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Später erwische ich einen Kremser, der mich zur Onkelvilla bringt; Asta wünscht gerade dieses Ziel. Aber weiß sie überhaupt, was sie heute eigentlich will?
Die Villa ist dunkel. Doch von der Terrasse her schimmert gedämpftes Licht durchs Gebüsch. Als die Hofthür knackt, schlägt der Hund dumpf an . . . Ein heller Aufschrei aus Frauenmunde – eine bebende, schlanke Gestalt – es ist Madame Le Fort mit einem fast irren Aufleuchten tödlicher Angst in den leeren Augen, als sie mich allein erblickt, weil der Schatten der Thür die Tochter verbirgt.
»Wo ist Asta?«
»Hier bin ich, Mutter!«
»Gott sei gedankt, daß ich dich wieder habe!« Die Mutter umarmt die Tochter und drückt und preßt sie. Es ist nicht die Affenkomödie der Mutterliebe, es ist das Innerste, Beste, Eigenste, das die Dame mit der charakterlosen Linie in diesem Moment unverhofften Wiedersehens hergeben muß, sie kann nicht anders. Es ist ein Gefühl, so wahnsinnig heiß, so fanatisch, daß die Tochter sich wegwenden muß, weil sie unter der Glut fast verbrennt, und wiederum so krank, so pervers, daß mir vor solcher 214 Mutterliebe graut, die alles, alles andre zur Schlacke brennt. Die zarten Frauenhände zittern noch unter der Bewegung nach, als das Herz schon lange wieder vom Kopf bezwungen ist, und die erlöschende Flamme in den Augen flackert noch, und die Stirn vibriert noch. Sie hat so unaussprechliche Angst gehabt um die Einzige, und sie dankt darum dem Mann, der sie ihr wiedergegeben, beinahe rührend. Der Kutscher ist erst vor einer Stunde zurückgekommen; er behauptet, er habe sich verfahren, doch die ausgepumpten Trakehner, denen noch jetzt unter den Decken die Flanken schlagen, und die blöden Augen des Trunkenen sind Erklärung genug. Die ganze Familie hat den Sommerabend beim Onkel verbringen wollen, einem plötzlichen Impulse von Madame folgend, die stets für ihre Asta bangt. Auch die Blonde ist zugegen und beantwortet die Frage, wo sie bis zur sinkenden Nacht gewesen, mit einer so durchsichtigen Lüge, daß ich innerlich die Achseln darüber zucken muß; der Onkel hat sich's natürlich bei seinem Kranken wohl sein lassen, weil es dem erträglich geht. Ich selbst laufe mit stark durchnäßten Beinkleidern umher und gänzlich formlosen Lackschuhen. Der Onkel bot mir seine Garderobe an, aber ich habe ein unbesiegbares Grauen vor allen fremden Männerkleidern.
Während die Familie Le Fort, das Nilpferd an der Spitze, in der Veranda Kriegsrat hält und Asta in einer Mansarde fünf Minuten lang ausruht, präpariert der Doktor Lister eine Bowle, eine mörderische Mischung, halb Sekt, halb Rotwein mit einer Flasche uralten Johannisbergers, als Schrittmacher für eine sehr schneidige Pace. Ich sehe blinzelnd zu, wie der weiße Champagnerschaum in den funkelnden Burgunder gischtet . . . Viel Schaum! Das könnte man mir einmal aufs Grabmonument schreiben, dicht neben unserm stolzen Wappenspruch: 215 Semper jubeas. – Diese Bowle nach Mitternacht ist eine verrückte Idee. Freilich, die Sommernacht ist hier lau und windstill, und die Mücken spielen. Für den Doktor bedeutet außerdem dieser Junitag noch etwas Besonderes, die Erinnerung an eine denkwürdige Zeit, wo er in Indien einen Deutschen und einen Freund zugleich fand. Mich interessiert dieser Freund vorläufig noch nicht. Ich wäre viel lieber allein. Darum rede ich Gleichgültiges. Ob die Familie Le Fort regelmäßig jeden Sonntag hier sei, der Herr Schwager auch?
