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Der Alte zog eine etwas verächtliche Miene bei der Entschuldigung Rallion's, die dessen Feigheit bemänteln sollte.
»Pah!« sagte Ersterer. »Es hat es doch Einer fertig gebracht!«
»Sie meinen diesen Menschen, diesen Schulmeister Müller? Bei ihm ist das etwas Anderes. Er ist buckelig, er hat den Sicherheitsapparat auf dem Rücken; dieses Subject kann ja niemals untergehen.«
»Sie vergessen, daß noch ein Anderer mit Nanon in die Fluth gesprungen ist. Er hat sie gerettet, ohne buckelig zu sein.«
Der Graf machte eine ungeduldige Handbewegung und antwortete:
»Sind Sie etwa gekommen, um mich mit diesen Beispielen des Heldenmuthes zu langweilen?«
»Nein. Ich wollte Ihnen nur beweisen, daß Sie es selbst versäumt haben, sich Marion zu gewinnen.«
»Es handelte sich um Leben und Tod. Ein Kahn war in diesen Augenblicken der Gefahr mehr werth als das schönste Mädchen der ganzen Welt.«
»Ich denke, Sie lieben Marion.«
»Zweifeln Sie daran?«
»Fast möchte ich.«
»Unsinn! Sie ist eine Schönheit allerersten Ranges. Und außerdem hat sie etwas an sich, was Einen vor Liebe verrückt machen könnte. Sie muß meine Frau werden.«
»Und doch war Ihnen ein Kahn lieber als sie.«
»Hören Sie, Capitän: das Leben geht noch über die Liebe. Ich glaube nicht, daß Sie mir da Unrecht geben werden.«
»Die kalte Berechnung sagt allerdings, daß Sie da Recht haben; aber es giebt auch Charactere, welche für ihre Liebe in den Tod gehen können.«
»Zu diesen Leuten gehöre ich nicht. Ich bin weder ein Dichter noch sonst ein Schwärmer. Es mag romantisch sein, für die Geliebte zu sterben; für sie zu leben, ist aber jedenfalls vernünftiger und vortheilhafter.«
»Vorausgesetzt, daß die Geliebte einwilligt. Aber gerade das thut Marion nicht.«
»Das läßt mich kalt. Auf ihre Einwilligung kommt ja nicht das Geringste an.«
»Sie meinen, daß mein Befehl ausreichend ist?«
»Ich hoffe es!«
»Aber sie weigert sich, mir zu gehorchen.«
»Wirklich? Das ist fatal, aber mehr für Sie, als für mich. Sie haben uns Ihr Wort gegeben, und Sie müssen es halten.«
»Das versteht sich ganz von selbst. Aber lieber wäre es mir gewesen, Marion hätte freiwillig eingewilligt. Ich glaube, sie hält Sie für feig.«
»Donnerwetter. Ich feig?« fragte Rallion.
»Ja,« antwortete der Alte ruhig.
Rallion fuhr sich mit der Hand nach dem blessirten Gesichte und sagte:
»Feig? Mit dieser Wunde?«
»Meinen Sie, daß Ihre gegenwärtige Verwundung ein Beweis Ihres Muthes ist?«
»Ganz gewiß!«
»Sie haben den Schnitt nicht im offenen, kühnen Kampfe bekommen.«
»Aber doch im Kampfe. Ich habe den Menschen, welcher sich eingeschlichen hatte, festhalten wollen. Haben Sie etwa die Absicht, dies eine Feigheit zu nennen?«
»Eine außerordentliche Verwegenheit gehörte nicht dazu. Uebrigens dürfen wir nicht vergessen, was Marion über Ihre Wunde denken muß!«
»Nun, was?«
»Daß sie von einer Sense herrührt, auf welche sie in der Dunkelheit getreten sind.«
»Verdammte Sense! Hätte es denn keine bessere Erklärung oder Ausrede gegeben?«
»Nein. Junge Mädchen schwärmen gern für Helden. Hätten Sie sich mit Marion in das Wasser gestürzt, so wäre sie in diesem Augenblicke die Ihrige.«
»Oder wir wären Beide elend ertrunken.«
»Andere sind auch nicht ertrunken.«
»Sie reden verteufelt eigenthümlich. Also Marion wäre heute mein, wenn ich Sie gerettet hätte?«
»Ich bin davon überzeugt.«
»Alle Teufel. Dann müßte sie ja diesen buckeligen Schulmeister lieben!«
»Unsinn!«
»Er hat sie ja gerettet!«
»Und abermals Unsinn! Marion ist ein hocharistokratischer Character. Sie – und ein Hauslehrer; sie, eine Französin vom reinsten Wasser – und er, ein Deutscher!«
»Gut! Sie sehen also, daß Ihre Prämissen sehr falsch sind! Und außerdem beweist dieser Müller, daß es keineswegs ein Zeichen von Muth ist, wenn man sich gedankenlos in's Wasser stürzt.«
»Was sonst?«
»Pah! Halten Sie diesen Menschen etwa für muthig?«
»Ja.«
»Sapperment! Warum?«
»Er hat es mir im Fechten und Reiten bewiesen, vielleicht auch noch in anderer Weise.«
Er dachte dabei mit stillem Grimme an die Festigkeit, mit welcher Müller ihm in Beziehung auf den ermordeten Fabrikdirector entgegengetreten war.
»Das will nichts sagen,« entgegnete Rallion. »Mir gegenüber ist er so feig gewesen, wie man feiger gar nicht sein kann.«
»Wieso?«
»Erinnern Sie sich nicht, was ich ihm sagte, als er mir bei meiner Ankunft hier begegnete?«
»Er schwieg aus Rücksicht gegen uns.«
»Das ist sehr falsch geurtheilt! Bei einer solchen Beleidigung kennt ein Mann keine andere Rücksicht, als diejenige, welche er seiner Ehre schuldet. Doch streiten wir uns nicht wegen dieses mir höchst gleichgiltigen Menschen! Wir wollen von Marion reden. Haben Sie deutlich mit ihr gesprochen?«
»So deutlich, daß es deutlicher gar nicht geschehen kann.«
»Was antwortete sie?«
»Ein festes Nein.«
»Aus welchem Grunde?«
»Sie will ihre Hand nur einem Manne geben, dem es gelingt, sowohl ihre Liebe als auch ihre Achtung zu erwerben.«
»Donnerwetter! Das heißt, ich besitze ihre Liebe nicht?«
»So ist es.«
»Und ihre Achtung?«
»Auch nicht.«
Da richtete Rallion seinen Oberkörper im Bette empor.
»Mich, einen Obersten der Garde, einen kaiserlichen Offizier nicht achten? Das ist stark! Welche Gründe hat sie, mir sogar auch ihre Achtung zu versagen?«
»Fragen Sie sich selbst!«
»Sie haben nicht gefragt?«
»Ich pflege nicht, Fragen zu thun, von denen ich voraussetzen muß, daß sie mir nicht beantwortet werden.«
»Sie behandeln diese Dame mit unverzeihlicher Milde. Sie können befehlen. Sie können Sie zwingen!«
»Wohl! Das werde ich auch!«
»Nun, so thun Sie es doch!«
»Ich bedarf dabei Ihrer Unterstützung.«
»Sie können derselben versichert sein!«
»Ich bin deshalb hier. Ich habe einen Plan. Wir werden Marion zwingen, Ihnen zu gehören, Ihre Frau zu werden.«
»Schön! Theilen Sie mir diesen Plan mit!
