Johannes Richard zur Megede
Von zarter Hand
Johannes Richard zur Megede

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Sechstes Kapitel.

Seitdem sind zwei Tage verflossen.

Morgen früh sechseinhalb Uhr schießen wir uns in der Nähe von Hirschgarten. Zehn Schritt Distanz, sechsmaliger Kugelwechsel. Meine Bedingungen sind so leicht, daß Karlchen nicht übel Lust hatte, sie zu verschärfen. Mir wär's nicht unlieb gewesen. Die Sekundanten ließen es aber nicht zu. Ich habe im voraus allen ihren Abmachungen meine Sanktion erteilt. Weniger blutdürstig kann kein Duellant die schwerste Ehrverletzung auffassen. Das ist nur Berechnung. Abgekartet soll die Sache unter keinen Umständen scheinen. Ich habe in einem tadellos anständigen Lokal, das jeder Offizier in Uniform betreten darf, eine harmlose Bemerkung gemacht und bin dafür auf das pöbelhafteste insultiert worden. Ich ertrug das mit wunderbarem Gleichmut, weil ich der trunkenen Stimmung Rechnung trug. Erst vierundzwanzig Stunden später überbrachte Twesten meine Forderung – das war die Handlungsweise eines peinlich gewissenhaften Menschen, der nüchtern abwägt und endlich thut, was er unumgänglich thun muß. Wer die Frau oder heimlichen Haß dahinter suchen wollte, erntete ein unwilliges Achselzucken bei den Vernünftigen, lautes Hohngelächter bei den 79 Heißspornen. Duellpistolen mit Visier und Korn sind bekanntlich sehr gefährliche Waffen – nur nicht in den Händen der Gegner. Passiert dennoch ein Unglück, so bedauert mich die öffentliche Meinung aufrichtig. Ich für meine Person pfeife allerdings auf die öffentliche Meinung. Serner hat eine Verschiebung des Duelltermins gewünscht, weil heute der Todestag seiner Mutter sei. Ich habe meine Mutter gewiß geliebt, aber er müßte auch an ihrem Todestage daran glauben. Der Aufschub ward selbstverständlich gewährt. Vielleicht ist's nur ein Vorwand – Karlchen wünscht sich noch einzuschießen. Mag er! Ich habe nicht den Abzug meiner Scheibenstandpistolen in der Zwischenzeit berührt; die öffentliche Meinung soll mich auch hierin korrekt finden. Daß ich zufällig sehr sicher schieße, steht auf einem ganz andern Blatt. Ich habe doch die Kunst wahrhaftig nicht geübt, sie an ihm zu probieren. Wenn sie sich trotzdem an ihm bewährt, ist es begreiflicher Selbsterhaltungstrieb. Pistolen mußten es ja sein! In Deutschland ist das Florett verpönt – ich könnte ihm sonst auch mit dem dünnen, haarscharfen Stich zwischen die zweite und dritte Rippe aufwarten, denn mein Pariser Fechtmeister bildete keine Stümper aus. Der krumme Säbel genügt für solche Insulten nicht. Damit aber Serner gewarnt sei, habe ich ihm durch meinen Kartellträger bestellen lassen, daß ich die Angelegenheit ernst, sehr ernst auffasse. Ich hatte dies Zartgefühl nicht nötig.

Obgleich die Geschichte unter strengster Diskretion aller Beteiligten verhandelt worden ist, scheint doch etwas durchgesickert zu sein. Gestern abend spät wünschte mich eine Dame durchaus zu sprechen – die berühmte, tiefverschleierte Dame. Ich war glücklicherweise nicht zu Haus. War es Gräfin Lagrange, die ich selbstverständlich noch an dem 80 verhängnisvollen Abend geschaßt habe, obgleich ich mich ja eigentlich für die Ehre dieser Dame morgen schlage? Nach der Beschreibung des Portiers war die Gestalt höher und vornehmer. Die Schleiermaske hätte ja meine »Gräfin« kaum nötig gehabt. Also war's eine andre . . . Vielleicht . . . aber ich wünsche mir gar nicht klar zu machen, wer es gewesen ist. Hoffentlich kommt die Dame nicht zum zweitenmal. Ich müßte sie abweisen lassen. Sie sprach ohne Dialekt, fast hart . . . hm . . . auch nicht übel!

Dafür hat mich heute Jaromir heimgesucht.

Wir aßen zusammen zu Mittag in einer anständigen Spelunke, wie sie seinen Gehaltsverhältnissen entspricht. Er hatte wohl blau gemacht, wollte mich trösten – und ich habe das sehr nötig! Ein guter Kerl, aber beinahe Sozialist, dieser Agent. Was er mir predigte, war freilich so dumm nicht und ist meine ganz geheime Ueberzeugung auch: die allerbeste Gesellschaft ist thatsächlich die allerschlechteste. So etwas muß aber als geistvolles Aperçu verabreicht werden, inmitten eben dieser Gesellschaft, die sich darüber totlacht – nicht in dem Garküchendunst einer Abfütterungsanstalt, wo es deplaziert ist. Sonst geht es dem Agenten gut. Bekommt beinahe hundert Mark monatliches Salär und wird nächstens, fürchte ich, auf den Menschenfang ziehen, um sich Versicherungstantiemen zu verdienen. Es freut mich, daß es ihm erträglich geht. Es soll ihm noch erträglicher gehen, sobald ich der Besitzende bin. Mein Dekret dürfte jedoch von der Festung oder aus dem Jenseits datiert sein.

Und merkwürdig – der schwarze Mann ist der einzige, der hinter dem Rencontre ein Geheimnis wittert. Erst ging er drum herum . . . »Standen Sie sonst mit Serner gut?« 81

»In letzter Zeit sehr gut.«

»Hatten Sie auch an jenem Abend nichts gegen ihn, Herr Graf?«

»Verehrtester, das hätten Sie doch merken müssen.«

Jaromir entschuldigt sich. »Wissen Sie, ich war stark angekneipt . . . Hinterher ärgere ich mich darüber immer und mißhandle meinen Blechschädel mit den Fäusten. Doch im Moment bilde ich mir steif und fest ein, ich sitze im Kasino, und die Ordonnanzen müssen fliegen. Hörten Sie, wie ich den kleinen Kellner riß? Es ist so dumm! Und ich versichere Sie, ich habe die Mannschaften nie schlecht behandelt. Mein Rekrutenjahrgang wäre für mich immer durchs Feuer gegangen . . . Ich mag Berlin nicht mehr! Man arbeitet, man schämt sich der Armut weniger als irgend wo anders – aber all die häßlichen Neigungen, die man hat, kommen hier erst recht heraus. Es liegt Gift in der Luft.«