Der Onkel hält beim Eingießen inne, und eine gewisse Kälte macht das warme, grüne Auge plötzlich scharf, aber traurig auch. »Sie fragen, ob meine Verwandten oft kommen? Warum fragen Sie eigentlich? Sie wissen das doch genau! . . . Wir beide haben uns ja der gegenseitigen Phrase entwöhnt. Tippen Sie also nicht gedankenlos auf den wunden Punkt! Sie haben sonst Gedanken genug und haben es längst 'raus, daß ich immer erst in eine Wüste gehen muß, um Menschen für mich zu finden . . . Mein Schwager Le Fort kommt selbstverständlich fast nie und meine Schwester nur, wenn sie etwas will. Das ist nun einmal nicht anders, und der Wahrheit die Ehre, ich möchte auch nicht, daß es anders wäre . . . Ich habe mit den Leuten nichts zu reden, absolut nichts. Das ist wohl meine Schuld. Aber kann ich mich als alter Mensch noch ändern? . . . Ja, wenn ich noch jung wäre wie Sie . . . Sie sind nämlich noch jung, mein lieber Graf, was Sie mir auch dagegen einwenden mögen, und Sie werden eines Tages diese Jugend brauchen, vielleicht noch heute, wer weiß das! Gerade im Moment haben Sie etwas in Ihrem Auge, was sehr jung ist. Ich weiß nicht, warum, aber es freut mich für Sie . . . Uebrigens, wenn ich mich auch im 216 Sinne der Familie Le Fort ummodeln könnte, ich möcht's doch nicht! . . . Schon wegen dieser Ehe . . . Sehen Sie mal, die beiden Leute sind zusammengelaufen und bleiben zusammen und werden ewig zusammen bleiben – nicht aus Liebe, Gewohnheit, Freundschaft – sondern nur darum, weil sie absolut nichts gemein haben. Der eine lebt nur für seine Spekulation, die andre nur für ihre Tochter. Er hat sie geheiratet, weil das nun mal zum Geschäftsmann gehört, und weil sie immer hübsch und chic war; sie nahm den Mann ohne Bedenken, weil sie nichts hatte und es nachgerade satt bekam, bei einem unverheirateten Bruder Haushälterin zu spielen. Mir selbst war sie schon als Schwester zu klug und zu vernünftig; kein Schatten von Zuneigung für irgend etwas oder jemand. Das rächt sich jetzt schwer . . . Woher haben eigentlich diese Menschen nun diese beiden grundverschiedenen Töchter? Ich frage mich angesichts der beiden Mädels immer: Giebt's überhaupt eine Vererbung? Es kann eben nur ein Ueberspringen dieser Generation sein; die Natur leistet sich manchmal den Scherz und läßt Triebe und Eigenschaften scheinbar schlummern, damit sie, um so stärker geworden, bei dem kommenden Geschlecht erwachen. Asta ist die scheinbar ruhige und dabei doch die zerrissene Natur – und Ethel ist die scheinbar nervöse und dabei ganz geschlossene Natur. Meine Schwester hat sich gegen diese zweite Tochter gewehrt – und wollte und wollte sie nicht! Gott weiß, warum. Das ist etwas Unnatürliches, dem wunderbaren Mutterinstinkt diametral Entgegengesetztes, ja Krankhaftes, aber es ist! Helfen ist nicht. Die beiden Menschen haben sich gehaßt, schon ehe sie von ihrer Existenz wußten. Es mag eine Abneigung gegen den Mann dabei sein, irgend ein düsteres Moment in dieser 217 Ehegeschichte die Rolle spielen. Mir ist es so schrecklich, so unbegreiflich! Man kommt da zu den Nachtseiten der menschlichen Natur, die keine Wissenschaft je erhellen wird. Da ist die Wissenschaft so klein und unsicher tappend wie überall, wo sie mit der Hypothese arbeitet. Ach, es ist vielleicht gut, daß es keine Röntgenstrahlen für das Gefühl giebt! Mir graut, je länger ich mich mit ihr beschäftigt habe, doch zuweilen vor dieser Natur, die Gut und Böse kaum sondert, die unbedingt gesunde Zelle neben die unbedingt kranke setzt, mit einer so dünnen Scheidewand, daß