»Wir müssen ihren Widerstand besiegen.«
»Womit?«
»Durch Zwang.«
»Das brauchen Sie mir nicht zu wiederholen, nachdem Sie mir bereits gesagt haben, daß sie nicht freiwillig ihre Zustimmung giebt. Welche Art des Zwanges meinen Sie, Herr Capitän?«
»Es giebt nur Eine: Freiheitsentziehung!«
»Ah! Gefangenschaft?«
»Ja.«
»Sollte nichts Anderes vorzuziehen sein?«
»Ich habe bereits Alles Andere versucht.«
»Das ist fatal, höchst fatal! Widerrechtliche Freiheitsentziehung kann gefährlich werden!«
»In diesem Falle nicht. Ich habe erlaubte Gründe, diese obstinate Person einzusperren.«
»Nun gut, so thun Sie es! Wenn wirklich nichts Anderes helfen kann, so sind wir ja gezwungen, dieses letzte Mittel in Anwendung zu bringen. Wohin soll sie gesperrt werden?«
»In eins von unseren Gewölben.«
» Fi donc! Ein häßlicher Aufenthalt!«
»Desto besser! Das wird sie mürbe machen!«
»Wohl gar bei Wasser und Brod?«
»Bei nichts. Sie wird weder Speise noch Trank bekommen. Sie soll Hunger und Durst leiden, bis sie sich fügt!«
»Hm! Eigentlich höchst deprimirend für mich!«
»Wieso?«
»Ein Mädchen muß durch Hunger und Durst gezwungen werden, Gräfin Rallion zu werden!«
»Machen Sie es anders!«
»Was werden aber Andere dazu sagen?«
»Wer?«
»Die Baronin?«
»Diese wird unser Verfahren gut heißen. Sie haßt Marion; sie wird uns sogar behilflich sein.«
»Der Baron?«
»Der Verrückte? Er zählt ja nicht!«
»Alexander?«
»Der Knabe? Er erfährt nichts!«
»Nanon, die Gesellschafterin, und alle die Anderen?«
»Auch sie werden nichts erfahren.«
»Aber sie werden doch Marion vermissen!«
»Nein. Marion wird verreist sein.«
»Wie wollen Sie dies anstellen?«
»Das ist einfach. Davon nachher. Nicht so einfach ist die Art und Weise, in welcher wir Marion nach dem Gewölbe bringen. Ich muß dabei auf Ihre Hilfe rechnen.«
»Ich sage Ihnen meine Mitwirkung natürlich zu, vorausgesetzt, daß für mich daraus keine Gefahr erwächst.«
»Nicht das Mindeste. Man kann von Ihrer Mitwirkung gar nichts ahnen. Man wird Sie hier in Ihrem Bette vermuthen, während wir Marion nach unten schaffen.«
»Sie wird sich sträuben!«
»Nein.«
»Sie wird Lärm machen, um Hilfe rufen!«
»Sie wird nicht den geringsten Laut ausstoßen; denn ich werde sie vorher chloroformiren.«
»Chloroformiren?« fragte Rallion. »Vortrefflich! Haben Sie Chloroform?«
»Natürlich!«
»Es soll des Nachts geschehen?«
»Das versteht sich ganz von selbst.«
»Wie wollen Sie da zu ihr kommen? Sie wird sich vermuthlich eingeschlossen haben.«
»Hatten Sie sich heute nicht auch eingeschlossen?«
»Allerdings.«
»Und dennoch stehe ich hier vor Ihnen. Auf dieselbe geheimnißvolle Weise werden wir auch in Marion's Schlafzimmer Eingang finden. Freilich habe ich Sie da in bauliche Verhältnisse des Schlosses einzuweihen, von denen bisher kein Mensch wußte. Ich hoffe, daß ich Ihrer Verschwiegenheit sicher bin.«
»Sie erhalten mein Ehrenwort, daß ich nicht plaudere.«
»Also wir treten heimlich und leise bei ihr ein – sie schläft – sie hört uns nicht – ich lege ihr ein mit Chloroform getränktes Tuch über das Gesicht – zwei Minuten genügen, und dann tragen wir sie auf Wegen, welche Sie dann kennen lernen werden, hinab in das Gewölbe.«
»Schön, sehr schön! Und dann?«
»Das Folgende versteht sich ganz von selbst!«
»Wohl nicht!«
»Sie hungert, bis sie einwilligt!«
»Und wenn sie lieber verhungert?«
»Unsinn! Hunger thut weh!«
»Man hat aber doch Beispiele – –!«
»Nun, dann thut der Durst noch viel weher. Oder zweifeln Sie auch da noch?«
»Es ist immerhin gefährlich!«
»Das sehe ich nicht ein.«
»Sie wird scheinbar einwilligen, dann aber Alles verrathen.«
»Nein. Wir werden sie nicht eher frei lassen, als bis sie uns ihr Wort gegeben hat, fürs ganze Leben zu schweigen.«
»Pah! Ein solches erzwungenes Wort pflegt keine Geltung zu haben.«
»Bei Marion doch. Sie ist ein Character.«
»Gut! Wollen wir annehmen, daß sie ihr Wort halten werde. Wie aber nun, wenn sie uns einen Streich spielt, indem sie – –«
Er hielt inne. Der Alte fragte:
»Nun? Was? Indem sie – –«
»Indem sie es so einrichtet, daß sie uns ihr Wort gar nicht zu geben braucht.«
»Wie wollte sie das fertig bringen? Sie wird auf alle Fälle gezwungen sein, uns Stillschweigen zu versprechen.«
»Einen Fall giebt es doch, an den Sie nicht zu denken scheinen.«
»Welcher wäre das? Ich habe Alles überlegt.«
»Der Fall, daß Sie – – daß sie sich ein Leid anthut.«
Der Alte fuhr zurück.
»Alle Teufel!« sagte er. »Das wäre ihr zuzutrauen!«
»Nicht wahr? Sie nannten sie ja obstinat!«
»Ja; das ist sie. Sie wäre wirklich im Stande, uns auf diese Weise einen Strich durch die Rechnung zu machen«
»Wir dürfen also auf keinen Fall die Saiten zu sehr anspannen!«
»Nun, dann giebt es ein Mittel, sie dennoch und auf alle Fälle zur Einwilligung zu zwingen.«
»Ich bin neugierig, es zu erfahren.«
»Wir lassen sie erst einige Tage hungern, und dann – –«
Es fiel ihm doch nicht ganz leicht, seine Gedanken auszusprechen. Er stockte, fuhr aber dann fort:
»Und dann – nun, dann schließe ich Sie einige Stunden bei ihr ein.«
Der Graf horchte auf.
»Wetter!« sagte er. »Mich mit ihr allein?«
»Ja.«
»Im Dunkeln natürlich?«
»Ja.«
»Und Sie denken, daß Marion dann – –?«
»Das Weitere ist Ihre Sache. Sie sind doch kein Kind! Wenn ich wieder aufschließe, werden Sie als Mann und Frau das Gewölbe verlassen.«
»Capitän, dieser Gedanke ist schön aber – teuflisch!«
»Sind Sie ein Engel? Ah – –? Hörten Sie etwas?«
»Hm! Es war wie ein Seufzer!«
»Ja. Also Sie hörten es auch. Ich dachte, ich hätte mich getäuscht. Es wird doch nicht – –«
Er zog seinen Revolver aus der Tasche, griff zur Laterne und begab sich nach dem geheimen Eingange, welcher offen stand. Er sah nichts Verdächtiges. Er trat hinaus und leuchtete die Treppe hinab – es war nichts, gar nichts zu bemerken. Er schritt schnell sämmtliche Stufen hinunter und leuchtete in alle Winkel und Ecken. Er konnte nichts Beunruhigendes bemerken und kehrte also zurück.
Als er wieder in Rallion's Schlafstube trat, war dieser aufgestanden, hatte ein Licht angebrannt und den offenstehenden Eingang untersucht.
