht mich glücklich! Denkst Du, daß Großpapa ihr gut sein kann?«

»Sofort, obgleich er ganz dagegen ist, daß Du eine Französin heimführst.«

»Es scheint also, Du hast ihm mein Geheimniß verrathen?«

»Es ging nicht anders!«

»Plaudertasche! Und Du? Aufrichtig! Möchtest Du nicht auch so glücklich sein, wie ich?«

»Wie gern! Aber ich bin nun einmal ein großes, dummes Kind; ich warte auf irgend einen Prinzen. Der, den ich liebe, darf kein gewöhnliches Menschenkind sein.«

»Was sonst? Ein Engel? Ein Halbgott?«

»Nein, nein; das nicht. Ich kann nicht das rechte Wort finden, es zu beschreiben. Ich habe eine ganze Fülle von Liebesbedürfniß in mir; ich befürchte, daß meine Zärtlichkeiten nicht meinen Mann erdrücken möchten. Daher passe ich wohl für Einen, der vorher viel gelitten hat.«

»Ein armer Ritter!«

»Aber nicht von der traurigen Gestalt! Schön muß er auf alle Fälle sein!«

»Reich auch!«

»Nein!«

»Vornehm!«

»Nein, aber edel und gut. Wenn ich so nachdenke, so meine ich, daß er dunkel sein müßte.«

»O weh!«

»Lockenköpfig! Südliches Profil!«

»O noch weher!«

»Wieso?«

»Ich habe keine Sympathie für Südländer. Sie sind wie Strohfeuer. Ein nördlicher Jüngling mit semmelblondem Scheitel und Lieutenantspatent, das wäre mein Ideal, wenn ich eine junge Dame wäre.«

»Dann könntest Du jeden guten Pommer heirathen. Die passen alle in diesen Rahmen. Hast Du heute den Amerikaner gesehen, welcher mit beim Zuge war?«

»Wegen dem das Unglück überhaupt passirt ist?«

»Ja.«

»Natürlich sah ich ihn. Was ist mit ihm?«

»Das war ein schöner Mann!«

»Pah! Ein Sclavenbaron!«

»Das glaube ich nicht.«

»Nun, dann ein Oelprinz oder Baumwollengraf. Oder er pflanzt Mais und Tabak.«

Sie wendete sich ab und meinte schmollend:

»Weißt Du, daß ich ihm das Leben zu verdanken habe?«

»Allerdings, Du wirst Dich bedanken müssen.«

»Er ist auf Ortry?«

»Ja.«

»Wenn er wissen dürfte, daß Du mein Bruder bist, so – –«

»Er weiß es bereits,« fiel Müller ein.

Rasch drehte sie sich ihm wieder zu.

»Wirklich? Ist das nicht außerordentlich gewagt? Es darf doch hier kein Mensch hören, daß wir Königsau heißen.«

»Das weiß er auch nicht. Ich lebe incognito als Doctor Müller auf Ortry, heiße aber eigentlich de Lissa und bin ein Engländer.«

»Ah! Wie bist Du auf diese Idee gekommen?«

»Auf eigenthümliche Weise. Du hast gehört, daß er eine Menge Goldes mitgebracht hat?«

»Ja.«

»Auch zu welchem Zweck?«

»Auch das.«

»Nun, er sollte doch getödtet werden.

»Ist das wirklich wahr!«

»Ja. Ich und Fritz, wir haben gestern die Kerls belauscht. Die That ist nicht gelungen. Nun will ihm der alte Capitän an's Leben.«

»Um Gottes willen! Kannst Du ihn nicht warnen, ihn retten?« fragte sie voller Angst.

»Ich habe ihn bereits gewarnt und hoffe, in ihm einen Verbündeten zu gewinnen. Dann entgeht den Franzosen seine Hilfe. Natürlich aber hält er mich für einen Freund Frankreichs, wenn auch für einen Feind des Capitäns.«

»Es wird ihm doch nichts geschehen?«

»Nein. Ich wache über ihn!«

»Thue das! Du weißt, ich schulde ihm mein Leben,« sagte sie, indem sie in sichtlicher Angst seine Hand erfaßte. »Wird er Deiner Warnung Gehör schenken?«

»Gewiß. Er hat es mir versprochen. Es ist möglich, daß Du ihm begegnest. Sei dann vorsichtig. Laß' Dich nicht über die Verhältnisse der Familie de Lissa ausfragen. Wir könnten uns widersprechen.«

»Ich glaube, Marion wird mich einladen.«

»O weh!«

»Hast Du wirklich solche Sorge vor dem alten Capitän?«

»Der Mensch ist wirklich gefährlich scharfsinnig.«

»Ich werde mich in Acht nehmen. Ich möchte ihn doch zu gern einmal sehen.«

»Emma, Du spielst mit dem Feuer!«

»Also soll ich absagen, wenn Marion mich bittet?«

»Na, versuche es! Wir wollen es wagen! Aber nun die weiteren Gründe Deiner Reise?«

»Schneeberg.«

»Das hättet Ihr mir überlassen können.«

»Du weißt Alles?«

»Ja.«

»Hältst Du ihn für einen der verlorenen Knaben?«

»Der Löwenzahn ist echt.«

»Das ist die Hauptsache.«

»O nein. Dazu gehört der Beweis, daß der Zahn niemals in unrechte Hände gekommen ist. Dieser Beweis muß erst noch erbracht werden.«

»Wer aber soll ihn führen?«

»Ich!«

»Du? In wiefern? Besitzest Du die Unterlagen?«

»Noch nicht; ich werde sie aber besitzen. Ich muß nur erst den Aufenthalt dieses Bajazzo ausfindig machen.«

»Das soll Dir schwer fallen!«

»Leider! Dann aber habe ich, wenn ich mich nicht irre, noch eine weitere zweite Spur, über welche Du Dich nicht nur wundern, sondern geradezu erstaunen wirst.«

»Du machst mich neugierig!«

»Haller!«

»Der Maler?«

»Ja.«

»Mein Gott, wieso? Er hat allerdings eine ganz ungemeine Aehnlichkeit mit Fritz Schneeberg!«

»Das fiel mir auch sofort auf, als ich ihn hier in Ortry zum ersten Male erblickte. Er heißt eigentlich Bernard Lemarch und ist Chef d'Escadron, also Rittmeister. Sein Vater ist ein Graf Lemarch in Paris.«

»So kann er doch kein Findelkind sein!«

»Warum nicht? Bei solchen Aehnlichkeiten glaube ich an keinen Zufall; ich glaube vielmehr, daß diese Beiden Brüder sind. Ich habe auch bereits meine Maßregeln getroffen und an die Gesandtschaft nach Paris geschrieben. Ich werde bald erfahren, ob dieser alias Haller ein echter Sohn des Grafen Lemarch ist. Sollte dies nicht der Fall sein, so haben wir bereits sehr viel gewonnen.«

»Möchten wir nicht Onkel Goldberg doch eine Mittheilung machen? Vielleicht wäre es besser.«

»O nein. Regen wir ihn jetzt nicht auf. Wir müssen unbedingt schweigen, bis wir uns auf breiterer Fährte befinden. Und das soll hoffentlich der Fall sein.«

Damit waren die Hauptsachen besprochen. Sie unterhielten sich noch einige Zeit von Anderem, gaben einander Auskunft, besprachen Verschiedenes, und dann entfernte sich Müller, um nach Ortry zurückzukehren.

