Johannes Richard zur Megede
Von zarter Hand
Johannes Richard zur Megede

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Zweites Kapitel.

Du hattest wohl schon Angst, mein liebes Tagebuch, daß du in einer Verlobung dein gottseliges Ende nehmen würdest? – Nein, keuscher Spiegel meiner Gefühle, das Herz ist noch ganz frei!

Ausgerechnet einen Tag mit den Le Forts zusammen gewesen. Dann wurde mir die Sache zu dumm. Graf Carén in der »Krone« – Mister Le Fort im »Hof Ragaz«: das ist eine Verschiebung der Standesbegriffe zu Gunsten der Hochfinance, die ich nicht länger als vierundzwanzig Stunden aushalten kann. Mögen mir diese anglisierten Deutsch-Franzosen gewogen bleiben!

Auf einmal reizte mich nämlich Monte Carlo. Himmel – Engländer – Schwindsüchtige: das ist's, was man die goldene Riviera nennt. Monte Carlo würde ich für ein Paradies halten, wenn ich gewonnen hätte. So nenne ich es kühn ein Halsabschneidernest. Rrrr . . . Rrrr . . . Jawohl, ich höre noch, wie du herunterschnurrst, du alte, häßliche Roulette. Hätte ich dich nie gesehen! Dann würde ich um sechshundert Mark reicher sein. Mein bares Vermögen beträgt jetzt dreitausend Mark, und wir haben Mai. Wenn sich das weiter so hübsch nach 33 unten abrundet, kenne ich einen, der am ersten Juni keinen Sou mehr hat.

Seit einer Woche befinden sich gräfliche Gnaden in Berlin, das sie mit dem Luxustrain über Frankfurt erreicht haben. Ich kann mich an die Schnellzugbummelei und die zweite Klasse nun einmal nicht gewöhnen. Dann will ich lieber gleich ganz unter den Schlitten: fahre vierte, nachdem man das Händewaschen verlernt hat, oder noch besser, die sagenhafte fünfte, wo man die Beine durchstecken kann und mitlaufen. Das ist Galgenhumor – aber er kommt mir erst beim Schreiben.

Die acht Tage, die mich der »Kaiserhof« beherbergte, waren eitel Frohsinn. Ich fühlte mich doch mal wieder Mensch, als ich am Potsdamer Bahnhof ausstieg. Man drückt das Monocle fester, näselt dem Taxameter zu: »Kaiserhof« – und gondelt, so recht blasiert in die rechte Droschkenecke gelümmelt, los. Die fünf Schritte bis zum Hotel ginge man doch beileibe nicht zu Fuß, obgleich's viel interessanter ist die Leipzigerstraße 'runter. Am Portal stürzt der Portier sofort höchstselbst an den Schlag: »Unterthänigster Diener, Herr Graf – das große Balkonzimmer ist gerade heute vormittag frei geworden. Befehlen der Herr Graf sofort ein Bad oder erst später?« – Der Mensch, an dem täglich trinkgeldgebend die bunteste Auswahl von Bête humaine vorüberflutet, kennt nach fast einem halben Jahre noch alle meine Eigentümlichkeiten ganz genau. Ich muß doch recht gedächtnisstärkende Trinkgelder gegeben haben. Gleichgültig. Angenehm ist's doch, wenn im Vestibül noch so ein Dutzend minderwertiger Menschen steht, die der Portier absolut nicht beachtet, solange er mit dem Herrn Grafen spricht, und die das auch ganz in der Ordnung finden. Es geht doch nichts über die Standesunterschiede! Das 34 Abendessen nehme ich auf dem Zimmer. Es kostet einige Märker mehr, und mir schmeckt's scheußlich, wenn ich mutterseelenallein ein ellenlanges Menü hinunterwürgen soll, – aber ein Graf Carén ißt eben nicht mit der Allgemeinheit, und wenn er dabei verhungern sollte.

Zu guter Letzt wurden der Herr Graf müde. Seine Kauwerkzeuge von der öden Beschäftigung wirklich, seine Vergnügungssucht jedoch keineswegs. Aber heute sind wir stark. Wir entlassen den Kellner mit einer leichten Bewegung der russischen Zigarette – lassen uns »Gute Nacht« wünschen. Denn wir wissen ganz genau, was so eine erste verbummelte Berliner Nacht im Rausche des Wiedersehens kosten würde; was vom Hundertmarkschein noch übrig bleibt, ist bestenfalls gerade noch für die Nachtdroschke – und wir müssen sparen.

Ich langweile mich noch ein bißchen im Zimmer 'rum, packe aus und freue mich über die beginnenden Symptome von Charakter. Dann geh' ich wirklich zu Bett.

*

Am andern Tage faßte mich urplötzlich der preußische Uniformtick. Lächerlich! – Der Diplomatenfrack ist doch neben jedem Gardeducorps noch exklusiver. Ich mache fürs Bezirkskommando Toilette. Beinkleidfalte tadellos – der Stegknopf muß etwas klappen, der gerade Stahlsporn kaum hörbar klirren. Die Mode wechselt da von heute bis morgen. Wie ich die Ulanka zuknöpfe, freue ich mich über die schlanke Taille. Die Tschapka wippt graziös auf einer Kopfecke. Trotz des Landwehrkreuzes am Gardestern nicht die Spur von Reserve oder Generalstab – beide haben immer etwas Eckiges –, sondern sechster Garde-Ulan vom Scheidel bis zur Sohle! Noch ein bewundernder Blick in den Spiegel, die linke 35 Schnurrbartecke etwas höher hinauf, die Säbelscheide etwas lodderiger angefaßt. Elektrischer Knopf – »Droschke« – stramm stehender Portier – Wagenfahrt in den äußersten Osten. Wenn dich alle Welt so hübsch findet, lieber Louis, wie du dich damals fandest, so bist du die männliche Krone der Schöpfung. In dem alten, verräucherten Bezirkskommando I das übliche Sporenklirren bei der Meldung, ein bürgerlicher Bezirksoffizier, der angesichts der Uniform und des Namens fünf Minuten nicht weiß, wer Vorgesetzter ist: er oder ich. Kurze Verbeugung. »Danke gehorsamst.« – »Bitte gehorsamst.« Wieder in den Taxameter geklettert. »Kutscher: Linden. Am Schlosse halten.« – »Jawohl, Herr Lieutenant!« Das hätte sich der gute Mann sparen können. Lieutenants giebt's viele, aber nur wenige sind auserwählt zu sechsten Garde-Ulanen und Grafen Carén. Warum ich, ausgerechnet, am Schlosse halten lasse, weiß ich nicht. Majestät haben weder eine Meldung noch einen Immediatvortrag befohlen.