»Ah! So also ist es!« meinte er, mit dem Kopfe nickend. »Hier giebt es verborgene Thüren?«
»Die wir sehr gut gebrauchen können,« antwortete der Alte. »Aber warum sind Sie aufgestanden?«
»Weil man nicht wissen konnte, was passirt. Haben Sie etwas gesehen?«
»Nein. Entweder haben wir uns getäuscht – –«
»Nein; ich hörte es deutlich.«
»So ist es ein Luftzug gewesen. Es hat kein Mensch eine Ahnung von diesen Treppen und Gängen. Es muß die Luft gewesen sein. Dennoch aber wollen wir aus Vorsicht den Eingang schließen.«
Er schob das Getäfel zu; dann fuhren sie in ihrer heimlichen Unterhaltung fort, indem er fragte:
»Also Sie halten meinen Vorschlag für teuflisch?«
»Ein wenig, ja.«
»Aber praktisch?«
»Praktisch und – interessant.«
»Sie wird gezwungen sein, Ja zu sagen, denn ich hoffe doch, daß Sie Ihrer Aufgabe gewachsen sind!«
Rallion stieß ein häßliches Lachen aus und sagte:
»Daran dürfen Sie allerdings nicht zweifeln, obgleich Sie mich nicht für einen muthigen Menschen zu halten scheinen.«
»Pah! Dazu gehört kein Muth! Dann, wenn sie ihren Widerstand aufgegeben hat, wird sie von ihrer angeblichen Reise zurückkehren dürfen.«
»Wie aber wollen Sie diese Reise glaubhaft machen?«
»Nichts leichter als das! Man spannt des Nachts an und bringt Marion nach dem Bahnhofe.«
Rallion blickte ihn fragend an und sagte:
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Nun, nicht Marion, sondern eine Andere steigt ein.«
»Ah, ich vermuthe!«
»Nun, wer?«
»Die Baronin?«
»Ja.«
»Sie wird also mit im Geheimnisse sein?«
»So weit es nothwendig ist, sie einzuweihen.«
»Aber man wird die Täuschung bemerken.«
»Wohl nicht. Es ist dunkel.«
»Der Kutscher – –«
»Ich brauche keinen Kutscher. Ich nehme das kleine Coupee und fahre selbst.«
»Aber der Diener ist dabei, wenn die Baronin einsteigt!«
»Das werde ich zu vermeiden wissen.«
»Und Sie kommen mit der Baronin zurück!«
»Nein. Ich bringe Marion zum Bahnhofe und kehre allein zurück.«
»Wie wollen Sie das anfangen?«
»Sehr einfach: Ich lasse die Baronin aussteigen, sobald wir aus dem Schlosse sind, und sie kehrt im Dunkel heimlich in dasselbe zurück.«
»Schlaukopf, der Sie sind! Ja, so muß es arrangirt werden! Aber, wann soll das geschehen?«
»So bald wie möglich. Es ist Gefahr im Verzuge. Das Rencontre, welches ich mit Marion gehabt habe, läßt mich befürchten, daß ich ihr in keiner Weise zu trauen habe.«
»Also am Besten noch heute? In dieser Nacht?«
»Dazu ist es zu spät. Ich muß doch vorher mit der Baronin darüber sprechen.«
»Also morgen?«
»Ja, morgen ganz bestimmt.«
»Wie viel Uhr?«
»Das läßt sich jetzt noch nicht sagen. Ich werde Sie abholen.«
»Hier?«
»Natürlich.«
»Auf demselben Wege?«
»Ja.«
»Schön! Darf ich mir diesen Weg unterdessen einmal näher betrachten, Herr Capitän?«
Der Gefragte zog die Augenbrauen in die Höhe, machte ein sehr eigenthümliches Gesicht und fragte:
»Sie meinen den Eingang, durch welchen ich gekommen bin?«
»Ja:«
»Es wird besser sein, Sie warten, bis ich Ihnen diese Geheimnisse selbst enthülle.«
»Schön! Ganz wie Sie wollen.«
Dabei hatte er aber doch im Stillen den Vorsatz, nach der Entfernung des Alten nachzuforschen. Dieser Letztere gab ihm die Hand und sagte:
»So mag es also für heute genug sein. Oder haben Sie vielleicht noch eine Frage auszusprechen?«
»Ich wüßte nicht.«
»Und mir fällt auch nichts ein, was ich vergessen hätte. Sagen wir uns also eine gute Nacht!«
»Gute Nacht! Der Capitän schob das Getäfel zur Seite und trat durch das Loch. Draußen schob er das Erstere wieder vor und lauschte.
»Er ist neugierig?« flüsterte er lächelnd in sich hinein. »Er wartet nicht, sondern er wird die Sache untersuchen wollen. Aber, mein Bursche, das wird Dir nicht gelingen!«
Da wo das Holzwerk an die Mauer stieß, gab es zu beiden Seiten einen Riegel. Der Alte schob ganz leise beide vor und nickte dann:
»So! Jetzt mag er sich Mühe geben!«
Er stieg langsam die schmalen Stufen hinab.
Er hatte ganz richtig vermuthet, denn drinnen in der Schlafstube lauschte Rallion, indem er das Ohr hart an das Getäfel hielt.
»Jetzt geht er!« dachte er. »Wer hätte geahnt, daß hier ein heimlicher Eingang sei! Dieses Schloß ist wirklich ein ganz und gar geheimnißvolles Nest. Der, welcher es gebaut hat, ist kein dummer Kerl gewesen.«
Er legte die nothwendigsten Kleidungsstücke an und trat dann an die geheime Thür.
»Nach links hat er das Holzfach geschoben; ich habe es deutlich gesehen,« sagte er zu sich. »Wollen einmal sehen, ob wir es ebenso bringen!«
Aber er konnte machen, was er wollte, es gelang ihm nicht die Thür aufzubringen.
»Ein schlauer Patron!« brummte er verdrießlich. »Es giebt jedenfalls draußen einen Verschluß. Na, morgen wird es ja Gelegenheit geben, das Ding zu untersuchen!« –
Müller war, als der Alte oben vorhin verschwunden war, ihm leise, ganz leise nachgestiegen. Er mußte sich sagen, daß er ein Wagniß unternehme.
»Wegen Marion!« dachte er. »Wegen ihr geht er zu Rallion! Da muß ich unbedingt hören, was es giebt!«
Er stieg also die Stufen empor; die Laterne hatte er in die Tasche gesteckt. Oben angekommen, erblickte er vor sich einen helleren Schein. Vorher aber fühlte er, daß die Stufen noch weiter in die Höhe führten.
»Da geht es nach der zweiten Etage,« dachte er. »Das giebt eine günstige Rückzugslinie, falls eine rasche Flucht nöthig sein sollte. Werde mir das merken!«
Er schlich näher und erreichte die von dem Capitän nicht wieder verschlossene Oeffnung. Er horchte. Er hörte sprechen. Er erkannte Richemonte's und Rallion's Stimme. Soeben sagte der Erstere:
»Vielleicht ist sie für Sie ungewöhnlich; für mich ist sie es aber nicht! Es handelt sich nämlich um Marion.«
Müller kauerte sich nieder, um das Ohr ganz an die Oeffnung zu bringen, und verstand nun jedes Wort, welches die beiden Männer sprachen. Er erfuhr also den gegen Marion geplanten Anschlag. Er hätte hinein springen mögen, um ihnen die Fäuste an die Köpfe zu schlagen, mußte aber seinen Abscheu niederkämpfen, um kein von ihnen gesprochenes Wort zu verlieren.
So hörte er auch den Anschlag, daß Rallion zu Marion eingeschlossen werden solle. Das war für sein ehrliches Gewissen doch zu viel. Seine Hand, mit welcher er die Laterne in der Tasche hielt, zuckte unwillkürlich. Das Licht in der Laterne brannte. Er kam der Blechhaube zu nahe und brannte sich. Augenblicklich entfuhr ihm jener nicht ganz zu unterdrückender Schmerzenslaut, welcher gerade so klingt, wie wenn man die Luft in den Mund zieht, indem man die oberen Zähne fest auf die untere Lippe drückt. Es klingt das wie ein scharfes F.
Das war es, was die Beiden drinnen gehört hatten. Müller vernahm die Worte:
»Ah! Hörten Sie Etwas?«
»Hm! Es war wie ein Seufzer!« antwortete Rallion.
Jetzt war ein schleuniger Rückzug nothwendig.
So eilig, wie es nur möglich war, ohne laut zu werden, suchte Müller die Treppe auf; aber anstatt dieselbe hinab zu steigen, floh er nach dem oberen Stockwerke empor – und das war sein Glück. Denn kaum hatte er sechs oder acht Stufen hinter sich, so kam der Alte und leuchtete erst hinab, ging aber dann auch hinunter, um unten umher zu leuchten. Das gab Müller Zeit, vollends empor zu kommen und droben seine Laterne hervor zu ziehen, um zu recognosciren.
Er sah, daß er nicht weiter konnte. Die Stufen hatten hier ein Ende.
»Gut!« dachte er, die Laterne wieder in die Tasche steckend. »Nun gilt es! Nun ist Alles egal! Kommt der Capitän auch nach hier oben, so sieht er mich, und dann werden wir mit einander zu rechnen haben.«
Er zog seinen Revolver hervor, bemerkte aber bald zu seiner Beruhigung, daß er die Waffe nicht brauchen werde, denn der Alte kehrte zurück und begab sich zu Rallion, ohne daran zu denken, seine Untersuchung nach oben fortzusetzen.
»Gott sei Dank!« dachte Müller, indem er einen Seufzer der Erleichterung ausstieß. »Ich will die Gefahr nicht geradezu bei den Hörnern packen. Ich habe genug gehört. Wolle nur Gott, daß mir noch Zeit genug bleibt, Marion zu warnen! Er schlich sich die beiden Treppen hinab bis in den Gang, welcher nach dem Gartenhäuschen führte. Dort blieb er stehen und zog die Laterne wieder hervor. Von dort aus führten ja die verschiedenen heimlichen Treppen nach allen Seiten des Gebäudes empor.