Er ging jetzt nicht den Feldweg, sondern die Straße. Da lag an derselben eine Schänke, deren Wirth zugleich das Recht der Ausspannung besaß. Kurz bevor er dieselbe erreichte, lag ein junger Mann jenseits des Straßengrabens im Grase. Er war beinahe elegant gekleidet und hatte zum Schutze gegen die schrägfallenden Strahlen der untergehenden Sonne den Hut auf das Gesicht gelegt. So war es unmöglich, das Letztere zu erkennen, während hingegen er unter dem Hute hervor Alles genau sehen konnte.

Müller hatte nur einen kurzen Blick auf ihn geworfen und wollte vorüber; da aber machte der im Grase Liegende eine Bewegung, doch ohne den Hut ganz vom Gesichte hinweg zu nehmen.

»Alle Teufel! Sehe ich recht?« rief er aus.

Müller blieb stehen. Es befand sich kein Mensch in der Nähe, folglich mußten diese Worte ihm gelten.

»Meinen Sie mich?« fragte er.

Der Fremde hatte französisch gesprochen; jetzt antwortete er in deutscher Sprache:

»Natürlich! Wen denn sonst!«

Müller erschrak. Sollte er von irgend einem beliebigen Menschen erkannt worden sein? Fatal! Er behielt also die französische Sprache bei:

»Wer sind Sie denn?«

»Kennt mich der Mensch nicht!«

»Nehmen Sie den Hut vom Gesichte weg!«

»Komm her, und nimm ihn selber weg! Es ist nur der Ueberraschung wegen.«

»Hole Sie der Teufel! Ich weiß nicht, was Sie wollen!«

Er wollte weiter gehen, da aber rief der Andere, doch ohne den Hut noch zu entfernen:

»Richard, alter Junge! Das wirst Du doch gerade mir nicht anthun! Komm her! Mach mir den Spaß, und nimm den verteufelten Hut weg, damit sich meine Seele an Deinem Gesichte weiden kann!«

Er zögerte. Ein Bekannter mußte es sein; darüber gab es gar keinen Zweifel. Er sprang also über den Straßengraben, bückte sich über den noch immer in dem Grase Liegenden und schob den Hut zur Seite. Sein Erstaunen war allerdings ebenso groß wie freudig.

»Hohenthal! Arthur! Wer hätte das vermuthet!«

»Ich dachte auch nicht, Dich gleich hier zu treffen,« antwortete der angebliche Weinhändler, indem er endlich aufsprang.

»Du hier im Grase! So unverhofft!«

»Und Du hier hinter dem Buckel! Mensch, Kameel oder vielmehr, Dromedar, denn Du hast ja nur einen Höcker! Wie siehst Du aus!«

»Sehr distinguirt! Nicht wahr?«

»Ja. Dieses Haar, diese Farbe! Man könnte sich todtlachen, wenn man nicht da in der Nähe Franzosen wußte!«

»Aber doch scheint meine Verkleidung höchst unzureichend zu sein.«

»Warum?«

»Weil Du mich sofort erkannt hast.«

»Das bilde Dir nicht ein! Ich wußte, daß Du auf Schloß Ortry hausest; ich wollte Dich besuchen. Daher kam es, daß ich Dich erkannte, sonst aber nicht.«

»Mich besuchen?«

»Ja, natürlich.«

»Du kommst aus Paris?«

»Ueber Metz.«

»Wo hast Du Station?«

»An letzterem Orte.«

»Welche Geschäfte?«

»Sehr gute. Und Du?«

»Auch nicht schlecht.«

»Ich komme, um Dir einige Mittheilungen zu machen, welche für Dich von allergrößter Wichtigkeit sind. Hast Du Zeit?«

»Für solche Angelegenheiten und für Deine Person natürlich stets, lieber Arthur.«

»Gut! Aber wollen wir unsere Conferenz gleich hier abmachen? Giebt es keinen besseren Ort?«

»Hm!« antwortete Müller, sich umblickend. »Wir müssen unbeobachtet sein!«

»Wenigstens unbelauscht!«

»Na, da an der Schänke ist eine Laube. Nicht?«

»Ja, ein Glas Wein oder Bier käme mir recht. Ich bin durstig gelaufen.«

»So komme! Sie schritten auf die Schänke zu. Da kam eine Equipage daher gerollt. Marion saß ganz allein in derselben.

Müller blieb stehen und grüßte höflich. Hohenthal that infolge dessen dasselbe.

»Himmelelement!« sagte er, als der Wagen vorüber war. »Das war eine Schönheit!«

»Nicht wahr?«

»Piekfein! Wer das haben könnte!«

Er schnalzte mit der Zunge, wie ein Weinkenner, welcher einen guten Tropfen geschmeckt hat.

»Du hast doch stets Appetit!« lachte Müller.

