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Vom Westen nach dem Osten – ganz nach dem Osten! Ich hatte das vorausgesehen. Wie's aber auch enden möge – ob es nun Episode oder Entwicklung für mich bedeutet –, gut war es doch. Wie man jede Erfahrung weit billiger kaufen könnte und doch wiederum nie zu teuer kauft, so brauche ich nicht erst zwei Millionen und innerlich noch weit mehr zu verschwenden, um zu erkennen, daß ich ein Laffe war. Daß ich es nicht mehr bin, mich freut's.
Die Vergangenheit kümmert mich wenig, weil sie mich nur drücken kann, nicht frei machen. Und ich habe den Wunsch, zu fliegen, wenigstens den Kitzel am Fittichansatz, wiewohl ich noch keineswegs weiß, ob der vom Leben flügellahm Geschossene jemals etwas andres können wird, als wie ein krankes Huhn verzweifelt zu flattern und trübselig zu gackern. Denn etwas fehlt mir ganz sicher noch . . . Vielleicht das Glück oder wenigstens der Glaube an das Glück. Zum Fluge nach der Sonne muß man die Sonne doch sehen können, und ich sehe vorerst nur einen matten Schimmer von dem leuchtenden Gestirn. Auch die Gegenwart giebt mir nicht allzuviel. Es ist ein langsames Gesunden.
Meinen Wigwam habe ich irgendwo aufgeschlagen, 185 aus bewußter Opposition mitten im Riesennest. Natürlich anständige Zimmer, aber in einer Straße und bei einer Wirtin . . . Sprechen wir nicht davon! . . . Wollte ich meine gräfliche Visitenkarte an der Korridorthür festnageln, so würde sie dicht neben einer Nini X. prangen, die ich tags noch nie sah, nachts zuweilen höre, und gegen deren Patschuliparfüm ich die Schlüssellöcher verstopfe. Meiner Gräflichkeit mißtraut man hier. Selbst die Polizei wünschte dringend meine persönliche Aufwartung, die freilich damit endigte, daß der sehr bramsig von einem Lehnstuhl aus dirigierende Reservelieutenant sich plötzlich erhob und um Verzeihung bat, mich bemüht zu haben. Das Monocle ist meinem starr gewordenen Auge Bedürfnis, Uniform mußte ich bei der Frühjahrskontrollversammlung zeigen – das sind hoffentlich die letzten Anhängsel vom Grafen der Aeußerlichkeit. Bei meiner Wirtin hat allerdings die Demaskierung Eindruck gemacht: die ganz reizende siebzehnjährige Tochter serviert mir seitdem allmorgendlich den Kaffee in einem Negligé, auf das ich nicht reagiere; der etwas versoffene Tischler im Erdgeschoß sagte angesichts des sechsten Garde-Ulanen nur hörbar: »Potsdamer Stallknecht!« Das trifft mich alles nicht. Jedenfalls kann man in einem Sumpfe wohnen, ohne sich auch nur eine Sohle zu beschmutzen.
Heimisch fühle ich mich in der Mietskaserne nicht. Wie ein Musterknabe die Schulstunde nicht erwarten kann, so sehne ich mich nach der Oberspreevilla, die mir wirklich viel giebt. Dort werde ich allmählich zum denkenden Menschen erzogen, nicht schulmeisterlich, aber mit einer milden Ironie, die mir manchmal recht weh thut. Macht nichts! ›Gute Medizin schmeckt bitter,‹ sagte meine Tante, und darauf starb sie . . . Es ist ja auch nicht etwa der gute Mensch 186 allein – es ist noch etwas andres – die verschwiegene Spree, der Kiefernwald, der Qualm, der sich über ihm ballt und Berlin verkündigt. Man ist weit genug, um nicht verschlungen zu werden, nahe genug, um zu erkennen. Gerade in der Lage liegt wohl das Geheimnis dieses anspruchslosen Landsitzes. Graf bin ich hier jedenfalls nicht, auch nicht sechster Garde-Ulan, und wenn ich zufällig die grünseidenen Strümpfe zeige, gleitet ein feines Lächeln um einen feinen Mund. Ich lächle mit – das ist schon eine große, große Wandlung!
Die Le Fortschen Mädels sehe ich sehr wenig, sie mögen keine Zeit für mich haben oder kein Interesse. Als die Grünäugige sich neulich wirklich überwand, mit mir zu sprechen, war's eine fremde, befangene Stimme. Sie frißt alles in sich hinein! Der Stimme hört man das an. Höre ich's nur allein? Auch daß sie mit zwanzig Jahren den naiven Jugendreiz bereits verloren, das kann ich allerdings nur allein verstehen. Thut mir's leid? . . . Nein . . . Die blonde Ethel hat wohl Katzenjammer von wegen ihrer Prophezeiungen. Daß Madame sie schlecht, sogar infam behandelt, das merkte ich aus den wenigen Malen, wo ich Mutter und Töchter zusammen sah. Alles, alles nur für die eine! Und aus der wird doch nie etwas im Sinne von Frau Le Fort . . . Uebrigens von einem Vermögensniedergang bei der Familie keine Spur! Die Millionen rieseln goldiger als je. Selbst die Gnädige ist angesteckt. Ohne Equipage geht's auch nicht mehr. Ich selbst habe die Karossiers ausgesucht, zwei ganz edle Trakehner Kohlrappen mit dem Geweihbrand auf der Hinterhand – natürlich vom Juden bezogen und nicht mal übermäßig teuer; ein Kamerad von den Kürassieren hätte mich um ein Haar mit zwei spatlahmen Galizier Vollblutjuckern 187 hineingesenkt, daß mir die Augen thränten. Ja, die Gentlemänner!
*
Heute, es ist Sonntag. Ein Sonntag, wie ich ihn liebe: warm, still, der Himmel mit einem leichten Dunstflor. Frühmorgens im Kiefernforst alles festtäglich, stumm, die Gräser betaut. Käfer klettern ungeschickt an den Halmen, ein Raubvogel streicht dahin. Auch die Natur scheint am siebenten Tage auszuruhen. Zuweilen fühle ich ihren weichen Atemzug an der Wange – so träumerisch, versöhnend. Von irgend einer Nebenvilla her gackern Hühner, verschlafen die Hennen, ein Hahn kräht keck. Die Spree fließt gelb und träge zwischen ihren Waldufern mit einem leisen, leisen Sonnenlächeln auf den kleinen Wellen und einem leichten, leichten Säuseln im Gebüsch. Der Flieder blüht ab. Es ist die schönste Sommerszeit. Bei der Zigarre und dem Glase Wein träumt sich's gut auf der Terrasse. Keine Zillen, keine Menschen, selten ein kleines Segelboot, das lautlos vorübergleitet . . . Ja, die Natur! Sie ist doch das einzig Wahre. Wer noch zu ihr zurückfliehen kann, der thue es bei Zeiten. Sie ist freilich unerbittlich, mordet grausam und langsam, aber am Festtag merkt man nichts davon. Da scheinen auch ihre bösen Instinkte zu ruhen, und sie atmet Frieden.
Ich wäre gern den ganzen Sonntag in der Oberspreevilla geblieben. Aber da kam schon um zehn Uhr die Blonde mit irgend einer Bestellung von der Mutter, frisch, festtäglich, in dem rosigen Gesicht den brennenden Wunsch, den Tag zu genießen. Sie hat wenig Sinn für die Natur, sie bedeutet ihr nur, sich vergnügen, tollen, vielleicht auch einen schweigsamen Spaziergang mit dem Mann, den sie gern hat. Ich proponiere ihr einen Waldbummel, noch ehe die großen Menschenmassen wie 188 Heuschreckenschwärme den Forst füllen. Sie möchte schon – nur nicht mit mir.