es nur des kleinsten Anstoßes bedarf, und die beiden fließen ineinander. Im Kampfe ist das Böse dabei immer das Mächtigere, weil es rücksichtsloser und heimtückischer ist. Ganz böse Menschen giebt's vielleicht –, aber giebt's einen ganz guten? Undenkbar . . . Es ist vielleicht auch bloß die Art unsers Sehens, über die die Natur lächelt, entweder, weil sie selbst keine Seele hat oder eine ganz unbegreiflich große . . . Ich persönlich bin ja so ein unglaublicher Schwächling, daß ich, der ich immer nur das Ganze, ob gut oder böse, lieben möchte, weil's das Schaffende ist, doch nur das Halbe liebe, weil's mir selbst am meisten entspricht. So sind wir ja alle, wir Modernen. Vom großen Uebermenschen sprechen wir, und mit dem schwachen Halbtier fühlen wir. – Soll ich Ihnen etwas recht Häßliches sagen, Graf Carén? Ich habe Sie gern, weil Sie so ein rettungsloser Halber sind, der frühmorgens beim Aufstehen nie wissen kann, ob ihm der Tag eine gute oder böse That bescheren wird. Ich liebe die Menschheit sehr, nicht weil sie stark, sondern weil sie schwach ist. Da haben Sie das ganze Geheimnis aller Philanthropie: Erkenntnis der eignen Schwäche und darum Mitleid für die fremde . . . Da kommt übrigens schon einer, der 218 uns nicht zu hören braucht, weil er uns doch nicht verstehen könnte . . .«
Es ist Herr Le Fort mit seinem Stiernacken und seiner Schifferpfeife, den ich seit undenklichen Zeiten nicht gesehen habe – spuckt auch gleich in den Fluß. Das Spucken ist eigentlich der ganze Kerl! Die andern folgen in Abständen. Die blonde Ethel mit einem schnippischen Gesichtsausdruck, als wenn sie sagen wollte: Ihr könnt mir sämtlich gewogen bleiben – zuletzt Mutter und Tochter, eng aneinander geschmiegt, die Hände um die Taillen geschlungen wie zwei Schwestern . . . Warum kommt die Grünäugige! Ich rief sie nicht.
Die Gnädige hat sich völlig erholt. Wir sitzen jetzt auf der Terrasse. Die schwarze Spree flutet stumm. Zuweilen zuckt's tückisch in den Wassern auf, ein böser, schillernder Blick; dann schwappt eine Welle, aus der Tiefe brodelt's, Wasserblasen steigen auf und zerspringen; es ist so ein feiner, fremder Ton. Im Ufergebüsch raunt's. Unwillkürlich rückt die Blonde von der Spree weg, als wenn aus diesem verschwiegenen märkischen Sumpffluß sich häßliche Nixenarme recken könnten, das junge Leben in die Tiefe zu ziehen auf Nimmerwiederkehr. Aber die Spree ist nur müde, das Brodeln ist nur Traum, das Säuseln im Fliederbusch auch. Die Kiefern drüben steigen gespenstisch in die Höhe. Darüber legt sich der weiße Dunsthimmel, Sterne flimmern unsicher, die Mondsichel schaut fahl. In solcher Sommernacht soll man schweigen und horchen. Wenn die Natur so im Traum liegt, trifft jeder Laut die Nerven, so daß wir die Schlummernde verstehen; da ist auch sie im Zauberbann und darf nicht lügen – und was sie verschlafen raunt, das ist Wahrheit. – Madame Le Fort versteht die Sommernacht nicht. Ich möchte sie verstehen, 219 darum thut mir diese helle Frauenstimme jetzt fast weh.
»Sag mal, Henri, wie ist doch eigentlich die Geschichte mit deinem deutschen Freunde? Du hast sie mir so oft erzählt, und ich habe sie immer wieder vergessen.«
»Das glaube ich dir gern, liebe Claire; warum soll ich sie übrigens nicht zum hunderteintenmal erzählen? Es war einmal ein Mann – in Indien – in einer Sommernacht . . . Das klingt wie ein Märchen . . . Ist's dir nicht schon langweilig, Claire?«
»In dem Tone allerdings, lieber Henri.«
»Aber ich möcht' es gerade in diesem Tone hören, Herr Lister,« werfe ich ein.