»Du nicht auch? Nein, Du lebst nur für den Dienst des Königs, nicht aber für den viel süßeren der Frauen. Wer übrigens war diese Fee?«

»Die Baronesse von Sainte-Marie.«

»Auf Ortry etwa?«

»Ja.«

»Deine junge Herrin also?«

»Nein, sondern die Schwester meines Zöglings.«

»Sapperlot! Unverheirathet?«

»Ja.«

»Verlobt?«

»Nein.«

»Verliebt?«

»Nein.«

»Du, Kamerad, zeige mir einmal Deine Hand!«

»Hier! Warum?«

»Den Puls!«

»Ach so! Brennt es?«

Hohenthal fühlte mit ernster Miene den Puls und sagte dann in kläglichem Tone:

»Aus Dir wird kein Mensch gescheidt. Ich wollte, ich hätte meinen Martin da; der versteht es besser.«

»Allerdings ein gelungener Kerl!«

Sie hatten jetzt die Laube erreicht und traten ein. Der Wirth fragte nach ihrem Wunsche, erfüllte denselben und entfernte sich dann. Hohenthal that einen tiefen Zug und fragte nachher in scherzhaftem Ernste:

»Die war wirklich wunderbar schön. Aufrichtig, lieber Junge! Hast Du auch hier nicht angebissen?«

Müller blickte ernst vor sich nieder und antwortete:

»Aufrichtig? Ja.«

»Halleluja! Endlich, endlich! Natürlich sofort?«

»Sofort, als ich sie zum ersten Male sah. Und das war in Dresden.«

»In Dresden? Nicht hier? Mensch, Richard, ich wittere einen Roman oder wenigstens eine Novelle! Erzähle!«

»Unsinn! Hier! Wir haben andere Dinge zu sprechen. Und übrigens ist mir diese Sache zu ernst, zu heilig.«

»Ja, Du hast die Gabe, Alles von der heiligsten Seite zu betrachten. Aber, Liebster, vertraue mir nur Eins!«

»Was?«

»Hat auch sie angebissen?«

Müller zuckte die Achsel und antwortete:

»Woran soll sie beißen? Etwa an diesen Buckel?«

»Pah! Dein Gesicht ist nicht das eines vergebens nach Liebe jammernden. Sobald der Buckel fort ist, ist sie Dein. Nicht?«

»Ich hoffe es. Ich sage das zu Deiner besonderen Beruhigung, sonst bist Du nicht von diesem Gegenstande fortzubringen!«

»Das rechnest Du mir doch nicht etwa als Fehler an? Gründlichkeit ist stets eine Tugend, besonders aber in so hochwichtigen Dingen. Nun aber zur Sache! Zunächst muß ich Dir sagen, daß ich Monsieur Belmonte heiße und der Vertreter eines Weinhauses im Süden bin.«

»Ah! Verkaufst Du viel?«

»Massenhaft! Jetzt liefere ich nach Metz. Hoffentlich finde ich den Wein noch dort, wenn wir da einziehen, natürlich mit klingendem Spiele und fliegenden Fahnen.«

»Brrr! Das kostet ein Geld! Natürlich giebst Du den Wein auf Credit?«

»Freilich. Sechs Monate Ziel.«

»Wer bezahlt ihn?«

»Das schöne Frankreich.«

»Also Du bist mit Deinen Erfolgen zufrieden?«

»Ich kann es ganz gern sein. Ein großer Antheil davon fällt auf meinen Wachtmeister.«

»Gerade so wie bei mir. Schneeberg ist ein braver Kerl.«

»Martin nicht minder. Ohne ihn stände ich nicht in dieser Weise da.«

»Aber, Arthur, was suchst Du in Ortry?«

»Dich natürlich, Richard!«

»Doch nicht blos Besuch?«

»Wo denkst Du hin! Wie dürfte ich mir so einen Abstecher erlauben, wenn ich Dir nichts Wichtiges mitzutheilen hätte!«

»Ah! Etwas Wichtiges? Da sollst Du mir hoch willkommen sein, lieber Kamerad. Lege Dich aus!«

»Da auf Ortry wohnt ein alter Capitän?«

»Ja.«

»Der Richemonte heißt?«

»Gerade so.«

»Du, nimm den auf's Korn!«

»Warum?«

»Er läßt in Paris Franctireurs werben.«

»Ah! Wirklich?«

»Ja. Ich habe es mit eigenen Ohren gehört.«

»Wer es glaubt!«

»Und die Kerls mit eigenen Augen gesehen. Verstanden, ungläubiger Thomas! Ich bin eigens gekommen, um Dich auf die Spur dieses Kerls zu bringen.«

»Danke sehr!«

Hohenthal blickte ganz erstaunt auf Müller, den diese große Neuigkeit gar nicht zu tangiren schien.

»Mensch!« sagte er. »Wie kommst Du mir vor? Ich würde für einen solchen Wink gut und gern tausend Thaler zahlen!«

»Ich werfe kein Geld zum Fenster hinaus!«

»Was? Du glaubst nicht, was ich Dir sage?«

»Gerade weil ich es glaube, bezahle ich nicht!«

»Dann begreife Dich Dieser und Jener, aber ich nicht!«

»Ich glaube es, weil ich diesen alten Capitän bereits fest habe!«

»Ach – so –! Das ist etwas Anderes! Du kennst also die Verhältnisse bereits?«

»Vollständig. Ortry ist der Heerd der Freischärleragitation. Der Capitän ist ein wahrer Teufel. Er hat unterirdische Magazine angelegt, in denen colossale Vorräthe von Waffen und Munition liegen.«

»Kennst Du diese Magazine?«

»Ja.«

»Glückskind! So komme ich also zu spät?«

»Ja. Aber trotzdem bin ich Dir herzlich dankbar!«

»Bitte, bitte! So kann ich also mit einer anderen Nachricht vorreiten!«

»Ja. Noch eine?«

»Und zwar eine nicht ganz unwichtige. Bei Euch in Ortry hielt sich nämlich ein Officier auf, in Beziehung dessen ich Dir rathen würde, ein scharfes Auge auf ihn zu haben.«

»Wirklich? Das ist mir neu.«

»Ah, treffe ich da Etwas, was Du also doch noch nicht kennst?«

»Ich denke, Du wirst Dich wundern.«

»Wohl nicht. Er müßte incognito da sein.«

»Möglich. Ich erfuhr es beim General Latreau und dann an anderer Stelle.«

»Wie heißt der Herr?«

»Lemarch.«

»Lemarch? Ah!«

»Nicht wahr, der Name ist Dir unbekannt? Es ist der Sohn des Grafen Lemarch in Paris.«

»Er ist nicht in Ortry.«

»O doch. Gewiß.«

»Nein.«

»So müßte sich mein Gewährsmann sehr geirrt haben.«

»Geirrt hat er sich allerdings nicht. Lemarch war in Ortry, ist aber jetzt fort.«

»Fort? Du hast ihn gesehen?«

»Ja.« »Beschreibe mir ihn. Er ist nämlich der Jugendverlobte einer Dame, für welche ich mich außerordentlich interessire.«

»Hm! Auch angebissen?«

»Für's ganze Leben.«

»An eine Verlobte?«

»Kann nichts dafür. Uebrigens hoffe ich, daß diese Verlobung sich nicht zur Verheirathung entwickeln wird. Also bitte, beschreibe mir diesen Lemarch. Ist er ein hübscher Kerl?«