»Wollen Sie heute nachmittag ausfahren, gnädiges Fräulein?«
»Mit den Rappen, die Sie besorgt haben? . . . Glauben Sie denn überhaupt an den ganzen Millionenschwindel? Ich glaube an gar nichts! Ich halte die Pferde für einen Trick von Mama. Kurz vor der Pleite geht's immer sehr hoch her . . . Aber wallfahrten Sie doch nach der Händelstraße, Herr Graf! Mama könnte nichts erwünschter sein als eine Wagenfahrt mit Ihnen durch den Tiergarten. Und Asta thun Sie damit auch einen Gefallen. Die kennt Ihre Vorliebe für so einen Sonntag im Osten, darum will sie nachmittags den Onkel heimsuchen. Am Sonntag gehen anständige Menschen doch nicht aus, sondern bleiben in Berlin, in der Familie oder im Restaurant, nicht wahr, Herr Graf? Ich . . . ich gehe zu einer . . . Freundin . . .«
Dabei flutet es rosig von dem Stirnhaar über die weiße, reine Haut, und die Augen flackern unsicher. Sie lügt! Sie geht mit ihm – wie's in der »Ehre« heißt – und die Folgen werden auch wohl danach sein.
Nach dieser Unterredung streiche ich die Segel. Der Onkel hält mich auch nicht übermäßig herzlich. Er hat einen Patienten, mit dem es zu Ende geht, und der sich von einem billigen Arzte alle Stunden das Gegenteil versichern lassen möchte. Als ich schon eine halbe Meile weg bin auf dem Wege nach Berlin, werde ich noch zurückgerufen. »Aber, Herr Graf, heute nachmittag bin ich frei. Wir könnten uns dann hinter dem Müggelsee treffen. Sie setzen irgendwo über . . . da ist ein Forsthaus . . . auf der Spezialkarte finden Sie es, Weg nicht zu verfehlen. Um acht Uhr. Ist es Ihnen recht?«
189 Ich sage zu, nicht von Herzen, aber ich thue dem Herrn Lister gern einen Gefallen und möchte auch der Grünäugigen das Feld nicht überall räumen. Er wird es ihr ja sagen, wen er dort erwartet, und sie wird hübsch nach Hause gehen. Und wenn sie nicht geht? . . . Aber sie geht ganz gewiß!
»Also präzise acht, Herr Doktor?«
»Etwas früher oder etwas später auch, Graf Carén. Dem unglücklichen Menschen ist der Arzt ja eine Beruhigung, und mir thut das Doktorspielen von Zeit zu Zeit wirklich wohl.«
Ich steure gen Berlin. An einem schönen Sonntag ist Berlin eine tote, graue, reizlose Stadt mit geschlossenen Läden und gelangweilten Menschen meiner Sorte, die nicht gerade kurzweilig ist. Ich gähne mich im Monopol mit einem Husarenlieutenant an, der stumpfsinnig wie ich vor einer halben Pulle Pommery hockt – ein harmloser Dachs, den ich auch anrede. Dann spielen wir noch eine Partie Billard, und dann endlich ist's so weit, das heißt, ich bin am Ende meiner Kraft, zu langweilen und gelangweilt zu werden.
Es ist Spätnachmittag. Die Bahnhöfe atmen auf, der Billetknipser döst. Aber noch liegt unter den stickigen Hallen der Geruch von Waschkleidern, Schweiß, schlechten Zigarren, das abgestandene, süßliche Jahrmarktsparfüm, das die gedrängte Menschenmasse am Sonntag aushaucht wie eine naß gewordene Schafherde den Wolldunst. Ich bin allein im Coupé; auch da der nivellierende Berliner Sonntagsgeruch, der keine Klassenunterschiede kennt, aus den Plüschpolstern kriecht, die stummen, grauen Häuser entlang zieht und nur widerwillig sich in der reinen Luft draußen verflüchtigt. Die Weltstadt entflieht – ein großes, unheimliches Gespenst – weil die Arbeitshände feiern, der dröhnende 190 Hammerschlag schweigt. Berlin ist tot, der gewaltige Krater scheint ausgebrannt, nur der dünne Rauch der Essen zieht wie letzte erlöschende Lebenskraft des gewaltigen Vulkans den Sonnenhimmel in schmutziger Linie entlang. Berlin ruht, Berlin feiert. Es liegt beinahe etwas Schwermütiges in diesem wach träumenden Koloß. Ist der schlummernde Riese des Sonntags am beginnenden Werktag wirklich wieder so gefährlich? Ich möchte nein sagen angesichts dieser grünen Ebene, die sich so weit und dunstig dehnt, verschwiegenes Sumpfland hier, bewaldeter Sand dort. Am Horizont verschwimmt das junge Graugrün der Kiefern mit dem warmen Ton des Himmels: die freie große Natur, deren Wehen ich spüre, während mildes Feiertagslicht das hellschimmernde Korn, das zitternde Wiesengras übergleißt. Schwärme von Menschen ziehen durchs Grüne, geputzte Menschen, die Väter mit dem Sonntagsrock und dem schweren Schritt der Arbeit, die Weiber dick, gutmütig genießend oder feierlich eingezwängt in unmögliche Kostüme. Helle Mädchenstimmen in der spitzen Klangfarbe des Berliner Jubels und hübsche, nervöse, bleichsüchtige Gesichter, pikant, unregelmäßig wie die Weltstadt selbst; halbwüchsige Bengels mit einer roten Blume im Knopfloch und auch wieder adrette junge Leute, die Distinguierten ihres Standes, denen die Rekrutenzeit für ewig das Rückgrat steif machte und geschmeidig. Die erzogen wir. Unter ungeschickten Kinderhänden knicken die leichten Aehren, weil die schönsten Kornblumen immer so tief drin im Getreide wachsen, aufgeregte Jungens stampfen sich förmlich Gassen ins Korn – der köstliche Zerstörungstrieb der Jugend, den das helle Aufjauchzen so harmlos und verzeihlich macht. Zuweilen schleicht auch ein Paar auf Schmugglerwegen, schweigsam, eng aneinander geschmiegt, mit einem breiten Lächeln 191 er, mit unsicherem Augenaufschlag sie. Das Berlin der Arbeit freut sich, es hat ein gutes Recht dazu! Die Produktionskraft Deutschlands so dicht, so festtäglich, so frisch in der sprossenden Natur – ist das nicht ein gutes Omen? Ich gönne den Leuten ihren Sonntag von Herzen, ich verstehe den unverständlichen Jubel, selbst den trunkenen Schrei. Was die schmierigen Maschinenräume, die schwere Arbeit schweißtriefender Werktage an gesundem Trieb zurückhielten, jetzt kommt's heraus. Berlin ist groß und gut und der Sonntag der reinigende Strom, der allen Wochenschmutz wegnimmt. Berlin, das große Berlin, liebt die Natur, und in ihr verflüchtigen sich all die Miasmen, die ihm der Weltstadtbrodem eingeimpft hat.