»Lieber Jaromir, Sie phantasieren.«

Dagegen empört sich der Kleine. »Nein, nein, nein! . . . Mit dem Gift, das stimmt doch. Man wird hier unzufrieden, ohne daß man das will. Ich predige mir jeden Tag hundertmal: ›Fritz, du hast alle Ursache, zufrieden zu sein – du könntest auf der Landstraße logieren, wenn du nicht Glück gehabt hättest, könntest Falschspieler sein oder noch was Schlimmeres. Und du brauchst nicht mal zu hungern.‹ – Denn ich sage Ihnen, man kommt unter den Schlitten mit einem Ruck, man weiß nicht wie. Und wieder 'rauf kommen, Gott, das giebt's ja nicht! . . . Wenn ich nicht eben . . . Ich habe heute einen niedergebrochenen Kriegsschulkameraden gesehen, höllisch nobel – aber drei Schritte vom Leib, wenn ich bitten darf! Das ist nämlich ein perfekter Lump geworden. Und in dem verfluchten Berlin wird man 82 das so leicht! . . . Die Gegensätze drängen sich so zusammen, immer die Armut neben der Verschwendung. Ich kann keine eleganten Bummler mehr ohne Neid sehen. Man wird Sozialdemokrat, da hilft nichts!«

Er würde mich mit noch schlimmeren Veränderungen in seinem Innern bekannt machen, wenn ich nicht gähnte . . . »Köpfen Sie mich nicht sofort, Jaromir!«

Jedoch Jaromir köpft. Jaromir ist in der Rage, Jaromir glaubt fest, daß Berlin und sein Gift daran schuld sind, daß Serner und ich uns morgen knipsen. »Sie hatten was gegen ihn, Sie hatten was gegen ihn, Graf Carén!«

»Phantasieren Sie nicht weiter, Jaromir!«

Darauf inquiriert er treuherzig: »Warum die Bemerkung mit den alten Hosen? Das war beabsichtigt. Und ob ich auch im Augenblick so wütend auf den Kerl war, daß ich ihn am liebsten totgeschlagen hätte wegen der Gemeinheit – später habe ich mich doch gefragt: Soll der nüchterne, hochmütige Carén sich ohne Hintergedanken mit der Dame identifiziert haben? . . . Sagen Sie, Herr Graf, es war ein betrunkener Spaß, und Sie machen mir eine Freude! Ich weiß nicht, ob es damals nur ein Scherz sein sollte, als Sie mich auf den Bomulunder hetzen wollten – aber solche Scherze macht man nicht, wenn man nicht schon ähnliche Absichten auf andre hatte. In den letzten Monaten habe ich darin sehr trübe Erfahrungen an mir selbst gemacht . . . Und so gutmütig wie Sie, glaube ich, gegen jeden Freund sind – ich halte Sie für kalt rachsüchtig – Pardon! – wenn Ihnen jemand ernstlich in die Quere kommt. Hab' ich recht, oder sind Sie mir böse?«

»Nein, mein Freund, weder das eine noch das andre! . . . Für Ihre Gemütsstimmung ist es das 83 beste, daß Sie bald heiraten, da werden Sie die Unzufriedenheit los.«

Darauf Jaromir: »Ich heirate nie!«

»Und wenn ich Ihnen erzähle, daß Bomulunder mit Eklat abgeblitzt ist, daß niemals ein begossener Pudel begossener von seiner Schönen heimlief als unser Schnapsbaron?«

Jaromir rührt in seiner leeren Kaffeetasse. »Auch dann nicht.«

»Sie sind kein Realist, mein Lieber.«

»Nein, das allerdings nicht, Herr Graf. Ich habe das Mädel nämlich auch jetzt noch viel zu lieb, als daß ich mich wegwerfen sollte. Im übrigen ist es eine abgethane Sache. Menschenfreundlicher hat mich die Erfahrung nicht gemacht . . . Glauben Sie, ich möchte eine mit dem Le Fortschen Gelde gar nicht – wer weiß, wie das verdient ist . . . Lassen wir dies Thema! Ich werde sonst wieder gallebitter, und das lieben Sie ja nicht, Herr Graf.«

Der gute Mann wird mir schließlich langweilig. Leviten kann ich mir allein lesen, und dazu habe ich ebensowenig Neigung. Darum lass' ich ihn leichten Herzens ziehen.

Mir thut ein erfrischender Spaziergang not. Am Vorabend eines schweren Duells durch die Weltstadt zu schlendern, muß eigne Empfindungen wachrufen. Ich merke nichts derart. Vielleicht sind Licht und Schatten schärfer geteilt. Die Brillanten in den Schaufenstern blitzen herausfordernder, die Krüppel schleichen gedrückter. Das eine liegt am herbstlich grellen Gewölk, das andre an der niedersinkenden Dämmerung. Ich gehe straff, der Schritt federt, endlich einmal ein »Morgen«, das ganz anders aussieht als alle vorhergegangenen! Die Nervenanregung ist wohlthuend. Wenn doch das »Morgen« nie käme! Und es kommt ganz gewiß. 84 Die schleichenden Stunden heut fliegen hier. Ich könnte, glaube ich, ewig so weiter wandeln. Keine Linie in dem nervösen Antlitz von Berlin hat sich geändert, aber jede Linie ist charakteristisch, alt und neu, man grüßt sie wie einen lieben Bekannten, den man lange nicht gesehen hat. Und jeder Laut, selbst das Hin- und Herwogen, es ist eine angenehme Musik, die anregt, ohne zu betäuben. Morgen um diese Zeit ist einer hinüber, vielleicht bin ich selbst dieser eine. Berlin kümmert das gar nicht, die aufzuckenden Lichter in den Läden lächeln versöhnlich, der bunte Menschenstrom wälzt sich dahin. Nirgends eine aufdringliche Moral! Wo so viel täglich sterben und geboren werden, ist der eine weniger keine Sünde, nur eine Thatsache. Gehend, schauend genieße ich; die Gedanken, die Sinne gleiten nie schwermütig oder gierig über den einen Punkt hinaus, der sie gerade anzieht. Manchmal vergesse ich mich völlig, und erst ein schwerer Glockenschlag muß mich an die fliehende Zeit mahnen oder ein besonders hastender Mensch an das ernste Geschäft morgen.

In meiner Wohnung empfing mich die Meldung von einem zweiten Besuch der verschleierten Dame. Sie war schwarz von Kopf bis zu Fuß. Vielleicht ist es das düstere Gespenst unsers Geschlechtes, das mir das Ende verkünden will, wie die weiße Frau den Hohenzollern. Die schwarze Frau bedeutet allerdings den Tod für einen.