Ach, Berlin ist doch entzückend! So die Linden 'runter zu schlendern – alle fünf Minuten reißt ein Infanterist das Gewehr von der Schulter und glotzt einen starr an. Kameraden vom bunten Rock kommen; man grüßt sich: Garde und bessere Kavallerie leicht, elegant, man weiß sich unter Standesgenossen, – Artillerie höflich, die Herren reiten ja noch – Linieninfanteristen, was nicht gerade Königsgrenadier ist, mit geradezu vernichtender Höflichkeit, das markiert am besten den Standesunterschied.

Ich ironisiere mich bei dieser Gelegenheit selbst. Uniform ist Oberfläche. Und ein zukünftiger Botschafter sollte tiefer gehen.

Aber ich bin ja à la suite, und man geht unter die Linden, um zu sehen und gesehen zu werden – 36 nicht um zu studieren. Mittags um zwölf Uhr, wenn die Maisonne auf der Quadriga des Brandenburger Thores blitzt, der Springbrunnen des Pariser Platzes den feinen silbernen Wasserstaub bis auf die Trottoirs sprüht und wohlerzogene, wohlgekleidete Menschen zu Wagen und zu Pferde unter den frischgrünen Bäumen sich drängen, da ist man eleganter Pflastertreter, kecker Flaneur, der jedem hübschen Kinde recht deutlich fragend ins Gesicht blickt: ›Talmi oder echt?‹ Talmi ist gewöhnlich pläsierlicher, denn dann geht man der Fee nach und orientiert sich, in welche von den Seitenstraßen sie einbiegt. Zum Moralisieren ist eben die Saison nicht. Alles ist Leben, Eleganz, hübsche Tünche – selbst der Frühlingswind, der angenehme Düfte bringt, frischen Blätterhauch, den er den Linden geraubt – feinen Wohlgeruch, den er hübschen Damen entlehnt, – und das kaum bemerkbare Parfüm von frischgewaschener und frischangezogener Menschheit.

Bei Jules Bister instruiert man sich, daß grünseidene Socken gerade das Neueste sind – natürlich kauft man: im Carnaval de Venise überzeugt man sich, daß französische Batisthemden, lappig und verknüllt, den Kavalier zieren, und daß man gut thut, mit einem langen Halse auf die Welt zu kommen, weil die himmelhohen Krawatten unsrer Großväter wieder Mode sind. Man tritt ein, wird begrüßt, beknickst, und wenn es gut geht, zahlt man das Doppelte als wo anders. Bei Schulte beäugt man die Bilder, versucht einer Lackschuhnixe unter den Rosasonnenschirm zu gucken. Gewöhnlich geht sie dann weg. Zuweilen aber schielt eine aus halbgeschlossenen, schönen, stahlharten, habsüchtigen Augen zurück – eine feingeschnittene Nase, ein gemeiner Mund: Theater oder Ballett – und die Brillanten im rosageschminkten Ohre nicht von der Hungergage 37 abgespart. Der Sporn klirrt, der Blick hinter dem Monocle wird glasiger. – Heintze rief mir wehmütige Gefühle wach. Das Glücksrad des Großkollekteurs mit seiner Unsumme Nieten so behaglich sich drehen zu sehen und zu denken: ›Wenn du nun ganz genau wüßtest, daß das Schicksal dir den großen Treffer bestimmt hat, müßtest du sofort ein Volllos der »Preußischen« nehmen.‹ Ich begnügte mich mit einem Stettiner Pferdelos. Der große Coup der Staatslotterie liegt in noch zu nebelhaften Fernen. Wo der Norddeutsche Lloyd die Bewegungen seiner unzähligen Dampfer mit so niedlichen Schiffchen auf einer Riesenkarte darstellt, wurde mir schwül. Zum Vergnügen mit gespickter Geldkatze nach Madeira oder Indien – sofort bereit! Aber glücksritternderweise nach Sansibar, Australien oder gar dem gelobten Lande der Freiheit und der Yankees, wo unsereiner Kellner wird oder Schuft . . . Ich sah schon im Geiste einen abgerissenen Mann – früher den besseren Ständen angehörig – mit einer Holzkiste und schief getretenen Absätzen die Leiter zum Zwischendeck hinunterklettern. Graf Carén, weder die schöne Uniform der sechsten Garde-Ulanen, noch die grünseidenen Strümpfe, noch die Krawatte deines Herrn Urgroßvaters schützen dich vor solcher Möglichkeit! Bei J. von Hövell wurde mir wieder wöhler. Soll ja auch niedergebrochener Kavallerist sein und verhehlte das Adelsprädikat aus seinem früheren Ladenschilde in der Friedrichstraße standhaft. Jetzt ist er der König der Berliner Confiseure mit einem Riesenschaufenster, das die köstlichsten Bonbonnieren zieren. Ob sie alle von der wahren Liebe für reizende Bräute und glückliche Frauen liebestrunken erworben werden, oder ob illegitime Gazeröckchen und etwas lichtscheue Verehrung die größere Rolle spielen? Ich habe mir früher manches Bijou hier 38 füllen lassen, auch die als Bonbonniere frisierte Tschapka meines Regiments. Für meine Tante war der süße Gruß nicht, und sonst besitze ich keine zärtlichen Verwandten. Ein jüdischer Banquier handelte damals neben mir; die hübsche Verkäuferin lächelte mir verstohlen zu – einen Trauring sah ich bei ihm nicht, auch nichts Aehnliches.