»Dann also bitte, lieber Henri, in diesem Ton!«
Der Doktor zieht an seiner Zigarre, bis sie dunkel glüht. »Es ist also verschiedene Jahre her, und wir waren zwei. Er war ein deutscher Freiherr, und wir sahen uns überhaupt zum erstenmal. Mir gefiel er im Anfang nicht: ein hartes, häßliches Gesicht, noch jung, aber vom Leben zerfetzt. Wir hatten uns eine Bowle gebraut, weil uns der Zufall in dasselbe kleine Nest zusammengeführt hatte. Den Sekt und den Rotspohn hatte ich gemischt, die Flasche uralten Rheinweins gab er, obgleich er sie mit Gold aufwiegen mußte. Erst sprachen wir englisch über Krankheiten, wir waren ja beide Mediziner. Da hielt er plötzlich ein. ›Ist es Ihnen recht, wenn wir deutsch sprechen?‹ – ›Gewiß – aber warum?‹ – ›Das will ich Ihnen sagen. Heut ist irgend ein Geburtstag, und der Rheinwein macht mich auch verrückt. Ich sterbe fast vor Heimweh. Sie werden das von einem Deutschen draußen nicht verstehen, aber ich bin nun einmal so.‹ – Da that ich ihm den Gefallen. Wir saßen zusammen 220 bis zum frühen Morgen. Die Bowle trank er fast allein; ihm that's nichts, er war der Mann danach. Er sprach auch von seinem Leben ohne Bedauern, hart gegen sich. Sie hatten ihn in der Heimat zerzaust, zerrissen – er selbst sein schlimmster Feind – jeder andre hätte sich verblutet dabei. Aber er kämpfte sich durch mit zusammengebissenen Zähnen und mit einer eisernen Faust. Wie er so erzählte, da lagen die Schatten düsterer auf seinem Gesicht, die Falten tiefer. Das Erlebte zog mich nicht. Doch dieser eiserne Bursche, der mit dreißig Jahren so ziemlich alles hinter sich hatte und alles verachtete, war seltsamerweise ein Kind, wenn es sich um seine Heimat handelte. Diese Heimat hat ihm sicher viel mehr genommen als gegeben, dennoch hätte er sich für sie in Stücke reißen lassen. Ich kenne viele Menschen mit dem kleinen weinerlichen Heimweh; bei ihm war's das große, echte, unter dem auch der Starke stöhnt. – Wir sahen uns übrigens nur dreimal im Leben, weil er in Niederländisch-Indien stationiert war und ich in unsern englischen Kolonien, doch mit dem einen Mal schon hatte er's mir angethan. So ein starkes Gefühl erwärmt auch andre – mich wenigstens hat's erwärmt. Dann wurde mein Freund krank, diesmal nicht Heimweh, sondern die Tropen hatten ihn mitgenommen, und er wollte auf ein Jahr nach Deutschland zurück. Ehe er abfuhr, schrieb er mir noch ein paar flüchtige Zeilen: ›Wie ich mich auf Deutschland freue! Dennoch, glauben Sie mir, ängstige ich mich auch vor der Heimat. Sie hat mir noch nie Glück gebracht, nun giebt sie mir vielleicht den Gnadenstoß. Gleichviel . . . schon in der Heimat sterben zu dürfen – welches Glück! . . . Das sind übrigens Seifenblasen. Ich sehe Sie auf alle Fälle nach zwei Jahren in unsrer Juninacht wieder. 221 Vergessen Sie die Flasche Rheinwein, bitte, nicht . . .‹ Ich habe sie auch nicht vergessen. Wer aber nicht kam, das war mein Deutscher. Die böse Ahnung hatte ihn doch wohl nicht betrogen. Seitdem braue ich mir immer an dem Tage die Bowle und hege die leise Hoffnung, er könne doch plötzlich aus dem Gebüsch hervortreten mit seinem verwitterten, verschlossenen Gesicht und wie damals zu mir sagen: ›Wollen wir nicht deutsch sprechen? Ich sterbe fast vor Heimweh.‹ – Haben Sie übrigens keine Angst, er kommt nicht. Und eigentlich seinetwegen hat es mich nach Deutschland gezogen. An dem Lande, das ein harter Mensch wie er so heiß lieben konnte, muß doch etwas Besonderes sein. Es ist auch was dran an dem Lande. Ich bereue es nicht.«