»Bei Marion giebt es also auch einen solchen Eingang!« flüsterte er. »Das ist aus den Worten des Alten zu entnehmen. Durch den Garten nach meiner Stube zurückkehren und dann zu Marion gehen, um sie zu wecken und zu warnen, das wäre zu auffällig und zu zeitraubend. Bis dahin wären diese beiden Menschen längst bei ihr. Ich bin gezwungen, die geheime Thür zu benutzen. Aber wie sie finden?«
Er leuchtete umher und dachte nach.
»Hier diese vierte Treppe muß die richtige sein!« dachte er. »Sie führt nach der Richtung, in welcher Marions Wohnung liegt. Ich werde es versuchen.«
Mit Hilfe der Laterne gelang es ihm, rasch vorwärts zu kommen. Er hatte den weiteren Verlauf des Gespräches nicht abwarten können und glaubte in Folge dessen, daß Marion bereits heute, in dieser Nacht heimlich eingesperrt werden solle.
Im ersten Stockwerke angekommen, bemerkte er ein ganz eben solches Loch, wie dasjenige war, welches zu Rallions Schlafzimmer führte. Auch hier gab es zwei Riegel; aber sie waren nicht vor- sondern zurückgeschoben. Er steckte die Laterne in die Tasche und horchte.
Drinnen regte sich nicht das Mindeste. Er schob das Fachwerk langsam auf. Es ließ sich bewegen, ohne daß das geringste Geräusch verursacht wurde. Er steckte den Kopf in die Oeffnung und bemerkte, daß er sich vor einem ganz dunklen Raume befand. Er trat in gebückter Haltung ein, zog die Laterne hervor, öffnete sie ein Lückchen und leuchtete vorsichtig umher.
»Gott sei Dank!« flüsterte er befriedigt. »Marions Wohnzimmer! Ich habe es getroffen. Nebenan schläft sie!«
Er schob das Getäfel wieder zu und fühlte sein Herz erleichtert. Nun er sich bei der Baronesse befand, konnte dieser Nichts geschehen. Jetzt öffnete er die Laterne vollständig und blickte sich um. Sein Auge fiel auf einen seidenen Sonnenschirm, welcher an der Toilette hing.
»Das paßt!« dachte er. »Sie werden ihr Kommen verrathen.«
Er nahm den Schirm und lehnte denselben so gegen das Tafelwerk, daß er umfallen mußte, wenn dasselbe geöffnet werden sollte. Dadurch entstand ein Geräusch, welches die Ankunft der Beiden verkündigen mußte.
»Jetzt nun zu ihr!«
Mit diesen Gedanken näherte er sich dem Eingange zum Schlafzimmer. Dieses war vom Wohnzimmer nur durch Portieren getrennt. Die Thür hatte man für die warme Sommerszeit ausgehoben. Bereits stand er an der Portiere, da kam ihm ein Gedanke:
»O weh! Ich habe doch den Buckel abgeschnallt! So wie ich jetzt bin, darf sie mich ja gar nicht sehen!«
Er blickte sich um. Auf einem Stuhle lag Etwas, irgend ein Wäsche- oder Kleidungsstück. Er untersuchte gar nicht erst, was es war, sondern stopfte es sich unter die Weste am Rücken empor. Dann schlug er die Portieren auseinander und trat leise ein.
Da lag sie, die Heißgeliebte, die Angebetete, im Schlafe!
Ihr Köpfchen stak in einem Spitzenhäubchen, unter welchem sich zwei lange, volle, dunkle Haarflechten hervorgedrängt hatten. Sie athmete ruhig. Die Wangen waren leicht geröthet. Die seidene Schleife des Schlafnegligés war aufgegangen – er wendete den Blick ab, um dieses Heiligthum einer schönen, reinen Jungfräulichkeit nicht zu entweihen, trat aber doch an das Bette heran. Indem er sich nach der anderen Seite drehte, faßte er die seidene Steppdecke, um leise zu zupfen.
»Baronesse!«
Sie regte sich nicht.
»Gnädiges Fräulein!«
Auch das hatte keinen Erfolg.
»Fräulein! Marion!«
Er zupfte stärker. Da bewegte sie sich. Er wendete unwillkürlich, ganz gegen seinen Willen, den Blick zu ihr. Ein schöner, voller Arm hatte sich unverhüllt unter der Decke hervorgeschoben, wie von der Hand eines Meisters aus dem reinsten, glänzendsten Alabaster geformt. Es war ihm, als müsse er sich niederbeugen, um seine Lippen auf diesen Arm zu drücken.
»Sie hört es nicht!« dachte er. »Wie wird sie erschrecken! Aber wenn ich das Licht entferne, erschrickt sie noch mehr!«
Er näherte sich ihrem Kopfe, ergriff die Decke und zog sie leise, leise über Arm und Busen der Schläferin hinweg. Und nun erst, da nur der Kopf zu sehen war, bog er seinen Mund zu ihrem Ohre nieder und flüsterte:
»Baronesse Marion!«
Da schlug sie langsam die Augen auf, hielt sie einen Moment lang auf ihn gerichtet und schloß sie dann wieder. Er bemerkte keine Spur von Schreck, im Gegentheil, es glitt ein leises, glückliches Lächeln über ihr schönes Angesicht.
Dachte sie etwa, daß sie nur träume? Jedenfalls.
»Gnädiges Fräulein. Bitte, wachen Sie auf.«
Da, erst jetzt zuckte sie zusammen. Ihre Lider öffneten sich – ein großer, erschrockener Blick, der sich voll auf ihn richtete, aber kein Schrei, kein einziger Laut, dann zog sie die Decke bis über das Kinn herauf. Sie war vollständig erwacht und hatte ihn erkannt.
»Verzeihung, Baronesse,« flüsterte er ihr hastig zu. »Sie befinden sich in einer großen, fürchterlichen Gefahr, und ich mußte kommen, Sie zu warnen.«
»Monsieur Müller!« stieß sie hervor, aber nicht laut, sondern ebenso leise, wie er gesprochen hatte.
»Ja, ich bin es! Bitte, verzeihen Sie!«
»Gott! Ich begreife nicht! Gehen Sie!«
»Nein, nein! Ich muß bleiben! Es geht nicht anders! Man will sich an Ihnen vergreifen!«
Erst jetzt schien sie die Situation erfaßt zu haben.
»Bitte, das Licht weg!« bat sie hastig.
Er schloß die Laterne und steckte sie in die Tasche.
»Jetzt setzen Sie einen Stuhl nahe, und sprechen Sie!« gebot sie.
Er zog den Sessel ganz an das Bett heran, um so leise wie möglich sprechen zu können, setzte sich nieder und sagte:
»Gott sei Dank, daß es mir gelungen ist, noch zur rechten Zeit zu kommen! Man will Sie gefangen nehmen!«
»Gefangen? Wer?«
»Der Capitän und Rallion!«
»Weshalb?«
»Um Sie zu zwingen, dem Letzteren Ihr Jawort zu geben!«
»Wer sagt es?«
»Ich habe sie belauscht.«
»Mein Gott! Sich meiner bemächtigen! Etwa heimlich?«
»Ja.«
»Ah! Sie können nicht herein! Die Thür ist verriegelt.«
»Bin ich nicht auch herein gekommen?«
»Ah! Ja! Monsieur Müller, wie ist Ihnen das gelungen?«
»Ihr Zimmer hat einen heimlichen Eingang.«
»Das ist doch nicht möglich!«
»Meine Gegenwart beweist das zur Genüge. Wie hätte ich Zutritt finden können, da die Thür verschlossen ist!«
»Das ist wahr! Welch ein Ort! Welch eine Wohnung! Aber, wann will man mich gefangen nehmen?«
»In dieser Nacht noch, baldigst, jetzt! Vielleicht sind sie bereits so nahe, daß sie uns hören würden, wenn wir ein Wenig lauter sprächen.«
»Mein Heiland! Was werde ich thun!«
»Nichts! Bitte, bleiben Sie liegen! Ich bin hier, Sie zu beschützen!«
»Ah, nun ich gewarnt bin, fürchte ich sie nicht. Haben Sie vielleicht Waffen bei sich?«
»Ja, einen Revolver.«
»Gut! Aber was werden sie sagen, wenn sie Sie bei mir finden, Monsieur Müller?«
»Nichts, gar nichts! Sie können nur sagen, daß ich gekommen bin, Sie zu warnen.«
»O nein, nein! Sie werden – – –«
Sie stockte. Wäre es hell gewesen, so hätte er die glühende Röthe bemerkt, welche ihr Gesicht bedeckte. Doch errieth er, was sie sagen wollte. Darum fiel er rasch ein:
»Nein, gnädiges Fräulein! Ich werde ihnen beweisen, daß ich erst seit zwei Augenblicken hier bin. Ich werde ihnen beweisen, daß ich nicht durch die Thür, sondern durch den geheimen Gang hierher kam. Ich werde ihnen beweisen, daß ich sie belauscht habe, also auch nur in der Absicht, Sie zu warnen, hier sein kann.«
Das schien sie zu beruhigen.