Eine Stunde später ist sie wieder da. Eine Visitenkarte wird mir überreicht, die ich langsam zerpflücke, während das Zimmermädchen spöttisch zusieht. Ich bin für jeden zu sprechen – nur für die verschleierte Dame nicht . . . Ob Serner geschwatzt hat? Ich traue es ihm nicht zu. Erst in dem Scheidebrief steht's ihm frei. Und dann ist's zu spät . . . Ich höre die Dame unter meinem Fenster vorübergehen. Du hast's gewollt – trag's!

85 Dann dreh' ich alles elektrische Licht auf. Ich habe mich an die Unordnung der letzten Wochen gewöhnt, an die umherliegenden Koffer, aus denen halb herausgezogene Anzüge gucken und zerknüllte Batisthemden. Geordnet wird später. Es ist das Zimmer eines Reisenden, der das Chaos liebt, weil sein unruhiger Geist nirgends aushält. Eigentlich sollte ich dem Mädchen klingeln, alles fein säuberlich packen, wie zu meinem Ausfluge nach Mähren. Weiß ich denn, ob ich von meinem Waffengang zurückkehre? Ich werde zurückkehren! Darum lass' ich alles, wie es ist. Nicht mal den rührenden Abschiedsbrief schreibe ich, worin die Phrasen schwinden, weil der Tod dem Schreibenden über die Schulter sieht. Ich habe keine Gefühle zu verschwenden – an niemand und für niemand. Entscheidet das Gottesurteil gegen mich – auch gut. Es wäre eine Ausnahme, denn ich hörte zum Beispiel oft, daß der betrogene Ehemann gestreckt wurde, vom Gegenteil nur einmal . . . Das Vermögen meiner Tante zerstiebe dann in die Winde, wie sich's gehört, schon aus Pietät für meine Gewohnheiten. Den Tod fürchte ich nicht! – Mein ganzes Leben war ein haltloses Schwanken zwischen gut und böse, zwischen Schwäche und Entschluß. Hält man da oben Kerbholz, so habe ich auch später unter den Engeln nichts zu suchen. Giebt es aber den wahren, einzigen Gott, den unser heuchlerischer Egoistenglaube nur in dem Schrecknis wittert, so macht er einen Strich durch jedes Menschenschicksal, gut oder böse, weil er allein die Triebe kennt und die Kräfte und das Schicksal, das sinnlos über uns hinbraust und die Eichen köpft und die Halme nur beugt.

Ich habe mein Tagebuch durchgelesen, nicht um das Morgen zu entschuldigen, sondern um es zu verstehen. Ich verstehe es nicht. Ich finde wohl den roten Faden, der durchgeht, einmal feiner, 86 einmal stärker, verwirrt und gestrafft, aber daß sich aus diesem roten Faden der Strick spann, der nun einen gleichgültigen Hals abwürgt – ja, daß dies logisch so kommen mußte, das fühl' ich nur, ohne es zu begreifen . . . Gewiß, das Mädchen hat mich angezogen, es hat mich aber auch abgestoßen. Ich habe Register geführt über die Gefühle, die ich hatte und erweckte. Die Entwicklung des ganzen Verhältnisses liegt vor mir. Ich habe den Schluß mit der Liebe erwartet, sogar gewünscht, um endlich sagen zu können: ›Ihr beiden hohlen Nüsse seid einander wert.‹ Ich habe mich gehütet, ungerecht zu sein, habe die beiden angesehen wie ein paar Fremde, nur daß ich mich wunderte über so viel Schönheit zu so viel Nichts hingezogen. Und ich habe mich beschieden, die Menschen und die Dinge rosa gesehen, wo sie schwarz zu sehen mein Recht war. Ich haßte das frühreife Karlchen nicht und liebte »sie« nicht. Ich war meiner sicher bis zu dem Moment, wo er ein Mann wurde und sie weiter nichts war als ein Weib . . . Ich stehe, wenn man will, vor der Hölle, ich habe keinen Grund mehr, die Komödie, die ich andern vorspiele, mir selbst vorzuspielen: das Weib, das Serner den Kopf kostet, liebe ich noch heute nicht . . . Das Weib? Ist Asta Le Fort wirklich nichts andres für mich? Mordet man – und meine Absicht ist nichts andres – kaltblütig deshalb, weil man den einen Händedruck, den ein Mann und ein Weib tauschen, nicht ertragen kann vor unsinniger Eitelkeit? Ich sage nein! . . . Ich müßte ja sagen. Und noch setzt bei der innerlichen Abrechnung kein Reuegefühl, kein Schimmer des Mitleids, dem ich gutmütig bei jedem Straßenbettler unterliege. Der einzige monotone Wiederhall aller Gedanken und Gefühle heißt: er stirbt . . .

Ist das wirklich das Gift, das ein 87 Wüstlingsleben zersetzt, damit das verseuchte Ich herrsche? Ist es der abgekühlte Carén, der sich endlich losgemacht hat von der weichmütigen Lasis, damit er über Leichen schreite, weil's ihm gerade so paßt? Ist's der freigewordene Raubtierinstinkt, der gleich unter Sträflingskittel und Frackhemd zuckt, der mit scheußlicher Ruhe sagt: ›Ich wollte das Weib mal haben. Du hast's – dafür stirbst du!‹? . . . Wenn es von dem allen etwas wäre, zusammengeschweißt durch ein großes Gefühl, dessen Strom ich vielleicht spüre, ohne seine Quelle zu kennen? . . . Nein, ich will die Quelle nicht kennen! Komm her, Pistole, aus deinem Sammetkasten! Ich will nicht üben, ich will nur leise, leise die Hand an den Abzug legen, den Arm lässig strecken, über das Visier sehen. Die Hand zittert nicht. Knacks! – Es klingt so eigen in einem totenstillen Raume. Morgen auch dies Knacks – und einer hat aufgehört zu sein.

Ob diese Hand morgen zittern wird? Ich fürchte, nein.

Es ist spät geworden. Die Straße unter meinen Fenstern liegt tot. Wer gut zielen will, muß gut schlafen. Nur noch drei Stunden Zeit, bis mich Twesten abholt. Sie sind mir genug. Wie ich an dem Pfeilerspiegel vorübergehe nach meinem Schlafzimmer, zieht es mich, noch einmal in das fahle Glas zu schauen. Draußen schlägt es eins. Es ist doch wohl der Raubtierinstinkt allein, der mir kalt aus meinen blassen Augen entgegenblitzt . . . So sehen also vornehme Mörder aus? . . . Serner stirbt! – Und ich sehe wieder die beiden Hände fest ineinander gekrampft liegen, während es rosig den königlichen Nacken emporsteigt. Und wieder fühle ich den eisigen Strom, das kalte Nervenbeben, und als wenn innen sich etwas zusammenzöge, zerpreßt würde . . .