Natürlich, als ich mich so geistreich in Vermutungen erging, kam gerade ein Bekannter heraus, der thatsächlich verlobt ist. Zweiter Gardekürassier, früher mit starker Neigung, behufs Auswanderung verabschiedet zu werden. Wir begruben ihn seinerzeit schon in aller Freundschaft lebendig. Jetzt ist er von einem reichen Schwiegervater wieder aus der Patsche gerissen. Das Mädel soll hinken – und seine Liebe wohl auch.

»Carén, Sie hier – famos!« Ließ mich auch nicht los, schleppte mich zu Kranzler. Da haben wir auf der Veranda eine halbe Stunde über die lieben Nächsten geschändet. Es ist so nett, an der Ecke von Linden und Friedrichstraße die beiden besten Uniformen der Armee von allem Volke bewundern zu lassen. Die liebe Sonne meinte es gut, mit meinen Goldlitzen am Kragen besonders gut. Neben uns quollen förmlich die Menschen, die Droschken, die Fahrräder aus der engen Friedrichstraße. Das wogt und wimmelt und nimmt erst ein anständiges Tempo an, wenn's in die eleganten Linden einbiegt. An Moral denkt man bei dem Anblicke nicht viel. Das besorgen der reitende Schutzmann und sein Kollege vom Fußvolk, der natürlich wieder mit einem Notizbuche in der Hand notiert, wieviel Wagen hier in einer Stunde passierten, ohne sich anzufahren oder wegen einer Polizeiwidrigkeit festgestellt zu werden. An dem Marmortischchen neben mir sitzt ein reizendes, blondes Wesen mit 39 blauen Augen und teilt ihre Gefühle zwischen einem Sherry Cobbler und unsrer Uniform. Ja, so was zieht an wie der Rost das Eisen! Der vierschrötige katholische Kürassier hat mich trotz schwachen Widerstandes für das »Monopol« gepreßt. Einige Bekannte essen dort um fünf. »Selbstverständlich nicht in Uniform,« bemerkte er mit einem mißbilligenden Blick auf meine Reservemaskerade. Ich zieh' sie doch nicht aus heute, denn wie so was in Zivil endet, weiß man. Ich mache ja alle Dummheiten mit, und weil der deutsche Sekt in den »Amorsälen« unmenschlich teuer ist, ärgere ich mich natürlich und trinke französischen, der noch teurer ist. Wir trennten uns. Ich wollte mich zu einem bescheidenen Frühstück ins »Pschorr« begeben. Der Kerl hat mich mit seinen Erzählungen von niedergebrochenen Bekannten und verlobten Glückspilzen ganz schwindelig gemacht. Ich dachte schon an die reiche Schlosserstochter – aber hochmütig machen einen solche Möglichkeiten erst recht. Das blaue Blut bäumt sich auf, es verlangt eben etwas Rasseechtes.

Als ich nochmals am Café Bauer vorbeiging, um nach hübschen Durchreisendinnen zu spüren, sah ich vor einem exquisiten Reiseartikelgeschäft einen bekannten Rücken. Es war der kleine Lieutenant aus Ragaz, der sehnsuchtsvoll riesige Elefantenlederkoffer anstarrte. Den seelischen Zusammenhang ahnte ich. Bloß sah der kleine hübsche Kerl etwas mitgenommen vom Schicksal aus und hatte so einen wehmütig eingedrückten Filzhut. Schimmerte sein Ellbogen wirklich schon ein Atom, oder machte das nur der Gegensatz zu meiner eignen nagelneuen Uniform? Ich wollte scheu umkehren. Es ist ein netter, anständiger Kerl. Aber was thut er hier in Berlin? – Und seinesgleichen bin ich eben doch 40 noch nicht. Das kam mir aber wieder so feige vor. Ganz Uniformnarr bin ich noch nicht.

Als ich näher schlenderte, schielte er zu mir hinüber. Erkannt hatte er mich doch. Es war so was Unsicheres, Geniertes in dem halben Blicke, der beinahe was Verprügeltes hatte. Der Blick sagte ganz deutlich: ›Du wirst mich wohl nicht wiedererkennen wollen, weil ich wirklich jetzt unter dem Schlitten bin. Ich will dich auch nicht dazu zwingen!‹

»Guten Tag, Herr von Jaromir!«

Er zuckte ordentlich zusammen.

»Guten Tag, Herr Graf. Schon von der Riviera zurück?«

Da waren wir eigentlich am Ende unsers Gesprächs. Er druckste – und ich druckste. Es giebt so Situationen, wo das nächste Wort sicher eine Dummheit ist. In diesem Fall war ich so frei.

»Essen Sie mit im ›Monopol‹?« – Auf einmal war er ganz rot geworden und stotterte etwas von einer Verabredung. Und da es ja bei uns Verpflichtung ist, eine Aufforderung fünfzigmal zu wiederholen, damit man nur ja nicht an der Aufrichtigkeit zweifelt, so that ich's denn auch und zuletzt ganz warm, obgleich das große Unwahrheit war.