Das Nilpferd und die Gnädige sehen sich an, die verstohlen flimmernde Ironie im Blick – sie verstehen diesen großherzigen Thoren nicht. Asta starrt auf den Fluß, die Blonde baumelt mit den Füßen. Mich berührt's tief. Das ist die Saite in meinem Wesen, nach der ich den ganzen Tag blind tastend suchte. Jetzt klingt sie an. Ihr Ton ist mir Befreiung. Das kranke Heimatgefühl, dessen ich mich in Klein-Machnow beinahe schämte, heute empfinde ich es als das gesunde, rettende . . . Nicht der preußische Helm, nicht die brandenburgische Königstreue, nicht einmal die reine Vaterlandsliebe werden den gewaltigen Anprall unversehrt bestehen, sondern das kleine, egoistische Heimatgefühl; die eigne Scholle, in der alle kleinen Wurzeln unsers Wesens haften, wird der Anker sein, an dem der Sturm der fremden Ideen rütteln wird, ohne ihn losreißen zu können. Die starke Kette sprengt der große Ruck, an den tausend kleinen, verschlungenen Fäden erlahmt seine Kraft. Die kleine Heimat, die eigne Scholle, und was sie uns mitgiebt: das ist's. Mögen sie 222 das Gefühl minderwertig nennen, solchen Widerstand engherzig: dies kleine Heimatgefühl, aus dem eine ganze Welt sich aufbaute, muß doch einen wunderbaren Kern haben, denn immer blieb es ungebrochen, wo die großen Gefühle wankten, die Burgen der Vernunft, des Glaubens sanken. Keine himmelanstrebende Weisheit! . . . Bleibt aber unsereinem eine andre? Der ausgelebte Mensch kehrt reuig zu dem Fleck Heimaterde zurück, von dem ihn einst eine unverständige, fremde Hand als Kind mit blutendem Herzen losriß; der Höfling wird wieder Junker, der übersättigte Thor kommt wieder zur Natur. Wird sie den Verlorenen noch aufnehmen? Er kommt nicht als Kämpfer, er kommt als Besiegter.
Wir reden gleichgültiges Zeug, weil jeder seinen Gedanken nachhängt und das doch nicht zeigen möchte.
Da beginnt das dunkle Wasser zu rauschen, ein Dampfkessel brummt. Radschaufeln rütteln die schlafende Flut. Es sind die Dampfer der Sozialdemokraten, die vom Feste heimkehren. Die Kajütenfenster leuchten – ein breites, gelbes Lichtband, dessen Reflex auf den aufgescheuchten Wellen tanzt. Das Deck ist dicht gedrängt – eine wimmelnde, übernächtige Herde; mit verschlafener Musik mischt sich Mädchenlachen, Kindergeschrei, trunkener Männerlaut. Die schwere Kielwelle braust gischtend auf, dumpf rollt das Wasser aus den Strand, unsre Terrassenmauer zittert. Es klingt wie eine drohende Warnung an uns. So ziehen die Dampfer vorüber, in weiten Abständen, langsam, schwer, funkensprühende Ungetüme. Noch lange zuckt der Wiederschein der Signallichter über die Flut, noch lange grollen die Wellen nach. Als endlich der letzte vorüber ist und ich von ihm nichts mehr gewahre als verschwimmendes Licht und ersterbendes Summen. da weiß ich nicht, ob ich diese 223 Massen fürchten soll oder bedauern oder belächeln. Ein kindisches Märchen fällt mir ein – das Gespensterschiff von Hauff – wie der verzauberte Segler jubelnd in den tollen Sturm hineinfährt, hoffend, daß der ihn verschlinge. Gespensterschiffe sind das auch und jagen in toller Freude Berlin entgegen und dem Sturm, der sie vielleicht auch verschlingt.