88 Ob meine Hand morgen zittern wird? Ich hoffe, nein.

*

Um vier Uhr kommt Twesten, nicht ganz ausgeschlafen, etwas verdrießlich. Der Wagen ist zu fünf bestellt, also noch eine volle Stunde. Ich empfange meinen Sekundanten im tiefsten Negligé. Kurzer, wortloser Händedruck. Darauf setz' ich im Schlafzimmer meine stets sehr umständliche Toilette fort, während er nebenan sich knurrend in eine Sofaecke versenkt. Wenn nicht zuweilen die Sporen klirrten und durch die halbgeöffnete Thür der parfümierte Rauch einer ägyptischen Zigarette wehte, könnte ich mir einbilden, ich wäre allein und nur dem strahlenden Herbstmorgen zuliebe aufgestanden, der mit rosigem Dunst über den Bosketts des Wilhelmsplatzes wallt und die dunkeln Bronzestatuen mit funkelndem Tau netzt. Drinnen liegt die warme, verbrauchte Luft des Tages vorher, vermischt mit den Waschtischodeurs, und die dämmerige Helle, die das Frühlicht scheut, das schon auf den Bettpfosten spielt und in der Wasserkaraffe violett glitzert. Den Leuten im Hause habe ich gesagt, daß ich so früh zur Hühnerjagd führe. Es kommt mir beinahe selbst so vor. Ich suche vergeblich nach dem übernächtigen Frösteln, dem nervösen Gähnreiz, die schweren Entscheidungen vorangehen. Meine Nachtruhe war kurz, aber erquickend. Ich bin sehr nüchtern – nur der Duellanlaß erscheint mir schal.

Endlich bin ich zum Sterben parat. Twesten liest in einem Schmöker, den er gähnend auf den Tisch wirft, als ich eintrete.

»Morgen, Georg.«

»Morgen, Louis.«

Die fabelhafte Unordnung des Zimmers wirkt in dieser Morgenbeleuchtung auf uns beide peinlich. 89 Sie sieht aus wie ein leichtfertiger Hohn auf eine folgenschwere Entschließung. Das macht die Stimmung doppelt schwül. Auf dem Tisch steht bereits das Frühstückservice. Der Ulan schlürft gierig den heißen schwarzen Kaffee, ich präpariere mir bedächtig die gerösteten Weißbrotschnitten; Hunger verspüre ich nicht, aber mit Appetit zu essen gehört zum guten Ton bei Duellanten.

»Na, wie fühlst du dich sonst, Louis?« Twesten sieht mich scharf an.

»Wie du siehst, mon cher . . .«

»Du scheinst gute Nerven zu haben, Louis . . . Hm, kannst sie vielleicht brauchen . . . hm . . . hör mal, du, was ich sagen wollte, Karlchen ist auf einmal ganz deiner Ansicht. Ziele also, bitte, nicht ins Blaue; er thut es ganz gewiß nicht! Es ist die betrunkenste Geschichte, die mir je vorgekommen ist . . . Uebrigens noch eins: Ich habe Karlchen ins Gewissen geredet; er ist ja schließlich doch nicht der erste beste, den ich abschießen oder abgeschossen werden sehen soll. Ich halte ihn für verrückt! Die Beleidigung war selbstverständlich Blödsinn, das giebt er selbst zu; dagegen behauptet er, eine Auseinandersetzung dieser Art hätte zwischen euch kommen müssen.«

»Sagte er etwas Näheres, Georg?« frage ich.

»Nein. Mir ist nur klar, daß ein Frauenzimmer dabei eine Rolle spielt . . . Kann es eigentlich die sogenannte Gräfin sein? Für so blödsinnig habe ich ihn denn doch nicht gehalten. Und am Ende ist sie es doch . . . Ich sage dir, er ist ein gefährlicher Gegenpaukant. Aufgeregt gehörig – nicht etwa aus Angst –, aber er will dir ans Leder. Die Vogelaugen funkelten nur so, als ich ihm Menschenverstand predigte. Und das für das Frauenzimmer!« Twesten schüttelt sehr unzufrieden den Kopf, dann langt er in den Aermelaufschlag nach 90 einem Brief . . . »Damit du dich übrigens nicht wunderst über mich, lieber Ludwig: sie hat mir brieflich auch die liebenswürdigsten Offerten gemacht, vor und nach dem Rennen. Dies ist die letztere. Willst du lesen?«

»Sehr liebenswürdig, Georg, aber ich möchte um Gottes willen nicht irre werden an einer Dame, für deren Ehre ich mich zu schießen im Begriff bin.«

Twesten baumelt mit den Beinen. »Du und Serner, ihr seid mir gleich unverständlich. Warum ist auf einmal auf dieser Erde einer von euch beiden unbedingt zu viel? Denn dir ist er auch zu viel.«

Ich wünsche dies nicht wahr zu haben. »Lieber Georg, Serner ist tobsüchtig, und da ich ihn in einer Anstalt nicht unterbringen kann, muß ich versuchen, ihn auf andre Weise unschädlich zu machen.«

Draußen Wagenrollen – der unbewegliche Hut eines Kutschers und eine wippende Sonntagspeitsche. Es ist unser Gefährt.

»Bist du fertig, Georg?«

»Es kann losgehen.«

Wir wandern durch den Flur: er sporenklirrend, entschlossen, – ich nachlässig, leise.

An der Thür fällt ihm noch was ein. »Hast du irgend eine letztwillige Verfügung getroffen . . . oder wenigstens einen Brief geschrieben, den ich dir eventuell besorgen muß? Es ist verdammter Ernst!«

»Nichts, Georg. Meine Sachen können verauktioniert werden, wie sie da sind.«

»Ich gratuliere dir zu der Lebensanschauung. Leicht genug ist sie.«

»Fürchtest du wirklich für mich, Georg?«

»Qui vivra verra«

Damit steigen wir in den Wagen.