»Ja.«

»Donnerwetter! Fällt er mehr in die Augen, als Unsereins?«

»Freilich. Er ist länger und breiter als Du, wunderbar proportionirt, wie gesagt, ein hübscher Kerl.«

»Hole ihn der Teufel! Wo steckt er jetzt?«

»Bei Königsau's.«

»Bei Königsaus? Wo denn?«

»In Berlin.«

»Das seid ja Ihr!«

»Allerdings, mein Lieber.«

»Mensch, erkläre Dich!«

»Nun, Graf Rallion hat ihn nach Berlin geschickt, um über unsere kriegerischen Krankheiten nach Paris zu berichten. Er ist incognito dort, als ein Maler Haller aus Stuttgart.«

»So spricht er deutsch?«

»Sehr gut.«

»Hast Du wohl selbst mit ihm gesprochen?«

»Ja. Er hatte großes Vertrauen zu mir und fragte mich nach dem Ulanenrittmeister Richard von Königsau.«

»Also nach Dir selbst?«

»Ja.«

»Das ist classisch.«

»Mir kam es mehr modern vor. Rallion scheint nämlich zu wissen, daß man mir ein gewisses Vertrauen schenkt und daß man bei mir verschiedenes Secrete erfahren könnte, wenn ich plaudern wollte. Darum hat er diesen Lemarch direct an mich adressirt.«

»Und im Falle Du nicht plauderst?«

»Soll er sich an meine Schwester wenden.«

»An Emma? Da kommt er ganz und gar an die Rechte.«

»Dieser gute Maler aus Halle fragte in Folge dessen, ob meine Schwester hübsch sei.«

»Alle Teufel! Er will ihr den Hof machen?«

»Er denkt, sie werde aus Liebe plaudern.«

»Wenn diese Herren Franzosen auf solche Luftziegel bauen, wird die Geschichte bald zusammenstürzen. Also Lemarch ist jetzt bei Euch?«

»Zwar nicht als Gast; aber er geht als Hausfreund da ein und aus. Unterdessen schicke ich gewisse fingirte Gutachten, Pläne und andere Arbeiten hin, welche ihn Großpapa als wirkliche Secreta lesen läßt.«

»O weh! Da wird Napoleon eine gute Meinung von uns bekommen.«

»Das soll er auch. Er mag nur lachen. Später lachen wir!«

»Und Emma? Thut sie schön mit dem Maler?«

»Fällt ihr nicht ein! Sie ist sofort verreist, als er ankam und sich vorstellte.«

»Das ist brav. Ein deutsches Mädchen ist viel zu gut, selbst zum Besten des Vaterlandes einem Franzosen gegenüber die Rolle der Gefallsüchtigen zu spielen! Also das war wieder nichts. Ich dachte, Dir wenigstens in Nummero Zwei etwas wirklich Neues zu bieten; nun aber hast Du es bereits besser ausgebeutet, als ich es bereits für möglich hielt. Ich habe zwar noch ein Drittes, werde es aber doch lieber für mich behalten.«

»Heraus damit.«

»Nein! Ich will mich mit meinen alten Neuigkeiten nicht länger blamiren.«

»Vielleicht taugt es doch Etwas.«

»Wohl schwerlich. Unsere Aufgabe berührt es übrigens ganz und gar nicht. Es handelt sich um eine Privatperson, für welche Du gar kein Interesse haben kannst.«

»Warum nicht, wenn sie Dich interessirt?«

»Nein. Ich traf den Kerl unter eigenen Verhältnissen; sein Aeußeres hat sich mir eingeprägt. Letzter Tage wurde ich an ihn erinnert, indem ich von einer That hörte, die er ganz sicher verübt hat; es soll hier in Thionville geschehen sein. Ich dachte nur eben daran.«

»In Thionville? Was für eine That ist es?«

»Ein Mord.«

»Wer war der Kerl?«

»Er wurde der Bajazzo genannt.«

Da sprang Müller auf.

»Mensch! Hohenthal! Arthur! Ist es möglich? Diesen Kerl suche ich.«

»Willst Du eine Seiltänzergesellschaft etabliren?«

»Keinen Scherz! Die Sache ist von allergrößter Wichtigkeit. Erinnerst Du Dich, daß Onkel Goldberg seine beiden Knaben abhanden gekommen sind?«

»Natürlich! Alle Welt weiß das.«

»Nun, dieser Bajazzo ist es, der sie geraubt hat.«

»Donnerwetter! Wirklich?«

»Ganz zweifellos!«

»Herrgott! Das hätte ich wissen sollen.«

»Du hast ihn gesehen?«

»Sogar mit ihm verkehrt und mit ihm gesprochen und auch – Himmelschwerebrett – auch mit ihm getrunken!«

»Wo denn?«

»In Paris.«

»Das kann ich mir denken. Aber an welchem Orte?«

»Es nützt Dir nichts, den Ort zu hören, er ist von der Polizei zerstört worden. Es war in der Spitzbubenkneipe des Vaters Main. Ich ging als Incognitogauner hin, um meine Studien zu machen und zu horchen. Da verkehrte er.«

»Und jetzt?«

»Fort, weg.«

»Wohin?«

»Das weiß der Teufel! Herrgott, ich könnte mich beohrfeigen zehn Stunden lang! Das hätte ich wissen sollen. Was hat er denn hier in Thionville verbrochen?«

Müller erzählte den Mord der Seiltänzerin möglichst gedrungen, aber doch ausführlich genug und daran schloß Hohenthal den Bericht seiner Erlebnisse in Paris. Er war noch im Erzählen, da kehrte Marion de Sainte-Marie aus der Stadt zurück. Neben ihr im Wagen saß – Emma von Königsau. Marion hatte nicht mit Bitten nachgelassen, bis die so schnell und herzlich lieb gewonnene Freundin eingewilligt hatte, den Abend mit auf dem Schlosse zuzubringen.

Sie konnten im Vorüberfahren nicht in die grünumrankte Laube blicken, während die beiden Männer deutlich sahen, wer im Wagen saß. Hohenthal sprang auf.

»Sieh, Richard, sieh!« rief er ernsthaft aus.

»Was denn?« fragte Müller trocken.

»Das war die Baronesse wieder.«

»Nun ja! Du bist ja ganz und gar in Extase.«

»Hast Du denn die Andere gesehen?«

»Ja.«

»Kanntest Du sie?«

»Du etwa?«

»Natürlich! Mensch, das war ja Deine Schwester.«

»Allerdings.«

Hohenthal machte ein Gesicht, als ob er befürchte, daß der Freund verrückt geworden sei.