Er wurde immer unruhiger. – Endlich platzte er mit der Wahrheit heraus: »Ich habe kein Geld!« Darauf die bekannte erhabene Handbewegung von mir, die ungefähr andeuten soll: ›Wieviel Tausend wünschen Sie zu haben? – Sie brauchen nur zu sagen.‹ Er verlangte aber nichts derart, wie ich anfangs befürchtete, sondern die schwarzen, lebhaften Augen in die Elefantenkoffer gebohrt, sagte er leise und nervös: »Ich will kein Geld. Denn wenn Sie mir jetzt einen Thaler geben würden, so könnte ich Ihnen keinen Zeitpunkt angeben, wenn ich Ihnen den je zurückgäbe.«

41 Es war ein peinliches Gespräch, und mein neuer Lackschuh stöhnte verzweifelt. Aber wir haben nicht umsonst unsre gutmütigen braunen Augen. Wir waren selbst bodenlos leichtsinnig – also räumen wir andern das gleiche Recht ein. Der kleine, verbitterte Kerl mochte das auch fühlen, und endlich schlug ich ihn breit, schleppte ihn in eine Pschorrecke. Da gestand er mir, daß er seit zwei Tagen fast nichts gegessen habe und Fleischer- und Bäckerläden umschliche wie ein Raubtier. Armes Luder! Er log nicht. Das sah ich, wie er sich auf das Filetbeefsteak stürzte. Es giebt wirklich noch Kontraste. Meine glänzende Uniform und sein Plebejerhunger . . . Dabei gefiel mir diese Ehrlichkeit, die selbst in dem Heißhunger lag. War der kleine Kerl nicht aus besserem Stoffe als ich, der Wohlthätigkeitswallungen heuchelte und vom Ruin nur wenige Pferdelängen entfernter war als er? Das gewisse Gleichheitsgefühl mag mich wohl noch bestimmt haben, ihn doch ins »Monopol« zu schleppen.

Wie die Gesellschaft war? – Selbstverständlich reizend! Alles vornehm, reich – mit einer Ehre, so blendend weiß wie das Plastron. Die eine Hälfte vom Kommiß, mit dem verbrannten Nacken und der weißen Stirn, die andre Regierung und embryonische Botschafter, fade, etwas müde – auch ein paar scharfäugige Streber darunter. Heutzutage kommt man damit weit! – Dieser Speisesaal mit den kleinen, glänzend gedeckten Tischchen, den Blumenarrangements, den lautlosen Kellnern ist elegant, aber nicht exklusiv. Wir hatten eine gemütliche Ecke erwischt. Der eiskalte Sekt perlte in ganz diskreten kleinen Bläschen die beschlagenen Kelche empor, der Lachs leuchtete in hellem Rosa, und die Kapelle draußen spielte die melodisch-pikante Mazurka »La Czarine«. Die Offiziere essen mit Appetit – 42 sie haben ihn vom Tempelhofer Felde mitgebracht –, die Streber würgen mit Zielbewußtsein; bis zum musikalischen Botschafter ist's weit, und da braucht man Kräfte. Die Blasierten stochern, schieben die Teller resigniert zurück: direkte Abneigung gegen den Fraß. Natürlich giebt der Schlaf bis zwei Uhr nachmittags keinen Wolfshunger. Ich selbst habe mich im »Pschorr« delektiert und bin mäßig. Mir macht das Leben Spaß: die Menschen, die langsam Saal und Tisch füllen – alte Mummelgreise, hübsche kleine Mädchen. Man sieht vor Langeweile ganz blöde alte Augen, in Lebenslust blitzende junge; um den feinen Kelch mit funkelndem Burgunder liegt zuweilen eine reizende Mädchenhand geschlossen, zuweilen ist's eine fleischige, juwelenbedeckte, die bedächtig nach dem Kompott langt; wenn der alte Kerl am Tische nebenan seine haarige Pranke auf das weiße Tafeltuch legt und die eckigen Finger Reitermärsche spielen, muß ich mich immer wegdrehen. Es ist Leben, es ist Farbe in diesem Bilde, über das elektrisches Licht seinen blauen, kalten Nebelglanz gießt. Doch ist's langweilig. Zu guter Letzt sind alle die Gesichter dressiert – die Heiligkeit der Table d'hote meistert auch die leichtfertigsten Frauenaugen und den grimmigsten Messerhelden. Da ist mir mein kleiner Jaromir lieber. Der hat noch immer Hunger und freut sich am Menü.

In diesem Stil esse ich nun seit acht Jahren jeden Tag. Das Schicksal, das mich in allen Hauptstädten Europas 'rumwarf, gab mir fast immer dasselbe Bild, dieselben Gespräche. Meine Bekannten hier habe ich ein Jahr nicht gesehen. Dennoch ist wieder der neue Kommandeur ein infamer Schikaneur, der Rittmeister ein trauriger Gentleman. Die Streber schweigen und sehen sich argwöhnisch um, ob auch niemand gehört hat, daß der 43 Ministerialdirektor besser hätte Schuster werden sollen. Und die Blasierten dehnen sich: ›Laßt doch die ewige Schimpferei, Kinder! Wir wollen was Verständiges reden.‹ Das Verständige ist der Wintergarten, die Amorsäle, und ob es auch noch Dumme giebt, die auf die berühmte spanische Tänzerin 'reinfallen. Merkwürdig! Es sind sicher kluge und gute Menschen unter uns – und ich selbst bin gar nicht dumm –, aber diese »beste Gesellschaft« schleift einen ab wie der Bach den Kiesel. Wir unterhalten uns wie die Backfische, die Kadetten – und wenn's lustig wird, handelt es sich um Geschichten, die schmutziger sind, als mit unsrer tadellos weißen Wäsche vereinbar. Ich weiß das alles, ich langweile mich vielleicht; ich habe die kolossalen Leichtsinnssprünge wahrscheinlich nur gemacht, weil mich der Stumpfsinn erstickte – dennoch jagt mir der Gedanke, endgültig aus dieser Art Leben zu scheiden, einen Schauer über den Leib. Ist's Schwäche, Gewöhnung, falsche Scham? Oder das Schlimmere – daß ich bereits ganz Oberfläche, Maske geworden bin und mir davor graut, bei der Demaskierung vielleicht ein Nichts unter der Tschapka hier, der blauen Brustrabatte zu finden?

Nein, um Gottes willen – nur nicht das Nichts! – Ich bin auf dem besten Wege dazu.