Und dann sehe ich wieder genauer hin, sehe diesen Osten ohne Festtagsfreude, ohne täuschenden Sonnenglanz. Und da ist die Güte und Größe weggewischt. Ich sehe nur die mißfarbigen Polypenarme, die der Dunstriese ausschickt, die Ebene zu umklammern, zu pressen, zu erwürgen. Sie recken sich immer weiter – grau, zahllos, unendlich, bald glänzender Schienenstrang, bald schwarze Baracke, bald einsames Haus. Wie sie's auch nennen mögen, wie harmlos das einzelne auch erscheint, es sind doch die fabelhaften Polypenarme, die Saugnäpfe, die die Natur aussaugen, zum Sklaven machen. Und was noch von der Natur übrig ist, das ist auch nicht mehr Natur, das ist ihr Zerrbild, eine sumpfige Wiese, ein dürftiger Streifen Ackerland, die kümmernde märkische Kiefer, die sich krümmt und verwächst und in der Sonne dorrt. Es ist nicht der arme Boden, der gelbe, tote Sand allein, es ist der Gifthauch Berlin, unter dem die Heide siecht . . . Ja, Gift, Gift! Jetzt fühl' ich's auch. Immer bei der Größe das Gift! Wer das eine bewundert, 192 der liebt auch das andre und kann nicht anders. Ich habe das am eignen Leibe durchgemacht. Ist dieser Haß, den ich jetzt gegen Berlin empfinde, nur der Zwillingsbruder der Liebe, die ich für Berlin einst empfand? Oder bin ich die Kammerdienernatur, die kein Heldentum anerkennt, weil sie die Größe mit dem kleinlichen Dienstbotenauge mißt?
Es ist gut, daß der Vorortzug leer ist und eilig. Das vereinsamte Geläuf von Carlshorst zieht vorüber – Kiefernwald, sumpfiger Busch. Die Polypenarme sind kurz geworden. Aber den Gifthauch fühle ich noch, wenn er auch dünner wird. Endlich Friedrichshagen!
Da ist wieder das tierische Gewühl, das undefinierbare Sonntagsparfüm. Das drängt und stößt sich auf dem Bahnhof und schreit und witzelt. Im Kiefernwald daneben das lärmende Gelage, der ungenierte Hemdärmel, das Bierfaß, die schwitzende, rotgedunsene Fröhlichkeit; die Kaffeegärten, ein summender Bienenschwarm mit Tassengeklapper, quäkenden Kindern, monoton aufschlagenden Skatfäusten. Das ganze baumbepflanzte Nest scheint ein vergnügtes Durcheinander, ein Sonntags-Berlin im Grünen mit Jahrmarktslärm und Jahrmarktswitz, ohne einen Schimmer von wirklicher Naturfreude, ja ohne den Wunsch. Ich stehe mal wieder fremd den Massen gegenüber.
Ueber die Spree muß ich auch, die hier einfließt. Die Kette der rußigen, vollgepfropften Dampffähre knarrt, das tiefe, ruhige Wasser glänzt, frischgemalte Bootsborde leuchten, ein Segel klappt träge an eine Rahenstange, geschickte, leichte Ruderschläge, die eine lange, verschwiegene Furche ziehen, daneben peitscht ein ungefüger Riemen die Flut, daß die Tropfen weithin spritzen und die weiß gewaschenen Jungfrauen im schwankenden Kahn kreischen. Teergeruch 193 liegt in der Luft, erfrischend, geheimnisvoll wie in einem Seehafen, der Welten verbindet, und wo jede plätschernde Welle einen Gruß aus weiter Ferne zu summen scheint. Und es ist doch nur der Müggelsee – der echte märkische Landsee – eine blinkende, tiefe Riesenschale, zur Rechten die Müggelberge, Sandhöhen mit dürftiger Kiefer und stickiger Sommerluft, dann flüsterndes Schilf, darüber emporwachsend Hochwald, Dickung; weit drüben taucht der Kirchturm von Rahnsdorf voll dörfischer Poesie aus der Flut; links wieder Grün, die roten Ziegelburgen der Wasserwerke, zuletzt Friedrichshagen selbst, an den See geschmiegt in reizvoller Linie, mit weißen Villen, Kaffeegärten, schwankenden Segelbooten – die Wannseekolonie der östlichen Geldbarone, aber ohne den aristokratischen Hauch und das verschwiegene Gleißen des Reichtums.
Wir kennen diesen Osten kaum, er liegt uns zu fern, ist zu gewöhnlich oder zu sehr Parvenu, zumal am Sonntag. Am Müggelschloß, das den Spreeausfluß jenseits flankiert – übrigens ein Vergnügungsrestaurant Berliner Stils, nicht etwa die einstige Feste märkischer Edlen –, überkommt mich ein gelindes Grauen. Bis hier war's immer nur das harmlose Berlin, das sonntagberauschte – dort haust das gefährliche, vor dem ich mein Monocle verstecken und meinen Lackschuh unter die Sitzbank der Fähre drücken muß. Die Sozialdemokraten feiern ein Fest, dies heißt ein imponierender Aufmarsch der Massen, der auch heute Protest bedeutet gegen alles Bestehende. Es mögen ihrer viele Tausende sein, deren Dampfer in langen Reihen seewärts liegen . . . Ich habe die Sorte immer gehaßt – das ist das Recht meiner Klasse; ich habe sie bisweilen aber auch verachtet – und das war dumm . . . Das ist ja etwas völlig andres, als ich 194 erwartet! Ich wünschte eine übelriechende, tierische Horde zu sehen, die traditionellen Revolutionsgestalten, die man im Galgengesindel der Nacht, in dem halbwüchsigen Janhagel des Zapfenstreiches zu erblicken glaubt – aber das sind ruhige, anständige Leute, zum Teil ärmlich gekleidet, jedoch rein, – von den sogenannten zufriedenen Arbeitern nur durch das rote Band am Rock unterschieden und die Intelligenz im Blick. Da ist Disciplin, Unterordnung, Vernunft. Was diese tausend Hirne gebären werden an Lastern, Unthaten und Wahnsinn, wenn sie überhitzt losgelassen sind, das mag ein andrer ahnen. Ich halte mich an das Geschaute. Dies Ameisenvolk, Mann, Weib, Kind, das das Sandufer des Sees hier bevölkert, im Hochgefühl, in stolzer Freude, im sicheren Bewußtsein der Macht seiner Masse. Das hungernde Gesindel, das rauh nach Brot schreit, die Bäckerläden stürmt, die Polizisten massakriert, das schießt man mitsamt seinen Barrikaden zusammen, wie sich's gehört. Demgegenüber haben wir die Macht und auch das Recht; ein einziger Zug meiner Lanzenreiter säubert mit flacher Klinge eine ganze Straße dicht gedrängt von solchen Hungerleidern. Oder man giebt ihnen ihr Brot, und der volle Magen macht sie vielleicht friedfertig, wie sie nur der knurrende empörte. Hier aber steht die Jugend, die Intelligenz, die Zukunft dieser Gesellschaft uns in übermäßiger Zahl gegenüber. Die Herde wünscht nicht mehr von den hergebrachten Hirten gegängelt zu werden, sie hat ihre eignen Leitstiere sich gewählt, denen sie opferfreudig folgt, weil die aus ihrer Zucht hervorgingen, sie verstehen. Die Leute wollen das gleiche Recht für alle, nicht auf dem Papier, sondern in Wirklichkeit. Nicht die Zufriedenen und Unzufriedenen, die Armen und Reichen stehen sich gegenüber, sondern zwei 195 verschiedene Weltanschauungen, von denen erst die Zukunft erweisen wird, welche recht hat. Wähnt beileibe nicht, daß der Vergleich von dem regen Geist und der stumpfen Materie hier am Platze sei! Das ist nicht die zusammengelaufene Bande, die sinnlos brüllend die Burg unsrer Vernunft stürmen will, und wir brauchen uns nur gut zu verschanzen, unsre getreuen Garden zur rechten Zeit zusammenzuziehen, damit sie das Gesindel zerschmettern. Unsre Bastille wird genau so schlecht bewacht sein im Momente der Gefahr wie die Bastille von damals. Es ist der Kampf der Intelligenz gegen die Intelligenz, und zwar die Intelligenz einzelner gegenüber der Intelligenz gut geführter Massen. Wer, wie wir, später die Schlacht in der Verteidigungsstellung annehmen muß, der ist nach alter Kriegserfahrung im Nachteil. Der andre Vergleich liegt nahe: die Welle höhlt doch unfehlbar den Fels, den sie nur zu umschmeicheln scheint.