Ich weiß nicht, aus welchem Stoffe ich geformt sein muß. Mir ist's wirklich eine Spazierfahrt – 91 das fremde, große, arbeitende Berlin zieht vorüber. Ich sehe das Ungetüm von meiner Landauerecke aus – schläfrig, und doch bin ich wach; träumend, und doch entgeht mir nichts. Seh' ich die Stadt der Arbeit wirklich heut zum erstenmal, daß sie mir so wunderbar vorkommt? Der vornehme Westen reckt sich, allmählich erwachend. Die Semmeljungen laufen pfeifend das Trottoir entlang, die Schutzleute patrouillieren mürrisch. Hie und da quietscht ein Rollladen, ein verschlafener Frauenkopf blinzelt hinter der Gardine hervor. Aus den Bäckereien strömt der warme Backgeruch, aus den Destillationen der fade Fuseldunst. Aber die Etagen darüber schlummern noch mit geschlossenen Jalousien, grau und hochmütig; die Schilder der Geschäfte sehen schlaftrunken auf den rasselnden Sprengwagen. Unser Berlin erwacht zum Genuß, darum erwacht es spät. Es ist nur die täuschende Kulisse, die glänzende Dekoration, die jetzt übernächtig, verblaßt auf den vollen Tag wartet, der sie aufschminkt. Aufgeschminkt lieb' ich den Westen. Jetzt macht er mir angst – er hat etwas Abgelebtes, Schlaffes mit seinen ungesunden Düften der vergangenen Nacht, die er erst im Morgengrauen aushaucht. Ist's nur meine nüchterne Frühstimmung, die sich darin gefällt, die Runzeln schärfer zu sehen, die Schäden erbarmungsloser? Unser vornehmes Viertel hat das verwüstete Gesicht eines Lebemannes, den man in seinem Toilettenzimmer überrascht. Oder beginne ich dem Wesen der Dinge unfreiwillig näher zu kommen? Mich täuschen die prunkenden Fassaden, die vergoldeten und bemalten Käfige nicht mehr über das wahre Gesicht der Weltstadt hinweg. Das wahre Gesicht ist ein andres. Es kommt mir näher und näher. Je tiefer wir in das erwachte Berlin hineinfahren, desto deutlicher erkenne ich seine Züge. Es ist ein verarbeitetes, unzufriedenes, stumpfes Gesicht. 92 Ein seltsam Gemisch! Ich fühle den scharfen Geruch der Arbeit von dem Asphalt aufsteigen, dahinwogen mit der alltäglichen schmutzigen Schar, die in schmieriger Bluse, abgeschabtem Rock durch die Straße wimmelt, weder vergnügt noch traurig – die großen Arbeiterbataillone, denen der Schnaps die Gegenwart, die Revolution die Zukunft. Ich spüre die Unzufriedenheit, den heimlichen Haß aus jungen, gelbblassen Gesichtern frech herüberzucken, aus knochigen, älteren fast verächtlich blitzen. Ich sehe Graubärte mit müdem Blick und schlampige Frauen, denen die Sorge die Jugend nahm und den Stumpfsinn gab. Zuweilen äugt ein Mädchengesicht begehrlich zu uns auf, ein hübsches mit blauen Schatten unter den Augen, das auch gern genießen möchte. Oder ein halbwüchsiger Bengel schreit aus gemeinem Munde ein gemeines Wort für uns, und ein Beifallsmurmeln geht durch die trottende Menschheit. Ich bin schon froh, wenn ich einen beruhigenden Schutzmannshelm blinken sehe oder einen frühzeitigen Weißbierphilister, der zum Fenster heraus die Pfeife raucht. Wir oben in unserm Gefährt sind die Besitzenden, Gehaßten. Und wenn die Gedanken der unter uns zu einem Schrei sich zusammenballten, es würde ein gieriger, tierischer Schrei sein, der uns zerreißen möchte samt unserm hochmütigen Kutscher und den wohlgenährten Pferden. Der Schrei kommt nie. Und wenn er käme, so wäre der Weg zur That noch lang. Vielleicht wäre er auch furchtbar kurz! Denn wir oben und die da unten sind geborene Feinde, ewig Getrennte, können uns nie verstehen, nie finden. Und wer sie zu uns emporziehen will, der steigt zu ihnen hinunter . . . Es thut gut, öfter dies Morgengesicht Berlins anzuschauen, dies feindliche Arbeitergewimmel, das in schmierige Portale strömt, aus rußigen Fabrikhöfen sich drängt – es thut gut, die Größe unsrer 93 Weltstadt nicht an den tausend dampfenden Fabrikschloten, den summenden Arbeitskasernen, dem gewaltigen Tosen des Ostens überhaupt zu messen und sich dessen zu freuen, sondern an den aber- und abertausend rauchgeschwärzten Polypenarmen, die das Feuer der Essen entfachen, an den scheußlichen Gerüchen der Werkstätten, an dem verhaltenen Grollen dieser Hunderttausende, damit die glänzende Kulisse im Westen erkenne, daß sie dem arbeitenden Osten nur so viel gilt wie ein unersättlicher Schwamm, der tückisch die beste Kraft der Massen aussaugt und dann als Kapital aufspeichert zu Genuß und zu Macht.

Twesten neben mir schlummert sanft und träumt von Rennsiegen. Ich aber merke das Wehen einer heißen Zukunft, das Dräuen einer nicht mehr fernen Gefahr – wenn der summende Bienenkorb der Arbeiterbataillone unsre Karosse stürmt, uns aufs Pflaster schmeißt mit blutenden Gliedern, die weichen Kissen beschmutzt, zerreißt und nachher mit wüstem Geheul in derselben Karosse dahinrasen möchte, besitzend, verschwendend wie wir – und doch nicht von der Stelle kommt, weil die Achsen sich biegen unter der unvernünftigen Menschenmenge und die Pferde zusammenbrechen unter der unvernünftigen Peitsche . . . Ich mag nicht schlafen, während der Feind wacht. Aber ich finde auch kein Mittel, seine Ueberzahl zu bändigen, wenn er das Herrengelüst wahr machen wollte; ich habe weder Sympathie noch Mitleid für ihn, jetzt, wo ich seine brutale Macht kenne. Er ist mir wenig mehr als ein böses Tier, das ich so lange hungern lassen möchte, bis es zu Kreuze kriecht . . . Und dabei würde ich selbst schlimmer als jeder dieser Verfemten empfinden, den roten Schrecken predigen im selben Moment, wo das Schicksal mir den anständigen Rock auszuziehen gedenkt. Auf 94 einmal würde ich die konzentrierte Riesenungerechtigkeit der Weltstädte begreifen, das wilde Verlangen nach der Gleichheit brennend fühlen. Aber bei mir wie bei den andern wäre es derselbe Trugschluß: wir wollen das Glück ja nicht für alle, sondern für uns allein.

Es ist doch sehr weise eingerichtet, daß man zu Duellen gefahren wird. Auf die Art schwinden die Bilder, noch ehe sie völlig aufgenommen sind. Das ganze arbeitende Berlin wirkt darum nur wie eine vorübergehende Trübung der Netzhaut. Ginge ich zu Fuß – wer weiß . . . Ich würde vielleicht, verleitet durch diese Morgenstimmung, die Höfe durchspionieren, in die Keller hinabsteigen, so neugierig und so selbstvergessen, daß ich mich an diese fremde Luft, diese feindlichen Menschen sehr bald gewöhnte und der schiefe Strahl einer neuen Erleuchtung mich durchdränge: ›Du suchtest Menschen, die du gern verachten möchtest, und findest Menschen, die dich verachten dürfen.‹ Es ist ja alles nur die Art des Sehens – Graf Carén in seinem Landauer hockt auf einem sehr einseitigen, aristokratischen Standpunkt – und der Sozialist liegt uns Modernen allen trotzdem etwas im Blute! Aber wo bliebe dann das Duell, das ich unbedingt verpaßte, weil ich seine Berechtigung nicht mehr verstehen könnte? Und ein klein wenig aristokratisch tödliche Unart erscheint es mir angesichts dieses gewaltigen Lebens doch – natürlich nur, solange das Bild dauert . . .