»Allerdings,« ahmte er ihm ganz verblüfft nach. »Das sagst Du so ruhig.«

»Allerdings,« wiederholte Müller gleichmüthig.

»Die Gazelle in der Höhle des Löwen.«

»Sie stehen unter meinem Schutze.«

»Kerl, Du mußt bedeutend an Macht und Selbstvertrauen gewachsen sein.«

»Ja, man wächst.«

»So wachse Du und der Teufel!« rief Hohenthal ärgerlich. »Sagt mir dieser buckliche Erzieher vorhin, daß seine Schwester verreist sei, aber wohin, das hat er verschwiegen.«

»Wozu die überflüssigen Worte? Ich ahnte, daß Marion Emma holen werde und so verstand es sich ganz von selbst, daß Du sie sehen mußtest.«

»Marion? So also heißt sie?«

»Ja, zu dienen.«

»Bist Du schon so weit mit ihr, daß Du sie bei ihrem Vornamen rufst?«

»Ja.«

»Herrgott! Macht dieser Mensch riesenhafte Fortschritte!«

»Es ist nicht so schlimm! Ich nenne sie beim Vornamen, aber nur ausnahmsweise, nämlich wenn sie nicht dabei ist und es also nicht hört.«

»Das kann ich mit meiner Ella auch, alter Schwede.«

»So thue es; ich habe nichts dagegen!«

»Wollte mir es auch verbeten haben! Aber ich kann es noch gar nicht begreifen, daß Deine Schwester in Ortry sein soll!«

»Schwester! Hm! Sie ist eine Engländerin.«

»Ah! Wieso?«

»Heißt Miß Harriet de Lissa und ist aus London.«

»Also auch incognito?«

»Auch.«

»Jetzt steht mir der Verstand still! Was will sie denn?«

»Ihre zukünftige Schwägerin kennen lernen.«

»Deine Marion?«

»Ja. Du hast ja gesehen, daß sie schon ganz dicke Freundinnen sind! Aber Du hast Dich ganz aus der Fassung bringen lassen und den Faden Deiner Erzählung verloren!«

»Es ist auch darnach! Du weißt doch, daß ich Deiner Schwester seiner Zeit den Hof machte!«

»Und riesig!«

»Ich liebte sie!«

»Unendlich!«

»Ich betete sie an.«

»Als wäre sie eine Göttin und Du ein armer Paria.«

»Ich dichtete sogar Lieder auf sie!«

»Ja, Sonnette!«

»Hymnen und Oden.«

»Die Schrift war nicht übel; aber die Gedichte taugten den Teufel. Sie wanderten alle in den Ofen.«

»Wirklich?«

»Gewiß!«

»Ihr Barbaren! Welch ein Undank! Ich ging ganz in Deine Schwester auf.«

»Und ans Billard!«

»Ich schickte ihr täglich einen Strauß.«

»Die Ziege unseres Wirthes bekam ihn zu fressen.«

»Dann stellte sich leider heraus, daß ihr Herz zu klein für mich sei!«

»Weil das Deinige zu groß für sie war. Es wohnten stets ein Dutzend Andere darin!«

»So ging die Sache futsch.«

»Gott sei Lob und Dank!«

»Aber dennoch halte ich noch große Stücke auf sie.«

»Schneide Dir nach Belieben kleine Stückchen davon herunter.«

»Du bist herzlos!«

»Desto entwickelter ist das Deinige.«

Beide lachten herzlich über einander, und dann nahmen sie wieder Platz, damit Hohenthal in seiner Erzählung fortfahren möge. So saßen sie, bis das Dunkel des Abends hereinbrach, ihre Gedanken, Meinungen und Erlebnisse austauschend. Sie lernten von einander, und als sie sich endlich erhoben, um zu scheiden, sagte Müller:

»Wie leid thut es mir, Dich nicht zu mir einladen zu können, aber es geht ja nicht!«

»Nein; das dürfen wir nicht wagen, lieber Freund! Wir müssen vorsichtig sein. Ich fahre mit dem letzten Zuge nach Metz; da bin ich daheim.«

»Was hättest Du gethan, wenn ich nicht hier vorüber gegangen wäre?«

»Ich hätte bis zum Dunkel gewartet und es dann auf irgend eine Art bewerkstelligt, zu Dir zu kommen.«

»Ein anderes Mal gehst Du zu Doctor Bertrand und fragst nach dem Kräutersammler Schneeberg.«

»Werde es mir merken. Aber höre, Richard, ist es nicht eigen, daß wir zwei kleine Rittmeisterchen hier in Feindes Land stehen mit dem stolzen Bewußtsein, daß im Kriegsfalle das Gelingen zum nicht geringsten Theile mit von unserer jetzigen Thätigkeit abhängt?«

»Es mag so sein. Darum wollen wir die Augen offen halten und nicht müde werden in der Erfüllung unserer Pflicht! Gute Nacht, lieber Arthur!«

»Gute Nacht, lieber Richard! Frohes Wiedersehen!«

Als Müller nach Ortry kam, fand er das Speisezimmer erleuchtet. Seit er sich seinen Platz am Tische erzwungen hatte, hatte er dort Zutritt, und er säumte heute nicht, sich hinzubegeben. Er fand Marion, Emma, den Amerikaner und die Baronin. Letztere war so früh vor Tische von der Neugierde herbeigetrieben worden, die Engländerin kennen zu lernen.

Emma spielte ihre Rolle ausgezeichnet und mit wunderbarer Ungezwungenheit. Sie wäre von jeder Engländerin für eine Landsmännin gehalten worden.

Müller wurde, außer der Baronin, von Allen höflich empfangen und als vollständig ebenbürtig behandelt. Er nahm sehr wenig am Gespräch theil und zog es vor, der Unterhaltung zu lauschen und seine Betrachtungen anzustellen.

Marion und Emma nannten sich bereits Du. Der Blick des Amerikaners hing bewundernd an der Letzteren. Er war ein hockbegabter und fein gebildeter, kenntnißreicher Mann und bemühte sich, Emma Gelegenheit zu geben, die Vorzüge ihres Geistes zur Geltung zu bringen.