»Sie können das beweisen?« fragte sie.
»Ja.«
»Gut! Das ist genug! Wo ist der geheime Eingang?«
»Im Wohnzimmer, zwischen dem Kamine und dem Divan.«
»Ich danke! Bitte, rücken Sie ein Wenig fort!«
Er gehorchte und hörte dann, daß sie sich erhob, um das Bett zu verlassen. Er vernahm ihre leisen Schritte und das Rauschen und Knittern von Zeug und Falten. Dann stand sie wieder in seiner Nähe.
»Sie wollen mich überraschen, diese beiden Menschen,« flüsterte sie; »aber sie selbst werden es sein, welche überrascht werden. Daher darf ich kein Licht anbrennen. Aber, sah ich nicht vorhin eine Blendlaterne in Ihrer Hand?«
»Ja.«
»Sie können dieselbe augenblicklich öffnen, so daß es hier im Zimmer hell wird?«
»Sofort.«
»Das ist gut. Bleiben wir aber jetzt im Dunkeln. Zu wünschen wäre nur, daß wir es bemerkten, wenn sie durch den Eingang kommen!«
»Wir werden es hören. Ich habe Ihren Sonnenschirm so gelegt, daß sie ihn umwerfen müssen. Das werden wir auf alle Falle hören, gnädiges Fräulein.«
»So bin ich befriedigt. Ich weiß nun Alles, was für den ersten Augenblick nothwendig war, und wir können nun in Ruhe weiter sprechen. Bitte, kommen Sie mit herüber auf das Sopha.«
Er folgte ihr. Das Sopha war klein, nur für kaum zwei Personen bestimmt. Er drückte sich bescheiden ganz in die Ecke, um sie ja nicht zu berühren; da aber sagte sie:
»Wollen Sie nicht näher rücken, Monsieur Müller? Wir dürfen ja nur äußerst leise sprechen, und das ist nicht möglich, wenn Sie sich so sehr entfernen.«
Er gehorchte, so weit es die Bescheidenheit ihm erlaubte.
»Noch näher!«
Er fühlte ihre Hand, welche nach der seinigen suchte. Sie bog sich ganz zu ihm hinan und sagte:
»Noch näher! In einer Lage, wie die gegenwärtige ist, darf man nicht auf die schroffen Regeln der Dehors achten. So, jetzt sitzen wir nahe genug und können unser Flüstern gegenseitig verstehen!«
Die Berührung ihres warmen weichen Händchens durchzuckte ihn electrisch. Er fühlte, während sie, mit dem Kopfe zu ihm geneigt, redete, den Hauch ihres Mundes. Welch' ein Vertrauen! Sie wußte, daß er sie liebte; er hatte es ihr ja gestanden; und dennoch bat sie ihn, so nahe bei ihr zu sein! Er fühlte sich glücklich wie noch nie in seinem Leben.
Sie hatte ihre Hand wieder von der seinigen genommen. Jetzt erkundigte sie sich:
»Und nun, bitte, wie sind Sie hinter das Geheimniß gekommen, Monsieur Müller?«
»Ich habe sie belauscht.«
»Das sagten Sie bereits. Aber wo?«
»Im Zimmer Rallions.«
»Wie kamen Sie dorthin?«
Er zögerte einige Augenblicke. Darum fragte sie:
»Ist das Geheimniß?«
»Ich kann das nicht leugnen. Es ist sogar ein höchst wichtiges Geheimniß.«
»Welches Sie mir nicht mittheilen können?«
Obgleich sie nur ganz leise sprach, klang es doch wie ein Vorwurf von ihren Lippen.
»Ich wollte, ich dürfte Ihnen Alles, Alles mittheilen!« antwortete er.
»Sie dürfen also nicht?«
»Nein.«
»Und dennoch müssen Sie sich sagen, daß ich Ihnen in diesem Augenblicke ein Vertrauen entgegenbringe, wie es größer wohl kaum gedacht werden kann!«
»Baronesse, ich gestehe, daß ich mich tief beschämt fühle! Aber meine Geheimnisse sind nicht mein ausschließliches Eigenthum!«
»Das ist allerdings ein Grund. Also sagen Sie mir wenigstens so viel, wie Sie sagen dürfen!«
»Ich will das Höchste thun, was ich darf, indem ich Ihnen erkläre, daß ich nicht nur in der Absicht, Ihren Bruder zu unterrichten, nach Schloß Ortry kam.«
»Das ist mir allerdings eine große Ueberraschung. Sie verfolgen also noch andere Absichten?«
»Nur eine einzige noch: die Beobachtung des Capitäns.«
»Ah! Sie kamen, ihn zu beobachten! Das läßt mich vermuthen, daß Sie eigentlich nicht Erzieher sind, sondern etwas Anderes.«
Diese Wendung war ihm höchst unangenehm. Er beschloß, lieber eine Unwahrheit zu sagen, als sich in eine schiefe Lage zu bringen. Darum fragte er:
»Was sollte ich da wohl sein?«
»Polizist vielleicht,« antwortete sie zögernd.
»Nein, Polizist bin ich nicht, gnädiges Fräulein. Ich bin wirklich Der, als den Sie mich kennen. Aber ich habe einen Freund, welcher, als er von meinem Engagement erfuhr, mich bat, mich nach gewissen Verhältnissen zu erkundigen.«
»Darf ich diese Verhältnisse kennen lernen?«
»Sie beziehen sich auf eine Familie, über welche der Capitän einst sehr großes Unglück gebracht hat. Diese Familie leidet jetzt noch darunter, und mein Auftrag geht dahin, zu erfahren, ob nicht eine Aenderung, eine Besserung möglich ist.«
»Dann sehe ich allerdings ein, daß Sie nicht alleiniger Besitzer Ihres Geheimnisses sind. Sie müssen discret sein, und ich darf nicht in Sie dringen.«
»Ich danke aus vollstem Herzen, gnädiges Fräulein! Muß ich nun aber befürchten, daß Ihr Vertrauen, welches mich so sehr beglückte, erschüttert worden ist?«
»Nein. Ich vertraue Ihnen, wie ich Ihnen bisher vertraute. Hier, meine Hand darauf!«
Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. Er führte dieselbe an seine Lippen und küßte sie. Dann fuhr er fort:
»Der Capitän ist ein gefährlicher Mann. Ich merkte, daß er Böses sann gegen eine Person, für welche ich mich interessiren muß; daher beobachtete ich jeden seiner Schritte. So kam ich zu der Kenntniß, daß es hier im Schlosse geheime Treppen und Thüren giebt.«
»Davon habe ich keine Ahnung gehabt!«
»Ich ahnte es gleich in der ersten Stunde meines Hierseins. Und es dauerte nicht lange, so kannte ich diese Geheimnisse. Heut nun hatte ich Veranlassung, den Capitän auf einem seiner Schleichwege zu beobachten. Er ging zu Rallion.«
»Auch durch eine geheime Thür?«
»Ja.«
»So kennt auch Rallion diese Geheimnisse?«
»Zum Theile, ja.«
»Gott, so ist man hier ja bei Tag und Nacht von tausend Gefahren, welche man gar nicht kennt, umgeben!«
»Es giebt Augen, welche über Sie wachen!«
»Die Ihrigen! Ja, ich weiß das, und das beruhigt mich! Aber, darf ich vielleicht erfahren, wer die Person ist, für welche Sie sich so interessiren?«
»Master Deep-hill, der Amerikaner.«
»Dieser? Kennen Sie ihn?«
»Erst seit hier und jetzt.«
»Früher nicht?«
»Nein.«
»Aber wie können Sie ihm dann eine Theilnahme schenken, welche Sie sogar veranlaßt, den Capitän zu beobachten?«
»Ich habe erfahren, daß der Capitän den Amerikaner ermorden will.«
»Ermorden? Herr, mein Gott! Sprechen Sie im Ernste?«
»Gewiß. Wenn ich nicht war, so wäre Deep-hill bereits gestern eine Leiche gewesen.«
»Sie meinen das Eisenbahnunglück?«
»Ja.«
»Jesus! Ahne ich recht? Sie meinen doch nicht etwa, daß der Capitän dabei seine Hand im Spiele hat?«
»Leider ist es so. Ich gab Ihnen ja bereits einige Andeutungen. Der Capitän ist Ihr Verwandter; leider aber kann mich das nicht abhalten, Ihnen zu sagen, daß er der größte Schurke und Bösewicht ist, den es nur geben kann.«
»Ich habe Ihnen ja bereits gesagt, daß auch ich ihn fürchte und verabscheue. Ihre Aufrichtigkeit beleidigt mich also keineswegs! Darf ich erfahren, ob der Amerikaner ahnt, daß er von dem Capitän nichts Gutes zu erwarten hat?«
»Ich habe ihn gewarnt.«