Dieser Sonntag im Osten giebt mir hundert Rätsel auf. Ich fühle mich haltlos, schwankend innerlich, möchte sogar den Arbeiterfäusten recht geben, den Leuten sagen: »Nehmt diesen wohlgepflegten, unthätigen Händen wie den meinen alles weg, denn sie verdienen es nicht besser!« Aber ich kann's doch nicht sagen, kann's niemals, so wenig ich jemals zu denen da drüben gehören kann. Das häßliche Wort »Drohnen« fällt mir dabei wieder ein, das mich und meinesgleichen noch nicht einmal mit dem wahren Namen nennt. Und ich bin doch innerlich keine Drohne mehr, wenn ich auch noch nicht arbeiten will wie Jaromir und viele andre, die sich zu dem arbeitenden großen Berlin bekennen müssen. Dazu bin ich im schlechten Sinne zu sehr Aristokrat, habe ohne mein Zuthun noch so viel von der Zukunft zu erwarten; aber ich habe mich doch wenigstens 196 bemüht, gelernt, begriffen, ich bin der Laffe nicht mehr, und hoffentlich findet die Zukunft in mir einen Mann. Aber was nützt das alles! Wenn ich die Massen hier sehe – es ist doch eine verlorene Sache, dies Bestehende, für das ich einst kämpfen will . . .
Ach, das ist ein verwünschter Sonntag! Ich verzweifle fast an mir und allem und empfand noch vor wenigen Stunden den Kitzel, zu fliegen, nach der Sonne zu fliegen. Wo ist die Sonne? Ich sehe auch nicht einen Schimmer. Ich sehe nur die aristokratische Reaktion meiner Sorte – jetzt gerade mit Monocle und Lackschuhen, unthätig, elegant, an einem Pfeiler der Badeanstalt im märkischen Sande stehen. Und die Leute stoßen sich ironisch an, ein Junge ruft mir naseweis zu: »Jeben Sie mir doch det Fensterglas, drei Ojen sehen mehr als zwee.« . . . Und der Bengel hat ja nur recht mit seinem Hohn! Ich bin ihm auch nicht böse, ich verstehe sogar, daß diese vieltausendköpfige Sozialdemokratie nicht etwa ein Auswuchs unsrer Gesellschaftsordnung ist, sondern ihre logische Konsequenz. Das ist das vernünftige Herdengefühl, das in den Mietskasernen, in den Fabriken, in den Arbeitssälen sich fand, großwuchs zu einem Gewächs der Weltstädte, ohne Vaterland, ohne Glauben. Wo sollten die auch Heimat und Vaterland her haben, sie, die keine eigne Scholle kennen, kein eignes Haus, kein eignes Zimmer, ja vielleicht nicht einmal ein eignes Bett? Wer seine Heimat lieben soll, muß doch erst eine haben. Wem die hundertfenstrige, schmutzige Mietskaserne oder der Schlafsaal der Baracke das Heim sein soll, der muß doch laut auflachen über unser Heimatidol. Und nun gar erst Gott und Glauben! Wir haben ja selbst kaum einen Gott, wir denken an ihn nicht, wenn es uns gut geht, trifft uns aber das Schicksal 197 hart, so knieen wir feige vor dem Gefürchteten. Das Kirchenlaufen ist bei uns Angst oder Mode. Und jene, die in der fünften Etage eine erbarmungslose Sonne sengt, in deren Kellerwohnungen und Höfe das Licht nur als mißfarbener Strahl zu kriechen wagt – die sollten an die gütige Vorsehung glauben, die sie in schmutzigen Arbeitervierteln, in menschlichen Bienenkörben zusammenpfercht, und die ihnen nichts läßt als den Schnaps und das bißchen Liebe . . . Es ist so scheußlich, das einzelne auszudenken! Es muß da eine stagnierende Sumpflust herrschen, eine giftige, fieberschwangere Atmosphäre, wo der Verstand sich unheimlich rasch an dem Gesehenen schärft und die Laster selbstverständlich emporschießen. Denn in diesen Weltstädten giebt's eine unheimliche Menge Gift; fein, zersetzend bei uns, stickig, ekel bei ihnen. Und da ist auch die Achillesferse dieser aufgeschossenen Riesen – sie wachsen wie die Giftpflanzen und verderben sich dabei mit dem eignen Gifte . . . Seit ich jetzt den Osten kenne, ist mein Blick von erschreckender Einseitigkeit . . . Gut, das Bestehende ist faul . . . Ist das Neue wirklich besser? Ich weiß es wahrhaftig nicht . . . Und mir selbst fehlt . . . fehlt? – Das Ziel und der Glaube an das Ziel. Und wenn ich das beides nicht bald finde, so nutzt mir auch alles Verstehen nichts.
Ich habe viel unnötige Zeit am Müggelsee vergeudet. Ich muß mich beeilen, wenn mich nicht der Onkel der Unpünktlichkeit zeihen soll, die er nun einmal nicht liebt. Ein Dampfer, der mich irgendwo am See absetzt, ein Mann, der mir aufs umständlichste erklärt, welchen Weg ich nicht gehen muß, um zu der Fischerhütte zu kommen; der rechte Weg aber ist mir völlig schleierhaft. Doch ich finde den Weg. Vielleicht, weil ich ihn nicht suche und 198 unentwegt meiner Nase nachgehe durch Sand und Gras und Wald, wo die Lagerplätze der Berliner zum Aufbruch blasen. Ich müßte mich sehr irren, wenn ich nicht bei der Schleuse Ethels helles Kleid schimmern gesehen hätte, und zwar dicht neben einem männlichen schwarzen Rock. Es erschien wie ein Phantom und verschwand ebenso. Zum Nachspionieren habe ich keine Lust und keinen Auftrag. Die Kornblumenfee thut ja, was sie will und was ihr das Vernünftige erscheint. Seit heute nachmittag verdenke ich ihr die Passion nicht mehr so ganz. Wer schlecht behandelt wird im Leben, der flüchtet zu den schlecht Behandelten, und alle Enterbten sind Brüder mit einem Heiligenschein. Wenn's nicht eine Jugendthorheit ist, so heiratet sie eben ihren Schatz, ob er nun Jaromir oder anders heißt; nur nichts haben darf er, und lieb haben muß er sie auch. Von den beiden Schwestern hat sie entschieden mehr von der Mutter, vor allem die unentwegte Energie und die realistische Lebensauffassung, allem holden Charm zum Trotz. Vielleicht geht sie auch den rechten Weg. Jedenfalls giebt's einen Mordsskandal mit der Gnädigen, auf den ich nicht begierig bin. Entweder wird 'ne Unglückliche von neuem eingeheimst und direkt in ein Kloster gesperrt, oder sie wird kühl aus dem Hause gewimmelt. Madame hat das Zeug, ihre eigne, ungeliebte Tochter ohne Mitleid hinter einem Zaun verenden zu sehen. Mir thät's wohl leid um das gutherzige Ding. Aber das eigentliche Interesse für sie verflüchtigt sich bei mir merkwürdigerweise immer mehr. Dies Schicksal, ob gut oder schlimm, kommt mir so klein, so komisch vor. Ich denke, es müßte daneben ein andres Schicksal dahergehen – groß, schwer, tragisch – und das müßte das Schicksal der grünäugigen Schwester sein. Asta könnte mir nie leid 199 thun. Zu dem Gefühle langt's nicht . . . Ja, warum erschoß ich denn eigentlich den Serner? . . .