Wir kamen nämlich auf die menschenfreundliche Beschäftigung, lebendige Tote zu begraben. Es giebt ihrer so viele bei der Garde und bei uns alljährlich. Und wenn wir einen guten Freund hatten bei Lebzeiten, das heißt, als er noch nicht auf der Kippe der Schulden oder des schlichten Abschiedes stand – wir versenken ihn jetzt ohne Wimpernzucken in die kühle Gruft gesellschaftlichen Vergessens. Thun wir das, weil wir sämtlich im Glashause sitzen und das Steinwerfen angenehme Pflicht wird, oder ist es der erbarmungslose, aber richtige Instinkt, der die 44 Gesellschaft rein halten will von allen Faulen, coûte que coûte? Ich begrabe fleißig mit. Dabei sehe ich ganz deutlich dieselbe Gesellschaft ein Jahr später vor mir, wie sie auch einen der Ihrigen einsargt – einen Grafen Carén. Die liebenswürdigen Gesichter, die sie mir heute alle gönnen, täuschen mich nicht.

Und weiß der Teufel, wie: auf einmal schwirrt der Name Jaromir über die Sektkelche. Der kleine Lieutenant zuckt zusammen und wird blutrot. Der vierschrötige Kürassier, der das Wort gesprochen, begreift sofort den Mißgriff, erhebt das Glas zu dem Kleinen: »Prosit, Herr Kamerad! Verzeihung . . . Aber jede alte Familie hat natürlich ihre räudigen Schafe.« Wir sehen uns alle etwas verwundert an.

Aber Jaromir schüttelt energisch den Kopf und sagt hastig: »Bitte, sprechen Sie nur ruhig weiter, Herr von Testorff!«

Mir ist noch jedes Wort erinnerlich. Testorff räuspert sich noch einmal verlegenheitshalber. »Dieser Jaromir ist nämlich ein ganz böser Bruder. Ein Vetter von mir – Sie wissen ja, der wegen der ungarischen Soubrette, die sich erschoß, unauffällig in den Osten versetzt wurde – erzählte mir. Einfach toll! – Kennen Sie Ihren berühmten Namensvetter?«

Jaromir nickte. »Sehr genau.«

»Vater tot; war General der Infanterie – nicht wahr?« Wenn er auf die Infanterie kommt, kriegt Testorff immer das Näseln.

»Jawohl. Hatte das XXI. Corps. Vor sechs Jahren gestorben.«

»Nun – der Sohn von dem, der übrigens nicht einen roten Dreier Vermögen besitzt, hat's fertig gebracht, fünf Jahre lang Gott und alle Welt haarsträubend anzupumpen und zum Schlusse die Menschheit mit nicht eingelösten Ehrenscheinen sonder Zahl zu beglücken. Sie müssen mir zugeben, Herr Kamerad . . .«

45 Dem Kleinen zitterten meiner Ansicht nach ganz unnötig die Hände, und er erwiderte sehr höflich: »Das ist Wort für Wort wahr – bis auf die Ehrenscheine. Das war aber nur einer, weil ein Kamerad von der Kavallerie seine Ehrenschulden an Jaromir vierundzwanzig Stunden zu spät beglich.«

Da nimmt Testorff das Monocle 'runter, um den Kleinen genauer sehen zu können. »Sie sind ja fabelhaft unterrichtet, Herr von Jaromir.« Ich finde das zu meinem Bedauern auch. »Ist's vielleicht ein naher Verwandter? . . .«

Und der Kleine kümmert sich um den etwas nachlässigen Ton gar nicht, sondern erwidert: »Allerdings – denn ich bin selbst dieser Jaromir, meine Herren!« Eigentlich that er mir leid, wie er so tapfer alles eingestand, obgleich an seinem Körper jede Fiber vor Aufregung bebte. Der Ellbogen war wirklich etwas blank, wie ich jetzt sah. Ich hätte nun das beruhigende Wort sprechen können, das so etwas liebenswürdig abthut, wie jeden unwissentlichen gesellschaftlichen Fauxpas. Ich war feige, ich that's nicht. Ich ließ den Kleinen ruhig weitersprechen. Und er gehört wirklich nicht zu den Menschen, die sich hinter die Coulissen verkriechen, sobald der Vorhang zerrissen ist. Ob's freilich viel Sinn hatte, uns das zu erzählen: Im Kadettencorps erzogen, dann 'raus als Offizier in die Armee ohne eine Idee von Finanzwirtschaft und ohne Geld. »Sehen Sie, meine Herren, als ich die ersten hundert Thaler von einem Onkel zur Equipierung erhielt, da dachte ich, so viel Geld könnte überhaupt nicht alle werden! Aber es wurde alle, und ich machte Schulden – und ich machte sie so lange, bis mir das Messer an der Kehle saß, bis mich ein Wucherer zu dem Ehrenscheine zwang, weil er doch etwas aus mir herauszupressen hoffte. Gut – ich habe ihn verfallen 46 lassen. Es war bodenloser Leichtsinn, bitterste Not – und daß mir ein Kamerad sein Wort brach! Im übrigen, meine Herren, keine Angst: Ich bin nicht mit schlichtem Abschied aus der Armee entlassen, ich führe zu Recht den Titel ›Offizier a. D.‹. Das Ehrengericht, das später über mich tagte, fand keine Veranlassung, ihn mir zu nehmen. Aber ich verstehe sehr wohl, daß es Ihnen peinlich ist, gerade diesen Lieutenant a. D. hier unter sich zu haben. Er ist auch nicht freiwillig gekommen. Graf Carén hier, dem ich meine derangierten Verhältnisse nicht einen Augenblick verschwiegen habe, hat mich fast zwangsweise mitgenommen – aus Güte und eben wohl deshalb, weil er mich für durchaus anständig hielt.« Ich versuchte, den Kleinen zu unterbrechen, der zuletzt so laut sprach, daß die Nebentische aufmerksam wurden. Aber den halten! Er fuhr verbissen fort: »Ich bin hier in Berlin, um mir einen Beruf zu suchen, zu arbeiten, meinetwegen bei der Straßenreinigung – und, so Gott es will, jeden Pfennig meiner Schulden einst zurückzubezahlen. Das ist mein ehrlicher Wille. Sie mögen lachen. Aber ich fühle mich in diesem Gedanken so gut Edelmann und Offizier wie je.«