Wir haben die großen Verkehrsadern hinter uns, die Braunen traben den Ausläufern der Weltstadt zu. Diese Ausläufer sind schon längst wach, die langen, hohen, eintönigen Straßenzeilen haben wohl das beschmutzte Arbeitsgesicht, aber mit den Gemüse- und Milchwagen, die nach Berlin hineinrattern, dringt schon eine erfrischende Woge ländlichen Morgens 95 hinein. Und endlich kommt der volle Hauch der herbstlichen Ebene, klar und kühl, uns entgegengezogen. – Die Weltstadt war – ein häßlicher Traum! . . . Ich dreh' mich im Wagen um, noch einmal das Hämmern und Tosen, den Pulsschlag dieser schmutzigen Königin verschwommen und doch gewaltig zugleich zu vernehmen. Berlin liegt rauchend, dunstig in der kalten, roten Herbstsonne; die Fabrikfenster blinken, die neuen Kirchtürme glitzern. Twesten reckt sich aus seinem Halbschlummer und sieht gähnend nach der Uhr . . . Ich hätte ein Recht, die hergebrachten Duellantengefühle zu empfinden, und empfinde nur den Zauber des jungen Morgens, der mit Siegerlächeln über die weite Ebene schaut und Baum und Strauch vergoldet.

Das vielgewundene Wasserband der Spree blitzt. Dann grüßt frischer Waldesodem – das betaute Gras duftet feucht, durch die stummen Kiefernwipfel lacht funkelnd das scharfe Herbstlicht, und die gelben Stämme schimmern rötlich. Vogelgezwitscher, unter hüpfenden Sängern schwingende Zweige. Die Pferde wiehern, traben munterer, der unbewegliche Kutscher wippt ihnen mit der Peitsche über die Ohren . . . Da drüben hinter der dampfenden Schonung muß die Onkelvilla versteckt liegen. Gut, daß ich sie nicht erblicke! Der Höllenhund und der Schlapphut könnten mir sentimentale Gefühle erwecken.

Und wie ich jetzt bin, ruhig, genießend ohne schweifende Gedanken, bin ich gerade recht. Ich bin doch ein kaltblütiger Mörder . . .

Wieder leuchtet die Spree durch das lustige Grün. Uralte Linden, ein Gasthaus – dahinter geschwärzte Schornsteine, ein roter, riesiger Fabrikkomplex, zinnengekrönt wie eine Burg. Wie eine Insel steigt jetzt Köpenick auf mit alten Häusern und spärlichen Villen, die Kirche dazwischen ragt märkisch 96 düster empor. Eine kühn gespannte Brücke; das Wasser strudelt leicht, weil hier die Dahme einfließt. Ein Flügel vom Schloß der Joachime auf kleinem Sumpfeilande lugt aus dem herbstlich bunten Blätterwerk eines Parkes . . . Die alte kurfürstliche Residenz versinkt wieder, mit ihr das winkelige Nest – nur der spitze, graue Kirchturm ragt. In einer knappen Viertelstunde sind wir in Hirschgarten. Twesten beginnt absichtlich Gleichgültiges zu plaudern, ich höre mit halbem Ohre zu. Noch weiß ich ganz gut, was ich will. Doch wenn die Nerven nicht mahnen, warum das Gemüt frühzeitig mit Raisonnements beschweren? Wer kann sagen, ob der Tanz so blutig wird, wie die Duellgegner wähnen!

Die letzte Viertelstunde vergeht mir im wachen Traum. Wär's wirklich einer, ich glaubte es auch . . . Ein kurzes Zwiegespräch zwischen Twesten und dem Kutscher. Wir sind an der Villenkolonie Hirschgarten; sie ist neu, aufgetakelt; aus einigen Landhäusern stiert dummdreist der Protz; ihm zur Seite kriecht die gierige Spekulation mit schmalen, eingezäunten Landstreifen und schwindsüchtigen, halbfertigen Villen. Von den beiden Brüdern ist einer dreißig wert und der andre ein halb Schock. Wir biegen ab. Zum letztenmal flimmert die Spree herüber. Der Wagen schwankt auf holperigem Waldwege, die Pferde pusten. Zwischen den Bäumen blinkt es – Uniformen, gedämpftes Gespräch. Wir lassen halten – der Kutscher fährt langsam zurück bis zum nächsten Gestell, und wir wandern durch Sand und tauiges Gras. »Macht es nur nicht zu toll, Kinder!« sagt Twesten gepreßt, »es war, wie gesagt, eine besoffene Geschichte.«

»Das war's allerdings,« gebe ich ohne Groll zu. Ist's wirklich kalter, blutiger Ernst, dem ich zielbewußt entgegengehe? Die Sonne lächelt so lebensfreudig durch singende Kiefernnadeln. Und einer 97 von uns soll an diesem taufrischen Morgen sich zum Nimmeraufstehen strecken? Ich habe keine Angst – nur um die Herzgegend ist ein wehes Gefühl . . . Der Waldweg macht eine Biegung. Ich sehe einen schwarzen Rock, höre eine blecherne Stimme. Und alles, alles ist verflogen. Wieder das eisige Rieseln, der unentrinnbare Gedanke: er stirbt! Und dicht neben mir steht auf einmal ein Schatten. Ein grünes Auge – ein königlicher Nacken . . . Ich könnte den Schatten berühren, so deutlich, so nah ist er mir. Ich möchte es nicht mal . . . Aber der da drüben darf ihn auch nie wieder berühren – nie wieder!

Wir sind zur Stelle.

Es ist ein kleiner, lauschiger Platz im Grünen, mit tanzenden, neckischen Sonnenlichtern und zahllosen Krystalltropfen auf schilfigem Gras; der Morgenwind fächelt, die Kiefernnadeln raunen. Ein kleiner, lustiger Buchfink hüpft unermüdlich von Ast zu Ast. Unsre Ankunft sondert die Herren sofort in zwei Gruppen; Testorff und der Regimentsarzt der zweiten Gardekürassiere ist die eine, zu der wir mit stummem, kameradschaftlichem Händedruck treten – die andre Serner mit zwei beiderseitigen Bekannten in Zivil und einem sehr eleganten Assistenzarzt. Man erwartet einen schlimmen Ausgang, darum dieser grand luxe von Eideshelfern und Doktoren, der nicht einmal ganz kommentmäßig ist. In der Mitte schleift der Unparteiische, ein mittelalterlicher Infanteriemajor, finster blickend seine Sporen durch den Tau. Die beiden Gegner wechseln einen gemessenen Gruß, darauf nimmt die feindliche Gruppe drüben ihre unterbrochene Unterhaltung auf – etwas ganz Gleichgültiges, wie sich's gehört. Wir hüben tauschen flüsternd Wetteransichten – das Büchsenlicht könnte auch nicht besser sein. Die Herren sind mit meinem 98 Aussehen zufrieden, obgleich ich selbst fühle, daß ich sehr blaß sein muß.