Jetzt wird's still. Noch eine letzte Welle gluckst an die Terrassenmauer. Hat eigentlich nur die Zukunft da und die Vergangenheit ein Recht, und sind wir, die Gegenwart, vielleicht nichts andres als wertlose Uebergangsmenschen? Für die Vergangenheit zu modern, für die Zukunft zu altmodisch? . . . Ich sehe mir die Menschen um mich an, die ja auch dies Bestehende schützen sollten wie ich. Die kleine Ethel schaut den verschwundenen Schiffen nach mit Behagen, der Grünäugigen springt ein weher Zug um den herben, schönen Mund, das Nilpferd spuckt, die Gnädige gähnt vorsichtig; nur im grünen Auge des Doktors sehe ich die große Menschenliebe dieses Einsamen auflohen und verlöschen. Er liebt dies Volk, und ihm thut es leid, wie es so siegesbewußt dem großen Abgrund Berlin zusteuert. Ich empfinde kein Mitgefühl, ich fühle die Muskeln sich straffen im Hasse gegen diese Uebermächtigen. Das kleine Heimatgefühl wird stumpf, zerrinnt in dem Riesennest da drüben. Mir selbst ist's stumpf geworden, kaum noch mehr als ein wertloses Phantom – dennoch das einzige, was ich besitze. Dabei steh' ich noch allein. Wir alle hier, sind wir nicht ein gutes Abbild unsrer sinkenden Gesellschaft – ohne Verstehen, gelangweilt die einen in der großen Liebe, in dem großen Mitleid zerfließend die andern – und der Kämpe bin ich! Wenn's nicht so traurig wär', ich möchte lachen.
Die Bowle ist leer. Wir hatten's zuletzt alle 224 sehr eilig. Der Morgenwind fängt schon an in den Kiefern zu zischeln, vom Wasser zieht's feuchtkalt herauf. Wir nehmen einen kurzen Abschied. Ich hätte den Wagenplatz annehmen können, den mir Madame Le Fort so dringend anbot, aber dann hätte das Nilpferd auf dem Bock thronen müssen, und da nimmt sich solch ein Koloß schlecht aus. Ich möchte niemand derangieren. Ich werde darum die Einladung des Onkels annehmen, wirklich einmal wie ein Student auf einer Chaiselongue pennen, weil Fremdenbetten hier unbekannte Dinge sind. Die kleine Ethel hat mir zum Abschied noch irgend etwas ins Ohr geflüstert, wonach ihre Tage zu Hause gezählt sind. Sollte Jaromir der Glückliche sein? Ich gebe mir keine Mühe, es zu enträtseln. Fremde Schicksale sind mir so gleichgültig. Ich fühle wohl den schweren Fittich des eignen Schicksalsschlages mir nahen.
»Gute Nacht, Herr Lister.«
»Gute Nacht, Graf Carén.«
Tiny wedelt mich verstohlen an. Ich nehme ihn zur Gesellschaft mit ins Mansardenzimmer.
Nun bin ich endlich allein.
Wenn ich doch müde wäre! Die Luft in der Mansarde ist so warm, so alt, und das Licht brennt so trübselig. Eine einsame Fliege summt. Eigentlich sagt alles: »Schlaf, mein Sohn, wir wollen auch schlafen!« Aber ich kann nicht, ob ich mich auch auf die Chaiselongue strecke. Aus diesem altmodischen Ruhebett muß vor mir jemand anders geruht haben – ein schöner Frauenkörper – ich weiß es nicht, aber ich fühle es. Es war dieselbe harte Schlummerrolle, auf der ihr Haupt ruhte, dieselbe gestrickte Decke, die ihre Glieder deckte. Es prickelt mir in den Fingerspitzen – nicht stechend heiß, sondern brennend kalt. Es klingt unsinnig, 225 aber gerade so ist das Gefühl gemischt. Ich schließe die Augen, da tanzen die Lichter wie damals, als ich sie auf meinen Armen trug. Es ist schon so lange her! . . . Tiny schnüffelt auch unbefriedigt. Er wittert die andre, die in dem Zimmer war, und steckt seinen Kopf argwöhnisch in alle Ecken, kratzt nach Hundeart an einem Schrank – ein komisches Tier, wie er so wedelnd und heimlich knurrend zugleich an der Chaiselonguedecke vorüberstreicht. Es soll seine geteilten Gefühle ausdrücken, denn die Grünäugige liebt er, Madame haßt er, obgleich ich nicht weiß, warum. Denn auch der Peau d'Espagne-Geruch liegt in dem Zimmer, aber so fein, so verstohlen, daß ich ihn eigentlich erst aus dem Gebaren des Tieres heraus wittere. Peau d'Espagne prickelt heute nicht, für mich ist dies Parfüm abgethan, und der Hund könnte zu schnüffeln aufhören. Dennoch beruhigen wir beide uns nicht. Ich stehe auf und thue etwas unsagbar Kindisches; mit dem knisternden Stearinlicht in der Hand suche ich die Chaiselongue ab nach einer Nadel, einem Haar, nach irgend etwas, das sie mir verriete. Ich möchte ein braunes Haar finden, kein weißes. Ueber dem dumpfen Braun würde ich einschlummern, bei dem Weiß müßte ich ruhelos wandern und den Onkel unter mir stören. Aber ich finde nichts derart.