»Merkwürdige Geschichte! Wie kann man eigentlich so weit kommen? . . .«

Dem kleinen Lieutenant schwoll die dicke Zornader auf der blassen, schweißbedeckten Stirn, und er suchte mit flimmernden Augen nach einem Worte. Ich ließ ihn nicht dazu kommen. Die blecherne Stimme, die das »Merkwürdig« gesagt hatte, riß mich aus dem Banne der Feigheit. Ich legte dem Kleinen beruhigend die Hand auf die Schulter: »Ruhig Blut, Jaromir! . . . Und wir, meine Herren, sollten uns daran ein Beispiel nehmen. Ich weiß nicht, ob einer von uns so tapfer sein würde, wenn er unter 47 dem Schlitten ist.« Der Kürassier schielte, und einer gähnte. Aber wenn wir einmal fünf Minuten lang innerlich Graf Carén sind, dann sind wir's auch ganz – und ich ersparte meinen Freunden nichts. Was ich ihnen da von schiefer Ebene sagte, auf der wir alle bereits recht munter heruntergerutscht wären, das hatten sie noch nicht gehört. Schluckt nur feste – du auch, Kürassier! Wo wärst du, wenn deine hinkende Braut nicht partout Frau Baronin hätte werden wollen? Aber am giftigsten war ich doch auf den Kerl mit der blechernen Stimme. Das heißt »Graf Serner«, ist reich, thut nichts. Und ich sah ihm sehr scharf in das leere Gesicht, dem auch die Borussenterz und das Monocle irgend etwas Aristokratisches nicht zu geben vermochten. Aristokratisches? bah! – Und dabei ist's vielleicht ein Typus unsrer Kaste, der im mittelmäßigen Müßiggang untergehende Adel, der keine starken Passionen, keine großen Sünden kennt, weil ihm das Blut zu dünn, zu alt geworden ist – der kein Schicksal haben kann, weil er keines verdient. Das ist das Nichts, vor dem mir graut . . . Jawoll du, mein Jungchen! Und ich hab's ihm unter die Nase gerieben: »Sie nehme ich von der Philippika aus, Serner. Sie können ja nie so weit kommen, weil Sie ein viel zu großer Musterknabe sind. Sie reizen ja weder die Karten, noch der Wein, noch die Weiber – Sie verbrauchen nicht einmal Ihre Revenuen. Sie können gar nicht unter den Schlitten kommen, weil Sie nie darauf gewesen sind.«

»Aber erlauben Sie mal, Carén!«

Und ich versicherte ihm darauf so stark meine Hochachtung, daß alles zu lachen anfing und einige meinten: »Lassen Sie unser frühreifes Karlchen doch zufrieden.« Das that ich denn auch. Darauf wurden starke Schnäpse zum Friedensschlusse begehrt. Jaromir erhielt eine offizielle Ehrenerklärung von dem 48 Kürassier, der mit ihm anstieß und über eine gemeine Wuchererbande knurrte, die anständigen Leuten partout den Hals abschneiden möchte. Er hatte die Pike von mir recht hübsch verstanden. Auch über seinen Vetter schimpfte er, der ein gefährliches Lästermaul hätte. Serner war durchaus zufrieden. Ich wüßte nicht, wann solche Serners nicht zufrieden wären! Die Stimmung wurde darauf sehr lustig, und man versuchte, meinem Kleinen das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Dessenungeachtet bat er sofort nach dem Kaffee, sich verabschieden zu dürfen.

Ich gehe mit – gerne nicht! Denn ich sehe schon die zusammengesteckten Köpfe, höre das spöttisch Bedauernde: »Also der Carén wäre nun glücklich auch unterm Schlitten« . . .

Draußen drückte mir der Kleine stumm die Hand. Ich habe doch wahrhaftig nichts für ihn gethan. Aber er gehört wohl zu den Menschen, die an irgend jemand ihr Herz hängen müssen.

Während wir die Friedrichstraße entlang schlendern in der köstlichen Halbdämmerung eines Frühlingsabends – die Mädels sehen so frisch aus, und der Weltstadtlärm regt die Nerven an –, mußte er natürlich weiterbeichten, sich entschuldigen. Er würde nie gekommen sein, wenn er diese Gesellschaft geahnt hätte . . . »Ich fühle mich moralisch schmutzig, Herr Graf. Und dabei bin ich so unqualifizierbar leichtsinnig wie ein Junge. Warum mußte ich eigentlich mit meinem letzten Gelde den Le Forts nachreisen? Ja, ich bin wahnsinnig verliebt – aber 's ist doch eine so völlig aussichtslose Sache! Nichts haben, nichts gelernt haben als Rekruten drillen und eine Winterarbeit abschreiben – und dazu solch vage Hoffnungen! Ein Bengel, der nach Amerika durchbrennt, um Indianer zu werden, ist ja noch ein Realist gegen mich. Als Sie fort waren, da 49 merkte ich's erst – Sie waren die Attraktion, Herr Graf. Man warf mich einen Tag später einfach über Bord. Ich kam nach dem ›Hof Ragaz‹, und die Gnädige behandelte mich mit so kühler Nichtachtung, daß ich ein Handlungsreisender hätte sein müssen, um noch einmal zu kommen. Sie wollen mich nicht, sie sehen durch, was ich bin. Und ich kann doch von dem Mädel nicht lassen – ich kann nicht! . . . Sehen Sie, ich bin seit vierzehn Tagen so armselig dran, daß meine ganze Tagesmahlzeit in einem Teller Suppe für fünfzehn Pfennig in der ›Akademischen Bierhalle‹ besteht und einem ganzen Korbe Weißbrot, das ich dazu verschlinge, weil es nichts kostet. Man hat mir überall die Thür gewiesen, zuletzt angeboten, ob ich nicht in der Ausstellung die Eintrittskarten knipsen wollte. Jetzt bin ich so weit, daß ich's thun werde. Und denken Sie, bei dem allem bin ich nicht einmal unglücklich. Ich setze mich abends in meine elende Bude und hole eine vertrocknete Alpenblume vor, die ich ›ihr‹ im Scherz im Taminathal raubte. Und wenn ich die Blume sehe, das vertrocknete Ding küsse, da kommt's mir wie ein Amulett vor, da macht meine Phantasie so blödsinnige Sprünge, und ich glaube ganz fest, daß ich das Mädel noch einmal sehen werde . . . Und wer weiß nicht, was noch alles.«