Der Major kürzt jetzt den Promenadenschritt, zieht die Uhr, die Sekundanten desgleichen. Es ist so weit. »Ich bitte die Herren Beteiligten, sich hierher zu bemühen.« Die Gruppen schlendern ohne Eile nach der Mitte; rechts und links bilden sich zwei strenggeschiedene Halbkreise um den Unparteiischen. Der Brave fühlt sich ganz auf dem Exerzierplatz, wartet stirnrunzelnd, bis das letzte Räuspern verstummt ist, rückt dann kommißmäßig zusammen und sieht uns der Reihe nach scharf an. Kurzer Gegengruß für die Gesamtheit . . . »Meine Herren! Es ist ein sehr bedauerlicher Anlaß, der uns hier so früh versammelt hat.« – Pause. – »Ich habe die Pflicht, Sie, Herr Graf Serner, und Sie, Graf und Edler Herr von Carén, noch einmal zu fragen, ob Sie gewillt sind, einen friedlichen Ausgleich eintreten zu lassen? Es ist nämlich keineswegs der Allerhöchste Wunsch Seiner Majestät des Königs« – die Uniform markiert bei diesem erlauchten Namen stramme Haltung, das Zivil lüftet den Hut –, »eine Entscheidung der Waffen in Ehrensachen zu wollen, solange eine andre Lösung noch möglich ist. Meiner Ansicht nach ist diese Möglichkeit immer vorhanden, wenigstens häufig. Darum geb' ich den Herren noch einmal zu bedenken, daß eine ehrliche Bitte um Verzeihung und eine ebenso ehrliche Annahme für Offiziere und Edelleute sowohl im Interesse der Armee als des Standes ist. Ich frage Sie also, meine Herren« – wieder volle Namensnennung –, »ob Sie zu einem gütlichen Ausgleich bereit sind, oder, wenn nicht, ob Sie wenigstens mildere Duellbedingungen eintreten lassen wollen? Ich rate Ihnen ernstlich dazu . . .«

Es ist die gebräuchliche Harlekinade für das Gesetz. Wenn auf diese etwas heisere Rede Serner 99 sich zu einem Pardon bequemte und ich mich zu dessen Annahme, so würde die ganze illustre Gesellschaft, den Unparteiischen voran, sich auf dem Absatz umdrehen und uns Feiglingen wortlos die Rücken von Ehrenmännern zeigen.

Dazu ist übrigens keine Gefahr. Wir Duellanten schweigen beide die halbe Minute der Höflichkeit; für uns war die ganze Rede unnötig. Dann sagt Serner als der erste: »Nein!« – kurz und gemessen; er will eben mein Blut sehen. Ich mache nur eine Handbewegung; zu sagen habe ich bei dieser Gefechtslage ja nichts mehr.

Die Sekundanten starren feierlich auf die Erde, der Unparteiische schüttelt unzufrieden den grauen Kopf. Darauf strammste Kommißhaltung, Hand am Helmschirm. »Ich habe meine Pflicht gethan – ich bitte die Herren Sekundanten jetzt, die ihre zu thun.«

Die Halbkreise lösen sich wieder in regellose Gruppen, und langsam geht es auf die alten Plätze zurück. Die Sekundanten messen die Entfernungen ab mit Sprungschritten, es sieht beinahe komisch aus. Der Major paßt auf, rügt einen Schritt, dann empfängt er dienstlich jede Meldung. Ich amüsiere mich damit, zuzuschauen, wie der Regimentsarzt sein Besteck unter einer Kiefer auspackt und die Uniform aufknöpft; er thut's ganz geschäftsmäßig. Die Sekundanten prüfen pflichtgemäß die Waffen, etwas lässig, aber man spürt doch den Zwang, – ein Hahn knackt in die Ruhe; es ist freilich ein merkwürdiger Laut, und der Wald scheint zu zittern. Mein Herz schlägt ruhig – es ist nicht die rechte Ruhe. Darauf gehe ich auf und ab, die Hände auf dem Rücken, als wenn mich die ganze Geschichte nichts anginge. Serner drüben stiert mit gepreßter Lippe auf eine Baumwurzel, er ist rosig angehaucht und von der 100 scheinbaren Sicherheit, die große Aufregung giebt. Wie er sich den schwarzen Rock bedächtig aufknöpft, weil ihm die Schulter dann freier beim Schuß ist, merk' ich, daß seine Hand leicht zittert. Ich mache, den Arm schwingend, einen ähnlichen Versuch. Bei mir thut's auch der geschlossene Rock, weil er mir die Achsel nicht beengt. Den besseren Schneider habe ich doch . . . Aber das Monocle lasse ich in die Tasche gleiten – zum blutigen Ernst taugt das Spielzeug nicht. Als ich die Hand herausziehe, schaue ich verstohlen nach ihr: sie zittert nicht.

Die Vorbereitungen dauern lange. Es kommt mir wenigstens so vor. Endlich – fertig! – Wir Gegner treten auf Mensurabstand, während die Sekundanten sich auf die weit vorgezogenen Flügel zurückziehen, der Unparteiische mit. Noch einmal heiser: »Das Kommando wird sein . . .« Die Kommißstimme wiederholt die Bedingungen übertrieben fest.

Erster Gang. Ich fühle die Pistole in der schlaff herabhängenden Linken merkwürdig schwer; der Kolben ist warm, wenn aber die tastenden Finger das Metall am Beschlag berühren, geht's eisig durch die Nerven. Kommando! Die Waffe fährt in die Höhe. Serners Knopfreihe schimmert in der Visierlinie. Weiß Gott. warum diese ruhige Hand zaudert. Ein Knall . . . oder zwei . . . oder zwei zugleich. Ich weiß es nicht. Ich höre nur ein Sausen, fühle einen ziehenden, scharfen Schmerz am Ohr – ein warmer Tropfen rinnt. Serner hat's gut gemeint. Einen Zoll weiter links, und ich hätte einen sehr eiligen Beichtvater haben müssen. So ist's nur ein Streifschuß, der mir das rechte Ohr hart an der Haut mäßig zerfetzt hat. Ich selbst habe in der letzten Sekunde mit vollem Bewußtsein in die Luft geschossen. Es war weder Schlappheit noch aufzuckendes Reuegefühl – 101 ich konnte einfach nicht anders. Es soll nicht wieder vorkommen, denn das hieße mit dem eignen Kopfe spielen. Jetzt, Karlchen, will ich Blut sehen!