Wenn Müller ja einmal in hochachtungsvoller Weise, wie es ihm als Erzieher zukam, sein Wort an Emma richtete und sie ihm dann in jener freundlich auszeichnenden und doch sichtlich herablassenden Weise antwortete, wie der wirklich gebildete Patricier es einem verdienten Bürgerlichen gegenüber zu thun pflegt, dann glänzten die Augen des Amerikaners vor Freuden über die Meisterschaft, mit welcher diese Beiden ihre Rolle spielten.

Während dieser angeregten Unterhaltung öffnete sich leise die eine Thür, welche im Schatten lag, und – – der Baron trat ein, in jetziger Zeit eine Seltenheit, man hatte wohl vergessen, ihn in seinem Zimmer einzuschließen.

Niemand bemerkte ihn. Er trat leise, unhörbar näher, bis dahin, wo der volle Strahl des Lichtes auf den Kopf Emmas fiel. Er stieß einen schrillen Schrei des Entsetzens aus, so daß alle erschrocken aufsprangen.

»Das ist sein Gesicht; aber er ist es nicht ganz!« schrie er, die Arme abwehrend vor sich streckend und die weit aufgerissenen Augen starr auf Emma gerichtet. »Ich kann ihm ja nichts thun! Er ist wieder lebendig geworden! Er wohnt da unten im Keller des Mittelpunktes!«

Diese unerwartete Scene brachte natürlich einen sehr peinigenden Eindruck hervor. Auf Marion's Gesicht spiegelte sich das tiefste Mitleiden ab. Der Amerikaner blickte ganz erstaunt auf den Mann, von dessen Vorhandensein er keine Ahnung hatte; Müller und Emma wechselten zwei schnelle, unbeobachtete Blicke. Das Gesicht des Ersteren war leichenblaß geworden.

»Es ist der Verrückte!« sagte die Baronin kalt. »Schaffe ihn fort, und schließe ihn ein, Marion!«

Marion nahm den Kranken am Arme.

»Komm, Vater!« sagte sie in mildem Tone.

Er ließ sich von ihr leiten; aber noch unter der Thür drehte er sich einmal um und klagte:

»Ich bin nicht schuld! Er lebt ja noch! Die Kriegskasse, o die Kriegskasse!«

Die Thür schloß sich hinter ihm; aber man hörte ihn draußen noch fortwimmern, bis er sein fernes Zimmer betreten hatte und dort eingeschlossen worden war.

Die Unterhaltung war gestört worden und kam auch nicht wieder in den rechten Fluß, bis die Tafel gedeckt wurde. Der Capitän, welcher davon benachrichtigt wurde, ließ sagen, daß man beginnen solle; er werde später kommen.

Jetzt kam auch Alexander, so daß sechs Personen soupirten.

Der Amerikaner saß neben Emma und suchte ihr auf alle Weise seine Aufmerksamkeit zu erweisen. Müller hatte die Baronin und Marion zu bedienen. Die Erstere nahm dies hochmüthig als etwas ganz Selbstverständliches hin; die Letztere aber fühlte sich öfters bewogen, den Erzieher durch einen freundlichen Blick zu belohnen.

Da, fast am Schlusse des Mahles, trat der Capitän ein. Er wußte nichts von Emmas Anwesenheit und kam näher. Er stand gerade hinter ihr als Alle sich zum Gruße erhoben. Sie drehte sich um. Er blickte ihr in das Gesicht, fuhr entsetzt zurück und rief:

»Margot! Schwester! Hölle und Teufel!«

Alle schwiegen vor Schreck; nur Zwei blieben sich gleich: Müller und Alexander. Der Erstere hatte so Etwas erwartet, und der Knabe sagte, halb lachend:

»Du irrst, Großpapa! Diese Dame ist ja Miß de Lissa aus London, welche mit verunglückt ist!«

Wohl nie in seinem ganzen Leben hatte der Alte sich in einer solchen Verlegenheit befunden, wie gerade jetzt. Er verbeugte sich tief und stammelte:

»Miß de Lissa?«

»Ja, meine Freundin,« fügte Marion hinzu.

»Aus London? Wirklich aus London?«

»Ja.«

»Verzeihung, Miß! Ich bin alt und ich bin gerade jetzt so leidend. Ich sah heute die Unglücksstelle an der Bahn und kann den schrecklichen Gedanken nicht wieder los werden. Ich bin nervös. Ich werde mich wohl bald wieder zurückziehen müssen!«

Er aß sehr wenig. Auf dem Tische stand nur ein leichter, weißer Moselwein.

»Der Rothe wird mich vielleicht stärken!«

Mit diesen Worten erhob sich der Alte und trat an das Büffet, welches an der Wand stand. Müller ließ ein leises Räuspern hören; der Amerikaner blickte zu ihm herüber, erhielt einen Wink und verstand denselben. Beide beobachteten den Alten scharf, ohne daß es den Andern auffallen konnte. Er schenkte sich ein Glas Wein ein, dabei drehte er den Anwesenden den Rücken zu. Dabei zog er mit der Linken etwas aus der Tasche. Was er that, war nicht zu sehen; aber aus seinen Bewegungen ließ sich vermuthen, daß er etwas – jedenfalls eine Flüssigkeit – in eines der dort stehenden leeren Gläser fallen ließ. Dann führte er die Hand zur Westentasche zurück und setzte sich wieder an seinen Platz.

Müller ließ ein leises Lächeln sehen, welches nur von dem Amerikaner bemerkt wurde. Dieser senkte bejahend den Kopf. Er erwartete das neue Commando.

Der Alte hatte ausgetrunken. Er trat abermals zum Tische und goß sich sein Glas voll, dann ein zweites, welches er dem Amerikaner präsentirte.

»Sie müssen heute verzeihen, Monsieur Deep-hill,« sagte er. »Morgen werde ich wieder au fait sein. Damit ich aber die Pflicht der Gastlichkeit nicht ganz und gar verletze, will ich mir erlauben, mit Ihnen auf ein herzliches Willkommen anzustoßen. Lassen Sie uns austrinken!«

Er trank aus. Der Amerikaner warf einen fragenden Blick auf Müller; dieser nickte heimlich und aufmunternd, und so hob auch er sein Glas zum Munde und leerte es mit einem einzigen Zuge.