Der reine Thor! Bei aller Abgeblaßtheit berühren mich noch immer solche Sachen. Ich verstehe weder diese Ehrlichkeit noch diesen Glauben ans Glück, den Verliebte aus einer Herbariumsblume saugen können. Dann nach fünf Minuten fand ich die Geschichte wieder so abgeschmackt albern – ich fliehe zu meinen hohen, kühlen Regionen, wo man erst das Herz fragt, wenn man sich im Gothaischen Almanach orientiert hat und beim Banquier des Herrn Schwiegervaters. Ein Appell an meine Börse 50 war übrigens die ganze Litanei des Kleinen nicht. Ich bot ihm natürlich Geld, halb aus Gewohnheit – ich gebe jedem Bettler etwas – halb aus wirklichem Mitleid. Der kleine Kerl aber focht mit Händen und Füßen dagegen. Er wolle keine Almosen, er wolle arbeiten. Weiß der Kuckuck – wenn's unsereinem schlecht geht, wird auch der Beste sofort Revolutionär, Marxist und proklamiert das große Recht auf Arbeit. Die Straßenkehrer schleiften gerade neben uns ihre Gummibesen über den Asphalt. Jaromir, wenn du erst in dem großen Arbeiterbataillon bist – dann bist du für uns alle töter als tot. Dabei empfand ich eine großmütige Regung: Dahin darfst du's nicht kommen lassen, Louis Carén! Solange du es verhindern kannst, soll kein Edelmann ganz unter die Hunde kommen. Ich werde ihm morgen anonym dreihundert Mark schicken. – Generös gedacht, nicht wahr? Nein, lieber Louis, das ist gutmütige Schwäche!

Und schwach sind wir, bodenlos schwach!

*

Warum ging ich eigentlich noch einmal zurück in die »Monopol«-Gesellschaft – und nicht mal geraden Weges, wie ein Mensch, der weiß, was er will, sondern hintenrum auf Umwegen, mit Stehenbleiben an Schaufenstern, langweiligen Raisonnements und einem gelinden Grauen vor meinem öden Hotelzimmer. Es war nicht wie in den Geschichten, wo es heißt: »Wie er an die Stelle gelangte, wußte er nicht« – ich wußte es ganz genau. Und endlich stand ich wieder am Friedrichstraßenbahnhof, die Fernzüge donnerten über die Ueberführung, die Droschken unten rasselten, und der reitende Schutzmann hielt starr und stumm wie ein Marmorbild. Drei Schritte davon ist das »Monopol«. Der 51 Portier deckelte, das Mädchen in der Garderobe knickste: »Jawohl, Herr Graf, die Herren sind noch da.« Natürlich mit Hallo und röten Köpfen empfangen. Nee, unterm Schlitten sind wir doch noch nicht!

»Die Tugend siegt!« . . .

»Gott sei Dank, allein!«

»Brav gemacht, Carén!«

Sie waren doch alle noch meine guten Freunde. In drei Sekunden bin ich wieder Graf, Attaché, Viveur, Mittelmaß mitten in der Gesellschaft, die ich so herzlich zu verachten vorgab. Es lebe die Feigheit! Ich habe mich wegen Jaromirs entschuldigt: »Hatte ja keine Ahnung, Kinder!« ich habe ihn ganz gemütlich fallen lassen: »Versteh' das Ehrengericht auch nicht«: ich habe ihn sogar lächerlich gemacht mit seinen schimmernden Ellbogen und seiner unglücklichen Liebe. War ich betrunken? Die Kameraden behaupteten, das sei erst viel später gekommen . . .

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Ich sehe ein elegantes chambre séparée mit Rokokomöbeln, Clairbleu und starkem Patschuli. Auf dem herabgezogenen Tischtuche halbleere Sektkelche, rubinroter Burgunder, verirrte Traubenrosinen, Konfekt, eine angebissene Pfirsich in achtlos hingestreuter Zigarrenasche. Und durch den blauen Importenqualm, der das Glühlicht wie ein Schleier umzieht und als Londoner Nebel in den gestickten Gardinen hängt, unterscheide ich gerötete Gesichter, blanke und verschwommene Augen. Ich höre wieherndes Gelächter, mattes Näseln – ein Diamant im Frackhemd blitzt. Auf dem Fauteuil dehnt sich ein graziöses Geschöpf mit Spitzen und gepudertem Halse, der schlanke Ballettfuß wippt; die blauen Augen hart, das helle Lachen leer. Es ist die Kleine von Kranzler – sie ist unsre Göttin und der Sekt unser Opfer. Ich höre mich mitlachen, mitnäseln, als sie 52 mir zuruft: »Herr Graf, sehen Sie doch nicht so stier – reichen Sie mir lieber noch 'ne Dimitrino 'rüber!« Und ich fühle, wie die leichten Nebel des Sektes weichen, als sie Serner mit dem Fächer schlägt: »Nu hör mal aber auf mit deiner Amerikanerin! Ist sie etwa so hübsch wie ich? Nicht kneifen!«

Und Serner, dem die Zunge schon etwas schwer, nickt würdevoll: »Aber ganz gewiß, Kind! Sie ist eine Beauté, sie ist reich – ich würde sie heiraten . . .«

»Bah! Die? Die will doch 'n Mann!« . . . Das ist die Ballettfee.