Bis zu dem Fischerhause ist es doch weiter als ich gedacht, und der Wald wird tiefer drin so stumm und so lauschig, so warme Sonnenlichter zucken über das dürftige Gras und möchten mich mehr hineinziehen in den Forst, auf verschwiegene Birschpfade mit singenden Kiefernnadeln und verschlafenem Insektengezirp. Die Versuchung ist da, und völlige Einsamkeit wäre mir ein hoher Genuß nach diesem Nachmittag. Aber ich bin eigensinnig, ich folge einer frischen Wagenspur – hohe, tief einschneidende Räder eines eleganten Wagens –, obgleich ich nicht ahne, was ein vornehmes Gefährt an dieser miserablen Fischerhütte suchen kann. Der Instinkt, das naive, gedankenlose Kindergefühl ist vielleicht bei allen Dingen das beste; mich wenigstens führt es sicher zum Ziel. Die Monotonie der wohlgepflegten Staatswaldung, – diese regelmäßigen, engen, verschwimmenden Baumreihen, diese kahlen, abgezirkelten Lichtungen zwischen den hohen, ernsten Kulissenschlägen – das verliert sich. Der Forst wird heller, das wuchernde Unterholz dichter; der süße Duft blühender Lupinen kommt gezogen, dann schimmert es weich und gelb; es ist ein ganzes Feld der hochaufgeschossenen Schmetterlingsblütler dicht am Waldsaum. Weiterhin grünes Kartoffelkraut; laues, helles Wasser blinkt, wohl einer der zahllosen Landseen des Dahmegebietes. Ein kleines Haus mit Stall und Gemüsegarten scheint sich aus der sommerlichen Flut zu heben. Ich bin am Ziel. Ich sehe nach der Uhr. Ich habe mich stark verspätet. Ausgeschimpft werde ich also. Darum zaudere ich hier noch länger, gefangen von diesem warmen, friedlichen Bilde. Die Sonne sinkt. Die Kiefernstämme leuchten golden, in den Wipfeln glüht's. Kein Laut. 200 Das Wasser ruht wie ein großes, blinzelndes Auge, das schon schläfrig träumt von der warmen Sommernacht. Die Aalreusen liegen bewegungslos auf der spiegelnden Fläche; mitten im See ist ein Schilfeiland, die hohen Halme beben in der völlig windstillen Luft wie träumend. Ein milder Zauber senkt sich mit den Schatten auf diesen Sonntag. Alles so wunschlos, ohne Leidenschaft, ein schlummerndes Genießen, selbst das Fischerhaus so alt und poetisch wie in einem Märchen oder auf einem verblaßten Bilde. Da schnattert drüben im Schilf eine Ente. Ein aufgescheuchter Flügelschlag, ein Brodeln in den Wassern, das mählich verstummt, nur die Aalreusen schwanken noch lange hin und her. Das paßt auch zu dem Bilde, dies aufgescheuchte Wildtier, damit mich die Stille nachher wieder um so weicher umfange. Ich bin ein großer Thor! Einen Moment bin ich's gern.
Ueber das Ufergras vor dem Hause gleitet ein Schatten. Ich sehe eine Frauengestalt, die ein Kind an der Hand führt. Am Wasser bleiben sie stehen, eine weiße Haarsträhne leuchtet wehmütig aus stumpfbraunem Mädchenhaar. Die beiden sprechen keinen Laut, sie rühren sich kaum, sie träumen wohl auch. Aber wie die Frau die schlanke Hand auf den Kinderkopf gelegt hält – es ist staubiges, vertolltes Kinderhaar und ein gewöhnliches Kindergesicht, aber mit dem linkischen Kinderreiz und einem Kinderlächeln – da fühle ich einen Hauch von wirklichem Glück, einen ganz feinen Hauch, den ich erst mit allen Fibern suchen muß. Es liegt so viel Güte in der Frauenhand und so viel Schönheit in der Frauengestalt und so viel Schicksal in dem weißen Frauenhaar . . . Ja, die Natur und das Weib und das Kind: ist das Glück? Wer hätte den Philistergedanken mir je zugetraut – ich am wenigsten. Aber es ist ja 201 Sonntag im Osten. Hier hat dieser Sonntag seinen Zauber, seinen Jugendreiz, den ich in ganz Berlin nie fand, am Müggelsee vergebens suchte – und eine Stunde weiter finde ich ihn. Giebt das nicht zu denken? . . . Ich will Asta Le Fort ihren Sonntag nicht stören. Der Onkel scheint noch nicht da zu sein, und sie selbst erwartet mich kaum. Ich überlege auch, ob ich nicht ungesehen wieder verschwinden soll, und will auch verschwinden und verschwinde doch nicht. Die weiße Haarsträhne hat's mir angethan, die zieht mich, ich will wissen, warum sie weiß wurde. Darum breche ich den Zauber. Ein einziger Schritt genügt schon.
»Gnädiges Fräulein!«
Und darauf wieder dieses Zusammenzucken, dieser halbe Gruß, dies Gequälte in dem grünen Auge, das mich hassen sollte und mich nur zu fürchten scheint. Gerade dieses Gequälte ist mir eine grausame Freude, ein unedles Hochgefühl, das meine Sinne peitscht. Angesichts einer That, die Guten und Bösen dieselben hergebrachten Reuegefühle entlocken soll, nur der ungesunde Kitzel und die nie beantwortete Frage: »Warum erträgt Asta Le Fort den Mann, der ihren Bräutigam kaltblütig erschoß?« Trennt und vereint zugleich auch uns seltsamerweise mein Verbrechen?