»So haben Sie ihm ja mittheilen müssen, daß Sie den Letzteren heimlich beobachten!«
»Ich habe natürlich nicht offen mit ihm gesprochen, sondern ihm nur Andeutungen gegeben.«
»Die Anwesenheit dieses Monsieur Deep-hill ist mir überhaupt unverständlich. Ich habe nie von ihm gehört; ich habe nicht einmal seinen Namen gekannt. Was mag er hier in Ortry wollen?«
»Das kann ich Ihnen erklären. Man erwartet nämlich einen Krieg mit Deutschland – – –«
»Also wirklich? Ist es wahr, was man so sagen hört?«
»Ja. Frankreich, das heißt, Napoleon will den Krieg, und so wird also Krieg. Man will Freicorps bilden, Franctireurs. Der Capitän spielt dabei eine hervorragende Rolle. Nur weiß ich nicht, in wie weit dabei das Privatinteresse betheiligt sein kann oder darf; aber das weiß ich, daß man großer Summen bedarf, um diese Aufgabe zu lösen. Der Capitän ist zu diesem Zwecke mit dem Amerikaner in Verbindung getreten.«
»Dieser soll die Summen liefern?«
»Ja. Er hat sich dazu bereit erklärt. Er ist gekommen, um Zahlung zu leisten. Der Capitän war von seiner Ankunft unterrichtet; er kannte sogar den Zug, mit welchem er kommen sollte. Es handelt sich um Millionen. Natürlich beabsichtigt Deep-hill, ein Geschäft dabei zu machen. Er erwartet seiner Zeit das Capital nebst guten Zinsen zurück. Wie aber nun, wenn man ihm weder die Zinsen noch auch das Capital zurückzugeben brauchte?«
»Mein Gott! Sie meinen doch nicht etwa – – –!«
»Ich meine, daß es sehr vortheilhaft wäre, wenn man sich in den Besitz dieser Millionen setzen könnte, ohne einen Contract, oder sonst ein Document unterschreiben zu müssen.«
»Das könnte nur dann der Fall sein, wenn – –«
Sie zögerte, fortzufahren. Der Gedanke war ihr zu gräßlich, als daß sie ihn leicht hätte aussprechen können.
»Nun? Was wollten Sie sagen, gnädiges Fräulein?«
»Ich kann es nicht sagen. Es wäre fürchterlich!«
»Und doch ist es wahr. Man kannte, wie bereits gesagt, den Zug, in welchem sich der Amerikaner befand. Dieser Zug sollte zum Entgleisen gebracht werden.«
»Gott! Das ist ja auch geschehen.«
»Leider! Man hoffte, daß der Amerikaner dabei getödtet werde. In diesem Falle war es sehr leicht, der Leiche desselben die Brieftasche zu rauben.«
»Gott sei Dank, daß dies nicht gelungen ist!«
»Der Plan ging von dem Capitän aus. Drei seiner Leute, spätere Franctireurs, sollten ihn ausführen.«
»Wissen Sie das genau?«
»Ich habe zwei dieser Leute belauscht. Leider hörte ich nicht genug, um mir über ihre Absichten klar zu werden. Ich erfuhr nur, daß der Amerikaner beraubt und ermordet werden solle. Von einer Entgleisung aber ahnte ich nichts, bis das Unglück mir die Augen öffnete.«
»Schrecklich! Schrecklich! Sie werden natürlich den Capitän zur Anzeige bringen?«
»Würde Ihnen dies erwünscht sein?«
»Müssen Sie denn nicht?«
»Eigentlich, ja. Aber soll ich Ihre Familie – – –! Und ich habe außerdem noch andere Gründe, zu warten. Seiner Strafe aber wird er auf keinen Fall entgehen können.«
Sie schwieg. Was sie hörte, war so schrecklich, daß sie einer Zeit bedurfte, um es zu überwinden. Dann sagte sie:
»Aber Deep-hill befindet sich folglich hier in der allergrößten Gefahr!«
»Er ist gewarnt!«
»Der Capitän wird ihn tödten, um ihm das Geld abzunehmen!«
»Das ist nicht so schnell geschehen. Der Amerikaner hat die Summen nicht baar bei sich. Er beabsichtigte, sie in Anweisungen zu zahlen, welche noch nicht unterschrieben sind. Ohne seine Unterschrift haben sie keine Geltung, und so lange er nicht unterschreibt, befindet er sich also außer Gefahr.«
»Weiß er das?«
»Ich wiederhole, daß er gewarnt ist. Wenn er meine Warnung beachtet, kann ihm nichts geschehen. Also in dieser Angelegenheit war es, daß ich den Capitän nicht aus den Augen ließ. Ich bemerkte heute Abend, daß er von den unterirdischen Gängen Gebrauch machte, und folgte ihm.«
»In diese Gänge?«
»Ja.«
»Mein Gott! Dürfen Sie sich in solche Gefahr begeben?«
Er fühlte, daß sie ihre Hand auf seinen Arm legte. Diese Besorgniß erfüllte ihn mit glücklicher Genugthuung.
»Das Wagniß ist für mich nicht so groß, wie Sie vielleicht denken,« antwortete er.
»Aber, wenn er Sie bemerkt!«
»So bin ich ge- und auch bewaffnet. Ich fürchte ihn nicht! Also, indem ich ihm folgte, bemerkte ich, daß er zu Rallion ging. Ich belauschte einen Theil der Unterredung, welche er mit diesem hatte.«
»Diese Unterredung bezog sich auf mich?«
»Ja.«
»Was wurde gesprochen?«
»Der Capitän berichtete, daß Sie sich weigern, auf die beabsichtigte – – Verzeihung, gnädiges Fräulein! aber ich muß es doch erwähnen – – auf die beabsichtigte Verbindung mit Rallion einzugehen.«
»Ja, das thue ich allerdings! Man will mich an diesen Rallion ketten. Weshalb, das weiß ich nicht. Man will mich sogar zwingen. Aber ich werde widerstehen.«
»Man will diesen Widerstand brechen.«
»Dadurch, daß man mich meiner Freiheit beraubt?«
»Ja. Man will sich hier bei Ihnen, während Sie schlafen, einschleichen und Sie mit Chloroform betäuben.«
»Schrecklich!« sagte sie, sich leise schüttelnd.
»Dann können Sie nicht sprechen, nicht um Hilfe rufen, sich nicht wehren. In diesem Zustande bringt man Sie in das Gefängniß.«
»Kennen Sie diesen Ort?«
»Ich vermuthe es.«
»Und ich sage Ihnen, daß sie ihren Zweck doch nicht erreichen würden. Ich gehe auf ihre Absichten auf keinen Fall ein!«
»Man läßt Sie hungern und dürsten!«
»So verhungere ich.«
»Davon wurde allerdings gesprochen. Aber für diesen Fall beriethen sie ein Mittel, welches – – –«
Er hielt ein. Sie fragte:
»Welches Mittel?«
»Es ist nicht nur eine Gottlosigkeit, sondern noch schlimmer. Ich sehe mich gezwungen, Ihnen auch das noch mitzutheilen. Im Falle selbst Hunger und Durst ohne Erfolg sein sollten, wollte der Capitän seinen Complicen Rallion bei Ihnen einschließen.«
Es entstand eine Pause. Sie schwieg; sie antwortete nicht. Er hörte einen tiefen, tiefen Seufzer, und erst nach einer längeren Zeit flüsterte sie:
»Wer hätte das glauben können! Wie schrecklich! Kann es wirklich Menschen geben, welche solcher Infamheiten fähig sind! Monsieur Müller, welchen Dank, welchen großen Dank bin ich Ihnen schuldig!«
Sie suchte im Dunkel seine Hand und druckte dieselbe herzlich. Er hätte am liebsten seinen Arm um sie schlingen mögen; doch beherrschte er sich und sagte einfach:
»Hier ist der Dank bereits in der That enthalten, gnädiges Fräulein. Ich bin ganz glücklich, Ihnen dienen zu dürfen!«
»Aber welche Dienste leisten Sie mir, welche großen, großen Dienste! Mein Gott, wie fürchterlich, wie entsetzlich, wenn es diesen beiden Menschen gelungen wäre, ihre Absicht auszuführen! Aber man mußte doch bemerken, daß ich verschwunden bin.«
»Der Capitän wollte sagen, Sie seien verreist.«
»Ah, wie raffinirt! Ja, er ist zu Allem fähig! Und Sie meinen, daß sie jetzt kommen werden?«
»Ja. Was ich hörte, läßt mich dies vermuthen.«
»So mögen sie kommen! Horch! Hörten Sie Etwas?«
»Nein.«
»Es war wie ein Geräusch im Wohnzimmer.«
Sie lauschten, doch ließ sich nichts hören.