Nun nahm der Alte gute Nacht und ging. Man musicirte noch ein wenig, wobei Emma einige englische Lieder vortrug. Hier nahm Deep-hill Gelegenheit, an Müller heranzutreten und zu flüstern:

»Er hatte erst etwas in's Glas gegossen!«

»Ich sah es auch.«

»Aber wenn es nun wirklich Gift gewesen wäre!«

»Haben Sie keine Sorge; es ist Wasser!«

»Was nun?«

»Lassen Sie Alles ruhig über sich ergehen. Ich wache! Während er bei Ihnen ist, stehe ich zu Ihrer Hilfe bereit. Ist es möglich, so zeige ich mich Ihnen sogar. Blicken Sie zwischen den Lidern hindurch!«

Nach einiger Zeit verabschiedete sich Emma. Sie wurde nach der Stadt gefahren. Der Amerikaner wollte sie begleiten, doch sie lehnte dankend ab und erbat sich die Begleitung Müllers. Das hatte ganz den Anschein, als treffe sie diese Wahl nur darum, weil Deep-hill der höher Stehende und Müller doch eigentlich der Bedienstete war, doch der Erstere wußte wohl, daß die beiden Geschwister jedenfalls miteinander zu sprechen hatten, und nahm daher die Zurückweisung, welche übrigens gar keine war, nicht im mindesten übel.

Es war sehr dunkel geworden. Die Geschwister konnten halblaut miteinander sprechen, ohne von dem Kutscher gehört zu werden.

»Ich bebe jetzt noch,« sagte Emma. »Der Capitän hält mich für die Großmama Margot!«

»Ich hatte mir fast so etwas gedacht, obgleich ich nicht geglaubt habe, daß Du ihr in diesem Grade ähnlich bist, zumal Du blond bist, während sie schwarzes Haar hatte!«

»Was wird er denken?«

»Das ist mir zunächst sehr gleich. Mich interessirt jetzt nur das Verhalten des Wahnsinnigen.«

»Das war der Baron de Sainte-Marie?«

»Ja.«

»Was wollte er? Er sprach von der Kriegskasse.«

»Er phantasirt.«

»Und auch von Einem, dem ich ähnlich sein muß.«

»Ich werde Dir später meine Vermuthungen mittheilen; für heute habe ich nicht Zeit dazu.«

Aber sein Schweigen hatte einen ganz andern Grund. Er wollte der Schwester keine Herzensqual bereiten, welche zu heben er jetzt doch nicht im Stande war. Er hätte darauf schwören mögen, daß sein Vater, Gebhardt von Königsau, noch lebe und da unten in den Gewölben gefangen gehalten werde, weil der Capitän glaubte, von ihm erfahren zu können, wo die so oft erwähnte Kriegskasse vergraben sei.

Als er mit dem Wagen zurückgekehrt war, begab er sich in sein Zimmer, schnallte den Buckel ab, steckte Laterne, Messer und Revolver ein, verriegelte die Thür von innen und stieg zunächst durch das Fenster auf das Dach hinaus und dann an dem Blitzableiter in den Hof hinab. Dabei sah er, daß der Alte sich noch in seinem Zimmer befand, wo er lang ausgestreckt auf dem Sopha lag.

Nun begab er sich nach dem bekannten Gartenhäuschen, hinter welchem er sich niedersetzte, um zu warten.

Es war längst Mitternacht vorüber, als er leise Schritte hörte. Der alte Capitän kam und trat in das Häuschen, in dessem Innern ein schneller Lichtschein aufzuckte, um dann gleich wieder zu verschwinden. Müller wartete, bis das Geräusch der Schritte nach unten hin verklungen war, und folgte dann ganz in derselben Weise, wie er es bereits früher gethan hatte. Unten im Gange, welcher nach dem Schlosse führte, hatte er den Alten mit der Laterne vor sich, konnte und mußte also die seinige in der Tasche stecken lassen.

So ging es bis an die Stelle, in welcher die vielen geheimen Waldgänge zusammenliefen, und dann empor, gerade wie in jener Nacht, in welcher der Fabrikdirector ermordet wurde. Es handelte sich heute sogar auch um ganz dasselbe Zimmer, in welchem nach minutenlangem Horchen der Alte auch heute verschwand. Müller tappte sich unhörbar näher und erreichte die offene Tafelthür. Drin im Zimmer war es noch dunkel. Jedenfalls befühlte der Alte den Amerikaner, um sich zu überzeugen, daß der Trank gewirkt habe. Dann wurde es plötzlich hell. Müller steckte den Kopf vor und sah, daß der Capitän eine Blendlaterne geöffnet hatte, jedoch nur so weit, daß der Schein des Lichtes nicht weiter als blos auf das Gesicht des Amerikaners fiel.

Dieser lag mit geschlossenen Augen, unbeweglich, wie im Schlafe. Er hatte die Hände unter der Bettdecke. Jedenfalls hielt er da nach Müllers Rath irgend eine Waffe verborgen.

Der Alte betrachtete das Gesicht genau und schien befriedigt zu sein, denn er wendete sich nun von dem Bette ab, um die im Zimmer befindlichen Gegenstände zu untersuchen. Sein Blick fiel auf den Tisch, auf welchem die Brieftasche lag. Rasch, aber leise trat er hinzu und öffnete dieselbe, um ihren Inhalt in Augenschein zu nehmen. Dabei setzte er die Laterne auf den Tisch. Ihr Schein fiel auch mit in die Ecke, in welcher sich der geheime Eingang befand. Der Alte stand von dieser Ecke abgewendet.

Diesen Augenblick benützte Müller. Er war überzeugt, daß der Amerikaner, welcher im Schatten lag, die Augen geöffnet habe. Er wollte ihm zeigen, daß er gegenwärtig sei, und trat also in das Zimmer, in den Lichtkreis hinein. Es war dies ein Wagniß, er war ganz hell beleuchtet, und wenn der Capitän jetzt nur den Kopf gewendet hätte, so wäre Müllers Anwesenheit verrathen gewesen. Glücklicherweise aber war der Alte zu sehr mit den in dem Portefeuille befindlichen Papieren beschäftigt; er sah sich nicht um.

Da zog der Amerikaner den Arm unter der Decke hervor und hob ihn empor, zum Zeichen, daß er Müller gesehen habe. Dieser hatte seinen Zweck erreicht und trat wieder zurück.

Nach einiger Zeit machte der Alte die Brieftasche zu, ohne etwas aus derselben genommen zu haben. Er legte sie auf den Tisch zurück und griff zur Laterne. Er ließ den Schein derselben wieder auf das Gesicht des Amerikaners gleiten, welcher seine vorherige Stellung eingenommen hatte, und verließ dann das Zimmer auf demselben geheimen Wege, auf dem er gekommen war.

Müller war, als er bemerkte, daß der Capitän die Brieftasche schloß, sofort und eilig die schmalen Stufen wieder hinunter gestiegen. Unten angekommen, stellte er sich auf die Seite, um den Alten vorüber zu lassen. Er fand hinter einem Pfeiler ein gutes, sicheres Versteck.