Die Stunde ist doch wahrlich nicht zu solchen Grübeleien angethan. Der in den Kiefern drüben verglühende Sonnenball, unter dem der See jetzt zu brennen beginnt, so daß der grelle Wiederschein die Augen beizt und die Schilfhalme ängstlich wogen, enthüllt doch so viel einzige Schönheit, so viel reines Licht. Ich könnte wähnen, ein ganzes Jahrtausend sei ungeschehen, an den stumm ruhenden Wassern säße noch ungeknechtet das Wendenvolk und unser Fischer hier sei einer von ihnen . . . Asta Le Fort 202 und ich tauschen auch kein Wort, bis über den Wald hin ein safranroter Schein zieht, von einer Tiefe, einer Klarheit, daß man die Nadeln der Wipfel spielen zu sehen glaubt. Daß dieser Glorienschein auch gerade über Berlin stehen muß! . . . Die Natur ist eine Komödiantin, und wo sie am grausamsten täuschen will, da malt sie am keuschesten. Der rote Schein verblaßt, die Waldwand färbt sich dunkler, der See glänzt kühler. Darauf giebt's eine gezwungene Konversation bei einem Glase Milch. Asta ist im Wagen hierher gefahren, weil die Mutter es wünschte, des Sonntagspöbels wegen, und weil der Onkel noch bei seinem Kranken saß und darüber vergessen zu haben scheint, daß er auch mich hierher bestellt hatte. Asta ahnte nichts von mir, darum schickte sie auch den Wagen zurück, um mit dem Onkel durch den dämmernden Forst zu gehen. Und der Onkel kommt nicht! Ihr ist das Warten qualvoll, mir peinlich. Bald zehn Uhr. Der rote Schein ist ausgezogen bis zu einem frostigen Mattlila, die Kiefern darunter starren wie düsteres Mauerwerk, der See gleißt tückisch.
»Kommt Ihr Herr Onkel überhaupt?«
»Er hat's fest versprochen.«
»Warten wir also noch.«
Ich würde bis zum Morgen warten, weil ich einen Nachtspaziergang mit der Grünäugigen gar nicht wünsche. Ich sehne mich nach dem Onkel geradeso wie sie. Doch wer nicht kommt, ist der pünktliche Onkel.
So ist die helle Sommerdämmerung niedergesunken, die mächtigen Schatten zittern über dem tauigen Gras, dem dunkeln Wald, dem stummen See. Endlich gehen wir, die Grünäugige wünscht es selbst. Wir müssen nach der Spree zu, was, wie der Fischer meint, das nächste ist, und dort 203 irgendwo übersetzen, irgend eine Station bei Erkner erreichen. Ich werde, wie immer, nicht klug aus diesen detaillierten Wegschilderungen – erst geradeaus, dann rechts ab, dann links, aber nicht den ersten, sondern den dritten Weg, wo die Kartoffeln stehen, und dann wieder rechts, und dann kommt ein Gestell, und dann kann man gar nicht mehr fehlgehen.
Jedenfalls wandern wir schon eine gute Stunde der Nase nach, weil die sich auf dem Hinweg so untrüglich erwiesen hat. Das herb duftende Kartoffelfeld ist glücklich passiert. Darauf schleichen wir auf Fußwegen; der Tau näßt meinen Lackschuh; wo Getreidehalme mir ans Knie schlagen, da fühl' ich's häßlich feucht. Alle fünf Minuten konsultiere ich meine Uhr, die Spree müßte längst in Sicht sein. Und müde sind wir auch schon ein wenig; mir deucht, daß Astas Schritt schleift. Ein sandiger Waldfetzen liegt hinter uns. Die Kiefern malten da gespenstische Schatten auf dem gelben Grunde, jeder Baum schien ein lauernder Feind mit einem raunenden Gefolge unheimlicher Gesellen hinter sich, der Fuß stolperte über Wurzeln. Der Mensch hält sich in solchem Walde mehr zum Menschen, der dumme Witz, der Laut der Stimme selbst wäre Befreiung gewesen von einem schlimmen Alp, aber wir beide, die wir uns vielleicht so viel zu sagen hätten, schleppen uns düster und stumm weit voneinander hin, zwei Verbrecher, denen die That die Kehle schnürt . . . Endlich freies Feld. Wir bleiben stehen, Asta kann wohl nicht mehr. Vor uns breitet sich ein wunderbares Bild aus: der Horizont weit, stumm, ein mattleuchtendes Weiß, ohne Sternenglanz, die Mondsichel schiebt sich an einer Waldecke schmal und gespenstisch in die Höhe. Feuchter Nadelduft wallt, dem sich Getreidegeruch mischt, über uns zieht eine 204 Nachtschwalbe wie ein Schemen. Vor uns das Aehrenfeld, graugrün, schimmernd, unter dem Nachthauch schläfrig schwankend, Welle auf, Welle ab, bis das Wogen in der Dämmerung verschwimmt; wo der bleiche Mond eine Klatschrose küßt, leuchtet es im weichen, träumerischen Rot auf, die blauen Kornblumen nicken. Ich sehe die tauschweren Häupter des Korns zittern, jedes einzeln, scharf umrissen. Das ist auch ein Volk, ein stachelbewehrtes, vielköpfiges, neidisches – und doch gleich! Dem Thoren scheint's gleich, weil all die Halme dieselbe Sonne küßt, derselbe Regen nährt, derselbe Wind zur Zeit des Blühens kost. Aber wer besser hinsieht, dem geht's auf, wie engherzig aristokratisch die große Natur auch hier ist. Nirgends Gleichheit, Ruhe, Genießen! Ueberall der Kampf, das Emporstreben der starken Halme über die schwachen, das erbarmungslose Niederdrücken, der Neid um Sonne und Licht – und unten das gierige Aufsaugen der Feuchtigkeit von den stärkeren Wurzeln, das Vegetieren der schwächeren – überall das rücksichtslose Emporwuchern der Kraft neben dem stummen Siechen, dem ruhmlosen Vergehen der Kraftlosen. Und die Sonne sieht täglich heißlächelnd auf den Kampf und gönnt ihren Segen nur den Starken, Lichtfrohen und tröstet die Schwachen nicht, obgleich sie doch allesamt ihre Kinder sind . . . Ja, die Natur heißt Kraft und Kampf! Die Massen sind eigentlich nur da, damit ihre Häupter recht gedeihen.
Die Grünäugige mag ganz anders denken, doch träumt sie auch. Sie beugt sich nieder, eine Kornblume zu pflücken, dann läßt sie den rauhen Blumenschaft wieder fahren, aus Mitleid vielleicht. Ich selbst liebe abgepflückte Blumen gar nicht, aber ich pflücke doch die nächste und reiche sie ihr. Sie nimmt sie, ohne hinzusehen, und dankt. Als wir 205 weitergehen, läßt sie die Blume ins Gras gleiten. Seltsames Geschöpf!
Die beiden Einsamen wandern weiter. Jetzt läßt uns der Wald nicht mehr los. Er ist kühl und dunkel und atmet schwer. Das tote Karlchen würde mich um diesen Spaziergang beneiden, der ihm nie beschieden war. Mir ist er beschieden, und er macht mir nur Qual. Warum überhäuft mich das Mädchen nicht nach Weiberart mit Vorwürfen, weil ich sie falsch geführt? Warum geht sie still neben mir her, obgleich es ihr schwer wird? Mir sind die Füße auch merkwürdig schwer, der Lackschuh brennt. Die menschliche Drohne mit so wenig Widerstandsfähigkeit hat so viel Existenzberechtigung wie dieser thörichte Lackschuh, der durchweicht ist vom Tau.