»Es ist Nichts gewesen,« flüsterte er. »Sie können nicht in das Zimmer, ohne den Schirm umzuwerfen.«
»Wie werden sie erschrecken, mich gerüstet zu finden! Aber, Monsieur, Sie müssen sich zeigen, und dann wird es um Ihre Stellung geschehen sein!«
»Das befürchte ich nicht. Gerade der Umstand, daß ich Mitwisser seiner Geheimnisse bin, giebt den Capitän in meine Hand.«
»Aber er wird Sie zu entfernen suchen.«
»Das gelingt ihm nicht. Ich gehe nur dann, wenn ich selbst will.«
»Dann befinden Sie sich aber in steter Gefahr!«
»Ich fürchte dieselbe nicht. Ich habe meine Vorkehrungen getroffen. Der Alte wird sich hüten, mir nach dem Leben zu trachten.«
»Sind Sie dessen sicher?«
»Ja. Ich wollte nicht davon sprechen; aber um Sie in Beziehung auf mich zu beruhigen, will ich Ihnen sagen, daß der Capitän den Fabrikdirector erschossen hat.«
»Herrgott! Ist es wahr?«
»Ja!«
»Das ist ja unmöglich! Der Director war Selbstmörder!«
»O nein. Ich bin Zeuge. Ich war dabei.«
»O Himmel! Es ist zu viel, zu viel, was ich heute erfahre! Fast möchte ich denken, daß ich träume! Erzählen Sie!«
Er berichtete ihr den Mord, so weit er es für nöthig fand. Sie war tief ergriffen; sie schauderte.
»Es ist eine Hölle, in der ich mich befinde!« sagte sie. »Und Sie machten nicht Anzeige?«
»Der Todte wäre dadurch nicht wieder lebendig geworden.«
»Aber der Mörder hätte seine Strafe gefunden!«
»Er findet sie sicher. Ich habe Gründe, noch nicht offen gegen ihn aufzutreten.«
»Er weiß also, daß Sie Mitwisser des Mordes sind?«
»Ja.«
»Das bringt Sie aber doch erst recht in Gefahr!«
»Nein. Ich habe seine Unterschrift. Geschieht mir hier Etwas, so wird diese Unterschrift präsentirt, und er ist verloren. Das weiß er, und darum wird er sich hüten, irgend Etwas gegen mich zu unternehmen.«
»Aber es giebt heimliche Gifte!«
»Ich bin vorsichtig!«
»Er kann sich Ihrer Person bemächtigen und Sie ebenso einsperren, wie er es mit mir zu thun beabsichtigt!«
»Das ist allerdings wahr; aber ich bin auf meiner Hut und werde, so weit dies noch nicht geschehen ist, meine Vorkehrungen treffen, um selbst für den Fall, daß es ihm gelänge, mich einzusperren, meine Freiheit sofort wieder zu erlangen!«
»Wie wollen Sie das anfangen?«
»Es giebt Einen, welcher mich befreien würde.«
»Wirklich? Dieser Eine müßte auch wissen, wo sich Ihr Gefängniß befindet!«
»Allerdings.«
»Müßte also auch die unterirdischen Gänge und Gewölbe kennen.«
»Das ist der Fall.«
»Wie? Sie haben einen Vertrauten?«
»Ja. Wünschen Sie zu wissen, wer er ist?«
»Ja, freilich! Kennen ich ihn?«
»Sie kennen ihn. Es ist Doctor Bertrands Pflanzensammler.«
Marion war außerordentlich überrascht.
»Dieser! Ah, dieser!« sagte sie. »Der, welcher meine Nanon aus dem Wasser gerettet hat!«
»Derselbe.«
»So sind Sie mit ihm bekannt?«
»Gewiß. Wir waren ja zusammen auf dem Schiffe. Ich traf ihn dann hier im Walde, und ihm habe ich es zu verdanken, daß ich in die Geheimnisse des Capitäns eingedrungen bin.«
»Wunderbar, wunderbar!«
»Sollte ich ja verschwinden, so würde er Alles aufbieten, um mich zu retten.«
»So können Sie ihm vertrauen?«
»Ich kann mich vollständig auf ihn verlassen.«
»Eigenthümlich! Auch Nanon hat ihn im Walde getroffen; auch sie scheint ein ungewöhnliches Vertrauen in ihn zu setzen. Wissen Sie, wo er sich jetzt befindet?«
»Ja.«
»O, Sie können das wohl schwerlich wissen!«
Wäre es hell gewesen, so hätte sie ihn lächeln sehen. Er sagte:
»Er ist mit Nanon nach Schloß Malineau.«
»Wahrhaftig, Sie wissen es!«
»Er selbst hat es mir mitgetheilt.«
»So sind Sie allerdings mehr als nur bekannt mit ihm!«
»Wir sind geradezu Verbündete. Ich sagte Ihnen bereits, daß ich das Grab Ihrer Mutter geöffnet habe. Er war dabei.«
»Dieser Monsieur Schneeberg?«
»Ja. Er hat dann auch Ihre Mutter gesehen.«
»Wirklich? Ah! Wann?«
»Sie erschien uns, um uns zu drohen.«
»Es war ihr Geist!«
»Nein. Gnädiges Fräulein, ich wiederhole Ihnen, daß ich fest überzeugt bin, daß Ihre Mutter noch am Leben ist.«
»Sie meinen, daß sie da unten eingesperrt wurde?«
»Ja.«
»Schrecklich! Entsetzlich! Aber wir sahen sie im Thurme. Sie sahen sie dann wieder. Sie hätte da ja Gelegenheit gehabt, ihre Freiheit wieder zu erlangen.«
»Hm! Ich vermuthe, daß sie nicht frei sein will.«
»Nicht will? Das ist ja gar nicht denkbar!«
»Ich vermuthe sogar, daß sie ganz freiwillig in die Gefangenschaft gegangen ist.«
»Das kann doch nicht möglich sein!«
»O doch! Es giebt Mittel, ein solches Wesen zu zwingen, der Welt und Allem zu entsagen.«
»Ich kenne kein solches Mittel!«
»Es giebt welche, zum Beispiel die Mutterliebe.«
»Wieso?«
»Es wird der Mutter gesagt, daß ihr Kind getödtet werden soll, daß sie es nur dadurch retten kann, daß sie selbst in den scheinbaren Tod geht.«
»Das wäre schrecklich! Aber warum nicht in den wirklichen Tod? Warum läßt man sie leben?«
»Es muß doch Gründe geben, wenn es mir auch jetzt noch unmöglich ist, mir darüber klar zu werden.«
»Monsieur Müller, je länger ich Sie höre, desto mehr muß ich mir denken, daß Sie Recht haben können. Aber der Gedanke, daß meine Mutter noch lebt, ist so ungeheuerlich, daß es mir doch beinahe unmöglich wird, ihn zu fassen.«
»Mir ist es nicht nur ein Gedanke, sondern geradezu Gewißheit.«
»Dann wäre der Capitän geradezu ein Teufel!«
»Das ist er. Ich habe zum Beispiel die Ahnung, daß da unten Gefangene stecken, welche bereits lange, lange Jahre das Licht der Sonne nicht mehr gesehen haben.«
»Fürchterlich! Aber, Monsieur, wenn es wahr ist, daß meine Mutter noch lebt, so ist es meine heiligste Pflicht, sie aus den Banden zu befreien, in denen sie schmachtet!«
»Ich habe mir bereits diese Aufgabe gestellt.«
»Ich danke Ihnen! Sie sind ein ungewöhnlicher, außerordentlicher Mann. Glauben Sie, Erfolg zu haben?«
»Ich hoffe es.«
»Und dennoch darf ich diese Aufgabe nicht allein in Ihren Händen lassen. Wollen Sie mir erlauben, mit zu wirken?«
»O, gern!«
»Nun gut, seien wir Verbündete und Vertraute! Hier ist meine Hand. Verschwören wir uns gegen den Capitän! Bitte, schlagen Sie ein!«
»Topp, gnädiges Fräulein! Ihre Hilfe wird mir jedenfalls von großem Vortheile sein.«
»Ich wünsche und hoffe es. Zunächst gilt es, zu erfahren, ob jene Erscheinung im alten Thurme ein Geist oder ein körperliches Wesen ist.«