Der Arzt hat mir gelbgrünes Jodoform auf die Wunde getupft. Der süßliche Geruch davon und die braunen Blutflecken auf dem Kragen sind mir das einzig Unangenehme. Die Fortsetzung des Zweikampfes wird erklärt. Wieder fühl' ich den warmen Pistolenschaft in der blutlosen Hand – aber die Kühle des Stahls ist diesmal meinem Zeigefinger erquickend.

Zweiter Gang – Kommando! Ich bin bedenklich ruhig. Ich sehe, wie Serner die Waffe emporreißt: Blitz – Rauch – Knall; sicher ebenso gut gemeint, leider hat die nervös gewordene Hand die freundschaftliche Absicht schlecht ausgeführt. Denn hinter mir prasselt's im Unterholz. Mein Arm ist ebenso schnell hochgeschnellt, im aufwirbelnden Rauch sucht das Auge vergebens das tödliche Ziel. Da blinkt drüben etwas Glänzendes in der Herzgegend – sein Monocle ist es, ich weiß es. Mein Finger zieht bedächtig durch wie auf dem Scheibenstand. Bums! Der Schuß muß sitzen. Ich sehe auch durch den Pulverdampf, wie Serner zuckt – sich zusammenreißt – kerzengerade steht (mein Gedanke fragt nur: wenn er bloß leicht verwundet wäre?) – jetzt schwankt er, die Pistole fällt zu Boden – er setzt die Füße voreinander, torkelnd wie ein Trunkener. Ehe die zuspringenden Sekundanten ihn halten können, stürzt er vornüber ins Gras, mit einem hellen, leisen Aufschrei wie eine kranke Katze . . .

In der Sekunde hat sich unsre korrekte Ordnung gelöst. Die Aerzte reißen den Körper in die Höhe, legen ihn auf den Rücken; es ist, als wenn sie's mit einer Gliederpuppe thäten. Mir stockt der Atem. Die Nerven verlangen auch ihr Recht. 102 Als der Regimentschirurg dem Verwundeten die schwarze Weste öffnet mit einem Ruck, der die Knöpfe sprengt, ist das weiße Hemd an der Brust nur noch ein riesiger dunkelroter Fleck, der gierig und unaufhaltsam sich weiterfrißt. Mir kommt ein gallebitterer Geschmack in den Mund, der blaue Himmel schwankt – es ist die Reaktion meines zerrütteten Nervensystems, nicht des Mitleids. Als ein scharfes Messer die vollgesogene Leinwand auftrennt, wird der Einschuß sichtbar, eine winzige Oeffnung, aus der dickes Blut quillt. Serner ist ein Sterbender. Die Aerzte halten ihm einen Aetherschwamm vors Gesicht, der Verwundete macht die gebrochenen, glasigen Augen noch einmal auf, versucht, uns zu erkennen, schüttelt matt den Kopf und legt sich auf die Seite. Blaßgewordene Männergesichter sind auf ihn gebeugt, meines auch. Das Blut fließt langsamer, ein Arm zuckt – dann bewegt sich nichts mehr, der Körper hat sich gestreckt.

Mein Feind ist tot. Aber die blassen Gesichter wollen es noch nicht glauben. Erst als sich der knieende Regimentsarzt erhebt und sein assistierender Kollege die blutbesudelte Hand durchs Gras zieht, wissen sie es. Ein Augenblick der Totenstille. Dann sagt eine fremde, spröde Stimme: »Schuß ins Herz. Da war nichts zu machen . . .« Und ich sehe noch einen großen, grauen Käfer aus dem Grase an dem Leichnam hochklettern. Dieser Käfer raubt mir fast die Besinnung. Darauf wird ein Gebet gesprochen, denn wir sind alle fromme Leute. Die Herren drücken mir herzlich die Hand – der Lebende ist ja zu bedauern. Testorff geht zu den Wagen. Einer schwankt auf holperigem Boden heran. Der Tote wird über das Gras halb geschleift, halb getragen – der Kutscher lüftet den hohen Hut – eine Wagenthür klappt. Die letzten auf der kleinen, lauschigen 103 Waldlichtung sind Twesten und ich. Ich sehe mich noch einmal um. Der kleine, lustige Buchfink, den der Pistolenknall verscheucht hatte, hüpft wieder emsig von Ast zu Ast . . . Ein Arm legt sich unter den meinen, zieht mich sanft fort: »Louis, er wollte es ja nicht anders.«

Wir fahren stumm auf dem alten Wege im hochgeklappten Landauer zurück. Die Weltstadt sagt mir nichts mehr, Twesten kaut an seiner kalten Zigarette . . . Reue empfinde ich nicht. Das Leben kommt mir nur schal vor. Und das alles für ein Weib, das ich nicht mal liebe? . . . Begreif's, wer kann. Wir halten vor meiner Wohnung. Wie kurz doch die Rückfahrt war und wie gedankenlos. Und weiter kann ich nichts denken. Dann frage ich mit mechanischer Höflichkeit: »Willst du bei mir etwas trinken, Georg?«

»Einen Cognac gern. Dies Frühaufstehen macht einem flau im Magen.« Als Offizier ist der's doch wahrhaftig gewöhnt! Die belegte Stimme sagt auch ganz etwas andres.

Auf meinem Schreibtisch liegt ein Brief. Vielleicht von der schwarzen Frau – jetzt könnte ich sie auch annehmen. Es ist eine gerichtliche Ladung für Mittwoch zur Testamentseröffnung. Na, reich wären wir ja dann wieder! Wenn das ein Trost ist . . .


Na, reich wären wir ja dann wieder . . . Was du nicht alles weißt, Louis! Jetzt begreife ich wenigstens, zu welcher Mitteilung mich meine Tante an ihr Sterbebett beschied – und warum sie durchaus noch den nächsten Tag erleben wollte. Ich trag' dir das erstere nicht nach, Schildkröte – du hast ja deine weisen Entschließungen noch im letzten Moment ändern wollen, – schade, daß du erst daran dachtest, als es zu spät war! . . . Die Familie 104 Le Fort hat mir entschieden kein Glück gebracht, ich ihr auch nicht.

Wenn die Justitia verschiedene Augen zudrückt, habe ich ein gutes Jahr Festung vor mir. Und dann? – Der Orkan, den ich rief, ist gekommen und verflogen. Auf einen fremden Strand hat er mich auch gespült, ganz wie ich wollte. Es sei . . . Ich muß ein andrer werden innerlich und äußerlich.

Darüber vergesse ich beinahe das Thatsächliche, Ich bin enterbt. 105

 


 


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