Richemonte kam langsam herabgestiegen. Er schien sehr nachdenklich zu sein. In der Nähe von Müllers Versteck blieb er stehen und brummte vor sich hin:

»Verdammt! Dieser Deep-hill ist ein vorsichtiger Kerl! Was können mir die Anweisungen nützen, wenn die Unterschrift der Firma fehlt! Diese Amerikaner sind höchst penibele Geschäftsleute. Aber, unterschreiben wird er doch!«

Er schritt an der Säule, hinter welcher Müller stand, vorüber, als wolle er das Gartenhäuschen aufsuchen, blieb aber nach zwei Schritten bereits wieder stehen.

»Ob ich Rallion aufsuche?« fragte er sich.

Er blickte eine Weile überlegend vor sich nieder und fuhr dann fort:

»Diese Marion muß gezähmt werden, und zwar baldigst! Ich werde doch mit ihm sprechen, wenn er auch erschrecken wird darüber, mich so unerwartet vor seinem Bette zu sehen.«

Er machte eine halbe Wendung, so daß Müller sich genöthigt sah, dieser Wendung, um nicht entdeckt zu werden, um die Säule zu folgen, und stieg dann eine andere Stufenreihe empor.

Auch diese Stufen führten zwischen zwei engen Mauern nach oben, die Wände standen so eng zusammen, daß ein Mensch nur bei schiefer Körperhaltung Platz finden konnte. Oben gab es wieder ein niedriges, schmales, thürähnliches Loch, welches durch Täfelwerk verschlossen war. Richemonte schob dasselbe, nachdem er einige Augenblicke gelauscht hatte, zur Seite und trat, indem er sich niederbückte, durch die entstandene Oeffnung. Er befand sich im Schlafzimmer des jungen Rallion.

Er trat an das Bett und leuchtete dem Schläfer, der nichts gehört hatte, in das Gesicht. Dieses Letztere war durch ein Heftpflaster entstellt, in Folge von Fritz Schneebergs Messerschnitt. Der Alte schüttelte den Grafen leise.

»Herr Oberst!« sagte er.

Rallion drehte sich herum und machte die Augen auf. Er sah Licht und erblickte den Alten.

»Donnerwetter!« meinte er, indem er empor fuhr. »Capitän! Wie kommen Sie in dieses Zimmer?«

»Zu Fuße natürlich!« antwortete lachend der Alte.

»Die Thüren sind doch verriegelt!«

»Das kann für mich kein Hinderniß sein. Aber bitte, sprechen Sie ein Wenig leiser! Es ist nicht nothwendig, daß wir uns mit Aufbietung aller unserer Lungenkräfte unterhalten. Es kann das mehr piano geschehen.«

»Unterhalten? Ah, mir scheint, daß Sie eine eigenthümliche Zeit zu dieser Conversation gewählt haben!«

»Es ist die beste; ich kann es Ihnen versichern!«

»Gut! Sie müssen das besser beurtheilen können als ich. Aber die Veranlassung kann keine gewöhnliche sein!«

»Vielleicht ist sie für Sie ungewöhnlich; für mich ist sie es aber nicht. Es handelt sich nämlich um Marion.«

»Um Marion? Ah! Da könnten Sie mich zu jeder Nachtzeit wecken! Warten Sie; ich werde aufstehen!«

»Ist nicht nothwendig!«

»Aber, soll ich denn im Bette – – –«

»Pah! Wir brauchen unter vier Augen uns ganz und gar nicht um die Dehors zu bekümmern. Bleiben Sie liegen!«

»Gut! Aber wie sind Sie herein gekommen?«

»Das geht Sie zunächst Nichts an!«

»Meinetwegen! Also was ist's mit Marion?«

»Dieses Mädchen zeigt sich höchst obstinat.«

»Leider, leider!«

»Sie haben es nicht verstanden, sich ihre Theilnahme zu erwerben!«

»Alle Teufel! Wer kann sich mit einem so bepflasterten Gesichte, wie das meinige ist, die Anbetung einer Dame erringen.«

»Damen pflegen Leidenden gegenüber doch immer mehr oder weniger Sympathie zu hegen.«

»Heftpflaster gegenüber? Hm!«

»Wer das Mitleid eines Mädchens besitzt, wird auch sehr bald die Liebe desselben besitzen.«

»Das ist Theorie. Die Praxis zeigt sich mir ganz anders!«

»Daran tragen Sie Schuld!«

»Wieso? Ich möchte das bewiesen sehen!«

»Der Beweis ist sehr leicht. Trugen Sie das Heftpflaster bereits, als Marion Sie zum ersten Male sah?«

»Nein.«

»Sie dürfen also dem Pflaster nichts vorwerfen. Sie hätten die Bekanntschaft Marions in einer Weise machen sollen, welche Ihnen ihre Liebe sicherte.«

»Wollen Sie die Güte haben, mich über diese Art und Weise aufzuklären?«

»Wenn ich Sie aufklären soll, so brauche ich mich über Ihren Mißerfolg allerdings gar nicht zu wundern. Ein junger Mann muß ganz von selbst wissen, wie er sich eine Frau erwirbt.«

»Meinen Sie etwa, ich hätte Süßholz raspeln sollen?«

»Ein Wenig, ja.«

»Nun, das habe ich gethan.«

»Das war aber nicht genug!«

»Was noch?«

»Sie hätten sich als Helden zeigen sollen.«

»Auf dem Schiffe?«

»Ja. Sie hatten die beste Gelegenheit dazu.«

»Donnerwetter! Haben Sie etwa die Ansicht, daß ich Marion hätte retten sollen?«

»Das ist allerdings meine Ansicht! Sie hatten ja den Kahn.«

»Es gab aber keine Zeit, die Dame zu holen.«

»Sie hätten diese Zeit haben können, wenn Sie sich beeilt hätten.«

»O nein! Ehe ich Marion aus der Cajüte gebracht hätte, wäre der Kahn bereits von Anderen weggenommen worden.«

»Nun, dann gab es immer noch einen Rettungsweg.«

»Noch einen? Welchen?«

»Das Schwimmen!«

»Brrr! Das macht naß!«

»Ich denke, Sie haben das Schwimmen gelernt?«

»Allerdings! Aber mit einer solchen Last – bei solchem Wetter – bei diesem Aufruhr aller Elemente – kein Mensch hätte das fertig gebracht.«

*


 << zurück weiter >>