Während mir dieser Tag an Erfahrung so viel gegeben hat – zuletzt auch das schimmernde Aehrenfeld, damit ich die ganze Hohlheit meines früheren Lebens begreife und doch wieder die Kraft wachsen wähne, weil ja auch ich zu etwas in diesem großen Haushalt bestimmt sein muß –, ist der königliche Nacken neben mir gebeugt. Hebe dich, königlicher Nacken, ich will's! Denn du bist königlich, bist rein, wie wenig ich auch begreife, daß du dich freiwillig zu diesem Serner erniedrigen wolltest – und ich bin doch weiter nichts als ein Laffe, denn was mich zum ganzen Menschen machen könnte, das ahne ich erst jetzt, wo es unwiderruflich zu spät ist . . . Das Waldesdunkel dauert nicht ewig, und das ist gut; einer von uns müßte sonst zusammenbrechen am Ende seiner Kraft, und ich weiß nicht mal, wer der erste sein würde und was dann geschähe. Die Riesenkronen werden lichter, ein blasser Wasserspiegel blinkt, drüben ein grauer, verschlafener Kirchturm, ein totes Bauerndorf in schwüler 206 Sommernacht gebettet. Aber hüben und drüben Sumpf. Die Spree liegt vor uns, ein bleisilbern Wasserband, in dem breite, grüne Blätter treiben und weiße Seerosen leuchten. Es ist der Einfluß in den Müggelsee, dessen Flut von links durch die Stämme glitzert. Von einem Fährboot keine Spur, so scharf ich auch spähe. Ich rufe: »Fährmann!« – und es hallt über die Wasser; aber keine Antwort. Endlich sehe ich etwas Rotes, entweder eine neue Boje oder das Signallicht eines Vergnügungsbootes. Es muß übrigens ein Boot sein, denn der Reflex liegt unruhig flimmernd auf dem Wasser. Jedoch die Leute darin hören mich nicht oder wollen mich nicht hören. Wir müssen näher an den Fluß. Der Sumpf berührt zwar schon unsern Fuß, dennoch müssen wir tiefer hinein. Ich gehe vorsichtig prüfend voran, unter dem Lackschuh schwankt's unsicher, dann wieder ein Wasserloch, in dem es brodelt, als ich den Fuß aus dem zähen Grunde ziehe. Die Grünäugige folgt auch, und dasselbe Schwanken, dasselbe Brodeln in dem tückischen Sumpf. Aber sie sagt kein Wort; ich könnte ihr auch nicht helfen. An Umkehr denken wir beide nicht, so heimtückisch auch die Spree blinkt und so gespenstisch das Schilf auch rauscht. Jeder weitere Schritt ist ein kleines Wagnis, und in der Nacht scheint auch das gefahrlose Moor schaurig. Das warme Sumpfwasser saugt dabei so gierig. Es wird wirklich gefährlich. Wenn ich Asta tragen würde? Das wäre ein Wahnsinn auf solchem Grunde, außerdem würde sie es nie zulassen. Das rote Licht lockt uns immer weiter, der Wasserspiegel des Flusses glänzt schon ganz nahe aus dem Schilf.
Jetzt rufe ich wieder: »Ist das ein Boot?«
Erst ist die Antwort ein Kichern, und Männer scheinen halblaut Zwiesprache zu halten. Endlich: »Ja, det ist 'n Boot.«
207 »Können Sie uns nach der Friedrichshagener Brauerei fahren?«
Pause. Ueberlegen. »Wat wollen Se denn jeben?«
»Was Sie wollen.«
»Sind Ihnen zwanzig Mark zu ville?«
»Nein.«
»Wer sind Sie denn eijentlich?«
»Das kann Ihnen ja gleichgültig sein, wenn Sie nur Ihre zwanzig Mark kriegen!«
»Na, na, man nich den Bramsigen spielen!«
»Ja, wollen Sie, oder wollen Sie nicht?«
Wieder Kichern – lange Pause. »Ja, unsertwegen. Wenn Se sich recht dünne machen können uf de Bank.«
»Ich habe aber eine Dame bei mir.«
»Un wat for eene! Det sehn wir ja schon lange.«
»So kommen Sie also näher 'ran!«
»Det können wir eben nich, verehrter Herr. Wir haben nämlich en schweres Kielboot, un wir säßen sofort uff 'n Jrunde fest. Waten Se man durch! Versaufen wer'n Se schon nich, wenn Se schwimmen können.«
Es scheint also nicht gerade die erste Gesellschaft Berlins zu sein. Ich sehe mir Asta noch einmal daraufhin an; sie ist ziemlich fertig, so sehr sie sich auch zusammennimmt. Weit, weit drüben grüßt ein Lichtermeer vom Müggelschloß, bis zu dem im riesigen Bogen die dunkle Waldlinie den See entlang zieht. Ein unsicherer Weg von mindestens zwei Stunden – oder durchwaten? Ich hielte den Weg wohl noch aus, aber die Grünäugige . . .
»Wollen Sie wirklich in das Boot, gnädiges Fräulein?«
Sie sagt sofort ja, die Gegenwart andrer Menschen erscheint ihr Befreiung.
»Dann also en avant, aber ich muß Sie tragen.«
208 »Nein!«
»Durchzuwaten, gnädiges Fräulein, wäre lächerlich und unpassend.«
»Nein!«
Aber der Osten haßt Zimperlichkeiten, und ich hasse sie heute auch. Die Grünäugige kann ja im Augenblick, wo sie auf dem Boot ist, vergessen, daß ich sie trug, wie ich das auch vergessen werde. »Gnädiges Fräulein, seien Sie verständig!«
»Herr Graf, lassen Sie mich!« Das ist nicht das rechte Drohen, das ist etwas andres noch – auch nicht Angst allein . . . Und da berühre ich ihre Taille, leicht, geschmeidig, wie man seine Dame beim Tanz faßt. Sie zuckt im Augenblick zusammen – zittert.
»Graf Carén!« Es ist ein leiser Schrei – so merkwürdig weh. Aber gerade dieser Ton elektrisiert mich. Ich kann sie nicht mehr loslassen, ich packe sie fester, hebe sie auf. Sie wehrt sich nicht, läßt's kraftlos geschehen, nur den Kopf mit den geschlossenen Augen wendet sie weit weg. – Es ist ein kurzer Weg auf sandigem Grunde; das schwarze Wasser geht mir bis übers Knie, und eine Seerose zerrt mich. Ich jedoch fühle es kaum. Ich fühle nur das Zittern der Frauengestalt – dies unverständliche Zittern. Es ist das Grauen vor meiner That, und doch wieder ein andres Grauen. Das Blut steigt mir heiß zu den Schläfen, ich presse die schönen Glieder fester. Der Lebemann hat damit nichts zu thun. Aber als uns die Leute ins Boot helfen, da tanzen mir wie im Rausch Lichter vor den Augen. Warum zittertest du, grünäugige Asta? Ich zitterte nicht, und doch schoß mir während des Watens der Gedanke durch den Kopf: Welch teuflische Ironie liegt doch über diesem ganzen Tage. Ich trage die Braut eines Mannes in meinen Armen – 209 einen zitternden Körper – und ich erschoß diesen Mann nur deshalb, weil ich einen einzigen Händedruck sah. Und sie weiß es – und sie wehrt sich jetzt nicht! . . . Zittert sie vor mir oder vor sich? Hat sie ein Verbrechen auf dem Gewissen, das sie schwach macht gegenüber dem größeren Verbrecher – oder ist's der Mann . . .