»Ich bin bereits überzeugt, daß sie das Letztere ist.«
»Aber auch ich will diese Ueberzeugung haben!«
»Sie hätten sie bereits, wenn Sie mir nach jenem Gewitter erlaubt hätten, dem vermeintlichen Geiste nachzugehen.«
»Ja, ich habe diesen Fehler begangen; aber ich wußte da noch nicht, was ich jetzt weiß. Er muß gut gemacht werden. Aber, in welcher Weise soll das geschehen?«
»Es ist nur Eins möglich: Wir müssen diesen Geist aufsuchen.«
»Gewiß! Wir müssen in jene unterirdischen Gänge eindringen, und zwar baldigst.«
»Das wird geschehen, sobald der Pflanzensammler wieder zurückgekehrt ist.«
»Warum das?«
»Ich habe ihm versprochen, so lange zu warten.«
»Hätten Sie das doch nicht gethan! Nun ich einmal denken muß, daß meine Mutter noch lebt, möchte ich keinen einzigen Augenblick unnütz verschwinden lassen.«
»Ich muß Sie dennoch um Geduld bitten. Ich bedarf der Hilfe meines Verbündeten. Er ist stark und muthig. Ohne ihn darf ich es nicht wagen, in jene Gewölbe einzudringen. Es giebt da Gefahren, von denen man vorher keine Ahnung haben kann. Ein Einzelner kann verloren sein, während die Anwesenheit eines Zweiten ihn zu retten vermag.«
»Gut! Ich muß mich fügen, denn ich erkenne Ihre Gründe an. Aber, was veranlaßt denn eigentlich diesen Monsieur Schneeberg, sich für Schloß Ortry so zu interessiren, daß er sich selbst in solche Gefahren wagt?«
»Vielleicht die Freundschaft zu mir, vielleicht auch die Feindschaft gegen Rallion.«
»Gegen Rallion? Was hat er mit diesem?«
»Er hatte bereits ein Rencontre mit den beiden Grafen, in Folge dessen Beide verwundet wurden.«
»Verwundet? Geschah das nicht durch eine Sense?«
»Nein, es geschah durch Schneebergs Messer.«
»Wieder ein neues Geheimniß!«
»Ja, meine Gnädige, es giebt hier Geheimnisse ohne Ende; aber wir werden seiner Zeit die Räthsel alle lösen. Doch, es wundert mich, daß der Capitän noch nicht erschienen ist. Seit ich ihn belauschte, ist bereits über eine Stunde verflossen.«
»Vielleicht haben Sie sich getäuscht?«
»Schwerlich.«
»Man hat etwas ganz Anderes gemeint!«
»Nein, nein! Ich habe Wort für Wort verstanden. Es könnte höchstens der Fall sein, daß ich mich in der Zeit getäuscht hätte.«
»Wieso?«
»Daß man Sie erst morgen und nicht bereits heute überfallen will.«
»Meinen Sie? Dann also würden wir uns heute ohne allen Grund geängstigt haben.«
»Ich möchte allerdings nun annehmen, daß das Vorhaben auf morgen verschoben worden ist. Die beiden Männer müßten nun bereits da sein. Ich werde mich überzeugen.«
Er wollte sich erheben. Sie hielt ihn zurück und fragte:
»Wie wollen Sie dies anfangen?«
»Ich gehe nach dem Schlafzimmer Rallions.«
»Auf dem heimlichen Wege?«
»Ja.«
»Aber wenn sie Ihnen begegnen! Das ist doppelt gefährlich!«
»Nein. Sie würden Licht haben, welches ich von Weitem sehen müßte. Ich könnte mich also rechtzeitig zurückziehen. Also bitte, mir zu erlauben!«
»Sie kommen aber wieder zurück?«
»Jedenfalls.«
»Gut! Also gehen Sie – – oder, ah, ich bin nun doch Ihre Verbündete; darf ich mit?«
Er besann sich einen Augenblick und antwortete dann:
»Das ist gefährlich. Sie würden sich nicht so schnell zurückziehen können, wie es nöthig ist«
»Was schadet das? Ob wir sie hier empfangen, oder ob wir ihnen unterwegs entgegentreten, das bleibt sich gleich. Ich erbitte mir als ein Zeichen Ihres Vertrauens die Erlaubniß, Sie begleiten zu dürfen! Wollen Sie mir diese erste Bitte abschlagen?«
»Wenn Sie Ihrem Wunsche diese Form geben, so kann ich Ihnen die Erfüllung desselben allerdings nicht vorenthalten.«
»Ich danke! Also, machen wir uns auf den Weg!«
Sie erhob sich und er auch.
»Aber vorsichtig sein!« sagte er. »Wollen erst lauschen. Aber, gnädige Baronesse, ich werde von meiner Laterne Gebrauch machen müssen!«
»Thun Sie das! Mich incommodirt es nicht.«
»Begeben wir uns also in das Wohnzimmer.«
Er nahm die Laterne aus der Tasche, öffnete sie und leuchtete. Der Baronesse voranschreitend, trat er in das Wohnzimmer. Dort lehnte der Sonnenschirm noch an seiner Stelle.
»Hier ist der geheime Eingang,« sagte er, nach der Stelle zeigend und sich dabei rückwärts wendend.
Jetzt sah er Marion beim Scheine der Laterne. Wie schön, wie wunderbar schön war sie! Sie hatte vorhin im Dunkel ihr Morgennegligée angelegt. So hatte er sie noch nicht gesehen. Noch immer hatte sie das Häubchen auf, unter welchem sich das herrliche Haar gewaltig hervordrängte.
»Also hier dieses Täfelwerk!« sagte sie. »Wer hätte das geahnt! Wie öffnet man?«
»So!«
Er entfernte den Schirm und schob dann leise das Getäfel zur Seite. Sie bückte sich und griff nach der Laterne.
»Leuchten wir hinaus!« sagte sie.
»O bitte, nein!« entgegnete er. »Erst muß ich mich vergewissern, daß wir nicht überrascht werden.«
Er schloß die Laterne und kroch hinaus. Draußen lauschte er. Es war kein verdächtiger Laut zu hören. Er stieg im Finstern die Stufen hinab, immer weiter, bis er in den Hauptgang gelangte. Als er auch da nichts Verdächtiges bemerkte, war er überzeugt, daß er es wagen könne, Marion mitzunehmen. Er kehrte also zurück.
Sie war unterdessen unruhig geworden.
»Wie lange Sie sind!« sagte sie. »Ich begann bereits, sehr besorgt um Sie zu werden.«
»Ich wollte mich überzeugen, ob wir auf eine Begegnung gefaßt sein müssen.«
»Ist das der Fall?«
»Wenigstens jetzt noch nicht. Der Capitän ist entweder bei Rallion, oder er hat das Unternehmen für morgen festgesetzt und befindet sich bereits in seinem Zimmer.«
»Also gehen wir.«
Sie folgte ihm muthig hinaus auf den engen Gang. Sie begannen ihre Wanderung. Damit sie den Weg deutlich erkennen möge, ging er, ihr leuchtend, nach ihr. Er hatte sie vor Augen. Sie kam ihm vor, wie ein Wesen aus einer anderen Welt.
Sie gelangten hinunter in den Gang. Dort blieb er stehen, ließ das Licht der Laterne im Kreise gehen und sagte:
»Sie sehen diese Anzahl heimlicher Treppen! Die Wände dieses Hauses sind doppelt und zwischen ihnen führen Stufen nach allen Zimmern. Hier rechts, diese Treppe geht nach der Wohnung des Amerikaners, dieselbe, in welcher der Director ermordet wurde.«
»Da sind Sie damals hinaufgestiegen?«
»Ja.«
Ihr Auge glitt aus dem Dunkel in den Lichtkreis zurück. Sie schauderte zusammen.
»Ein Mord! Gott, ich fürchte mich.«
*