»Von wem sprecht ihr eigentlich?« . . . Das bin ich.

»Von Asta Le Fort – kenne sie aus dem ›Bristol‹ – deren Blut ich zu veredeln gedenke.«

Warum bin ich mit einem Schlage spohnnüchtern? Ich liebe das Mädchen nicht! Aber die grünäugige Asta zusammen mit dem Burschen? Das hieße Vollblut vermanschen . . . Natürlich ist das alles bloß Renommage von dem! Sie ist ja auch nicht hier . . . Im übrigen bin ich zu wach, zu hochmütig, um mich nach diesen Le Forts zu erkundigen. Wenn er nicht lügt, wenn sie ihn wirklich nehmen würde – mag sie! Da hat mich eben mal der königliche Nacken belogen.

Aber die Orgie ist mir ekelhaft. Ich gehe . . . Diesmal langt, was vom Hundertmarkschein übrig blieb, nicht zur Nachtdroschke.

Wie sagte doch der Kleine? »Ich fühle mich moralisch schmutzig.« Nun, Graf Carén fühlt sich sogar verächtlich.

Der Erfolg dieses Katzenjammers war, daß ich Jaromir wirklich die dreihundert Mark schickte. Der wird Augen machen! – Aber wenn er nun den Geber trotz des fingierten Namens errät, mich hier im Kaiserhof aufsucht? Der Reichsgraf – der demütige Portier – und der schimmernde 53 Aermel . . . Wenn du mir recht dankbar sein willst, Jaromir – so sieh mich nie wieder! . . . Ich möchte überhaupt keine Erinnerungen mehr an die Ragazer Vergangenheit, auch nicht an die Le Forts. Das Mittagessen im »Monopol« werde ich aufgeben. Ich habe eine Abneigung gegen diesen Serner, wie ein warmblütiges Tier gegen ein Reptil, zum Beispiel gegen eine Kröte. – Weil er es einmal gewagt hat, den Namen der grünäugigen Asta in den Mund zu nehmen? Oder ist's wegen der blöden Bemerkung damals bei Tisch? – Ich bin nicht eifersüchtig, und an Jaromirs Freundschaft liegt mir weniger als nichts. Es ist Instinkt.

Es ist die namenlose Angst vor dem Nichts, das der ausgemergelte Bursche mit seinem ewigen Schwarz und seinem ewigen Lackschuh für mich darstellt. Hat die Aristokratie überhaupt noch ein Recht, die diese vertrocknete Frucht nicht einmal von ihrem Baume zu schütteln vermag? – Ich sage: Nein! Es sind doch nicht die vierundzwanzig unverfälschten Ahnen, die den Stammbaum machen; es ist das gute alte Blut, das unverwässert, ungeschwächt in uns dauern soll, wenn der Adel überhaupt einen Sinn hat.

Die drei Dolche in meinem Wappen haben eine düstere Geschichte von Raub und Mord und großartiger Treulosigkeit – sie sind eine schlechte Empfehlung für den Himmel, obgleich sie auf allen Gruftplatten unsers früheren Erbbegräbnisses eingemeißelt sind. Die Caréns, die als erbarmungslose Wegelagerer auf ihren Moselburgen saßen, hatten seltsame Vorstellungen von der himmlischen Gerechtigkeit – die Caréns, die als lungernde Wölfe in den kaiserlichen Regimentern des Dreißigjährigen Krieges mitritten, bereiteten sich mit scheußlichen Unthaten auf die Ewigkeit vor – die Caréns, die 54 bei Prag um die zerfetzte Standarte ihres Regimentes erschlagen wurden, starben nicht für Gott und Vaterland, sondern für ihren König. Sie hatten wohl alle große Laster und kleine Tugenden – aber sie hatten die Kraft des alten Blutes: sie hatten ein Schicksal. Und der Letzte des Geschlechtes soll enden ohne Geschick, weil das alte Blut keins mehr verträgt? – Ich will ein Schicksal! . . . Nur kein Serner! . . .

Solche Wallungen nennt man gemeinhin aufsteigende Hitze. Mehr ist's auch bei mir kaum, denn ich finde sehr schnell wieder die Kraft, ins »Monopol« zu gehen und Serner zu sehen. Er sperrt jetzt die runden Vogelaugen so träumerisch auf – wahrscheinlich aus Liebe. Sein Glück interessiert mich nicht, ebensowenig wie das von Asta Le Fort. Dennoch habe ich eine starke Neigung, ihn zu prügeln . . .

Merkwürdig, daß ich die Marotte dieser Aufzeichnungen immer noch beibehalte. Es ist mir jetzt fast ein Bedürfnis, mich von Zeit zu Zeit zu sezieren und dabei das Erlebte an mir vorüberschweben zu sehen. Ich erlebe nämlich schreibend alles noch einmal, sehe konzentrierter, schärfer umrissen das Gesehene. Dieses Tagebuch kommt mir vor wie mein Gewissen. – Und dann hat's einen großen Reiz, so den Roman seines eignen Lebens zu schildern, Kapitel für Kapitel mit der Spannung, als wenn man einen fremden liest. Wie werde ich enden? Ich bin wirklich neugierig. Wahrscheinlich werde ich das Rennen bald aufgeben, weil's überhaupt kein Rennen ist. Manchmal ist's mir, als wenn ich, ohne es zu wissen, das Material zu einem ganz großen Romane zusammentrüge . . . Aber Asta Le Fort wird darin kaum eine Rolle spielen. 55

 


 


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