Die guten Leute im Boote wollen sich über die Expedition totlachen. Es ist eine vergnügte Pfandleiherfamilie, deren Segelboot auf der Spree der Wind ausgegangen ist, und die sich nun über den Müggelsee pätscheln muß oder auf einen Extradampfer warten, der vielleicht erst in Stunden aus Erkner kommt. Meiner Doppelkrone zuliebe thut sie das erstere. Ich weiß von der Fahrt wenig. Sie war lang und stumm, und neben mir schlief ein halbwüchsiger Bengel. Auch Asta saß mit geschlossenen Augen, doch schlief sie nicht. Und ich schlafe auch nicht. Ich höre nur die schwarzen Wasser unter dem Ruder glucksen, zuweilen brodeln, zischen. Die ganze gewaltige Seefläche hat etwas Tiefes, Ahnungsvolles. Der Horizont liegt silbrig und verschwommen, der Neumond blinzelt aus der Flut. Ich habe Sommernächte nie in solchen Situationen zugebracht, am wenigsten im Osten. Darum schwebt wohl für mich über diesen Wassern so Eignes. Die schweigende Sommernacht brütet und bedrückt das Wasser, und durch die Stille geht ein geheimnisvolles Weben. Liegt solch Geheimnis immer ahnungsvoll zu solcher Stunde über tiefen, dunkeln Wassern, weil die Nacht den Morgen wittert? Der Morgen ist ja noch weit, so verheißend auch der Horizont im Westen leuchtet. Und wie ich die Hand durchs laue Wasser ziehe, da kriecht mir ein häßliches Gefühl die Nerven empor, und wie eine große Blase an dem Steuer aufsteigt, zerplatzt, da ist's, als braute die Tiefe unten noch 210 Geheimnisvolleres, noch Verschwiegeneres. Gutes ist's nicht!
Das sind eben so Stimmungen. Bei dem eintönigen Ruderschlag werde ich allgemach schläfrig, der See ist ja endlos. Ich denke, wie schön es sein müßte, wirklich zu schlafen und schlafend in den stummen Wassern zu versinken auf Nimmerauftauchen. Da spielen gelbe Lichter über das Wasser; ich höre verschwommene Musik und Menschentosen. Die Sozialdemokraten feiern noch ihr Fest, die Dampfer mit den bunten Signallaternen liegen unbeweglich im See . . . Wir streichen an den Ungetümen vorüber. Dann ruht ein Ruder, das Segelboot wendet im Spree-Ausfluß. An derselben Stelle, von der ich heute nachmittag ausgezogen, steigen wir ans Land. In dem Brauereigarten pokulieren sie auch noch; ein riesiger Mann in einem Lawn Tennis-Anzug hält eine Rede, und eine Frau in elegantem Strandkostüm, das Gürtelschloß brillantenbesetzt, lacht dazu – er spricht falsch, und sie lacht gewöhnlich. Das ist der Osten. Unsre Schiffer nehmen gern die Doppelkrone Fahrgeld, obgleich Besitzer seetüchtiger Vergnügungssegelboote doch nicht auf solche Einnahmen angewiesen sein können. Der schwarzbärtige Mann will mir als Dank noch erzählen, wie er einmal quer durch die ganze Müggel geschwommen sei. Ich aber lehne ohne Dank ab.
Asta und ich sind wieder allein. Sie hatte auch keine Neigung zu einem Imbiß im Brauereirestaurant. Bis nach Köpenick müssen wir uns schon noch durchstümpern; dort bekomme ich sicher einen Wagen. Aber bis dahin ist's noch ein langer Waldweg auf weißer Chaussee. Die Kiefern starren mißmutig, düster, unter den Kronen liegt die Luft staubig, schwül, Mücken summen. Ueber Hirschgarten müssen wir auch. Ich hätte es gern vermieden. Aber es 211 ist wenigstens keine schweigende Expedition mehr. Wir sprechen Gleichgültiges und sprechen viel. Und je näher wir Hirschgarten kommen, um so schneller, nervöser wird unsre Unterhaltung. Wir sprechen ja nicht füreinander, wir sprechen jeder für sich, nur um über den Punkt wegzukommen, wo mein Wagen damals einbiegen mußte zum Duellplatz. Auch mir ist der tote Serner nichts Angenehmes, gerade weil ich mit dem Mädchen zusammen bin, das ich doch nie begreifen werde.
Es ist sonderbar, wie unsinnig schnell man auch im langsamsten Tempo zu einem Punkt gelangt, zu dem man überhaupt nicht gelangen möchte. Und gerade, wo die Unterhaltung am intensivsten scheint, da bricht sie mit einem Ruck ab. Da leuchtet auch schon aus ihrem grünen Park die weiße Villa, und da ist auch der dunkle Weg, in den Twesten und ich hineinfuhren – wie ich lange da hinsehe, glaube ich auch etwas Riesiges, Schwarzes auf dem Sande schwanken zu sehen, unsern Landauer – ja mir ist's, als fühle ich das Rütteln der Wagenfedern bis hierher. Asta geht langsamer . . . langsamer . . . sie schüttelt ein Grauen, als wenn sie an diesem Landauer nie vorbeikommen könnte, den doch nur allein meine Phantasie sieht. Und plötzlich bleibt sie stehen, den starren, toten Blick der grünen Augen unverwandt auf den dunkeln Seitenweg gerichtet.
»Gnädiges Fräulein, kommen Sie doch!« . . . Da zittert sie stärker, der ganze Körper bebt in Grauen, sie fährt mit beiden Händen nach den Augen. Ich liebe Weiberthränen nicht, weil sie fast immer wertlos sind oder falsch. Das sind auch nicht die Thränen, das ist ein qualvolles Schluchzen, ein Krampf, in dem übermäßige Selbstbeherrschung niedergerungen wird.
Ich sollte schweigen, mich von dem Mädchen 212 taktvoll abwenden, das auf einem Chausseestein sitzt und weint – und ich trete ganz nahe zu ihr heran und frage thöricht: »Warum weinen Sie?«
»Lassen Sie mich!«
»Ist's seinetwegen?«
»Das wissen Sie doch!«
»Stand er Ihnen wirklich so nahe?«
»Ich war mit ihm verlobt – das wußten Sie auch . . .«
»Und wenn ich's gewußt hätte?«
»Lassen Sie mich!«
»Liebten Sie ihn denn wirklich? . . .«
Und da springt sie auf und schüttelt sich: »Nein, nein, nein!«
Das wird durch die Zähne gepreßt aus heiserer Kehle. Sie will's ja nicht sagen, und sie sagt's doch.
»Wenn Sie ihn nicht liebten, was bereuen Sie dann? Es giebt doch sonst nur einen Schuldigen – der bin ich. Und wenn ich ehrlich sein soll, mir thut's nicht so leid wie Ihnen.«
»Nein, nein . . . was wollen Sie eigentlich mit mir, Graf Carén? . . . Gehen Sie doch, gehen Sie doch! . . . Sie brauchen ja nicht zu bereuen, Sie haben ihn ja gar nicht getötet – ich war es – ich!«
»Sie sprechen in Rätseln, gnädiges Fräulein . . .«
»Gott sei Dank! . . .«
Es war ein thöricht Gespräch und eine thörichte Stunde und ein thörichter Ort. Ich will alles vergessen. Kann ich's? Ha! – Wenn sie ihn nicht liebte, warum opferte sie sich im königlichen Mitleid? Liebte sie vielleicht einen andern, und das wurde ihr zu spät klar, oder wurde sie nicht wieder geliebt? Wer kann dieser andre sein? . . . Warum beichtet sie mir ihre Schuld, die sie niemand anders gebeichtet? . . . Ich möchte den andern wohl kennen – ich möchte ihn doch nicht kennen . . . 213