Nur der Höllenhund zwängt seinen dicken Kopf argwöhnisch zwischen Wand und Chaiselongue und wedelt dabei stärker.
»Kusch!«
Da fährt er zurück und blinzelt schuldbewußt.
»Na, dann such weiter, Tiny!«
Und aufgeregt vergräbt er sich wieder in den Schlitz an der Wand, den er mit seinem struppigen Schädel weitet, so daß die Chaiselonguerollen quietschen.
»Was hast du denn eigentlich? Bring her!«
226 Das Tier ist weder Apporteur noch Kunsthund noch übermäßig begabt, aber es bringt mir wirklich etwas wedelnd angeschleppt – ein verknülltes Stück Papier, das es mir siegesbewußt wedelnd in die Hand stößt.
»Du regst dich auch unnötig auf, Köter!« Dennoch nehme ich das Papier und falte es in halber Neugierde auseinander. Es ist etwas Geschriebenes, alt – und schon wie ich den ersten Buchstaben sehe, werden mir die Finger langsamer. Es ist in der That ein seltsamer Fund, es ist der abgerissene Fetzen eines Briefes, den Serner schrieb. Ich kenne die Handschrift des frühreifen Karlchens so genau, diesen ungebildet-pedantischen Strich, in dem die ganze Charakteristik liegt: dumm und korrekt! Hier aber gewahr' ich noch etwas andres, etwas Zitterndes, Verzweifeltes und doch wieder rasend Entschlossenes. Das kann er nur geschrieben haben in einem schweren Augenblick, wo jeder Strich die ganze Kraft zusammennahm, um stark zu sein, und doch schwach wurde, noch eh' er beendet. Soll ich diese Herzensergießung lesen? Ich schreckte doch früher nie vor einer Indiskretion zurück, die mir wichtige Aufschlüsse bringen konnte. Hier zögere ich. Wie der Wisch geschrieben wurde, weiß ich – wie er hierher kam, weiß ich auch. Die Grünäugige mag ihn als Amulett an ihrem Herzen tragen, und er mag ihr entglitten sein. Wäre also die Indiskretion so schlimm? Kaum! . . . Dennoch zögere ich noch immer – nicht, weil der tote Serner mir leid thut –, ich zögere meinetwegen – und ich zögere mit Recht. Ich will nicht hieraus wissen, was ich wirklich gefühlt habe, fühle, fühlen werde.. Aber so bin ich – ich lese den Wisch doch! Dabei ist er nicht mal leicht zu entziffern, die Buchstaben sind teilweise verwischt, als wenn über ihnen Thränen geflossen 227 wären, und teilweise so undeutlich, daß ich sie erraten muß. Und wenn alles verwischt wäre, ich würde alles erraten, ich würde auch Chiffreschrift lesen können heute. Mich interessiert ja nicht etwa, was das frühreife Karlchen seiner Geliebten zu sagen hatte, ob großherzige Schwäche diese letzte Epistel diktiert hat oder kleine Todesangst; ich lese die Zeilen wahrscheinlich nur deshalb, weil ein gewisser Duft dem Papier entströmt, ein Duft, dem ich nicht widerstehen kann. Sind das die häßlichen Gefühle von früher? Es ist doch wohl nicht die gewöhnliche Sinnlichkeit – es ist weit mehr – deswegen zaudere ich beim Lesen, und deswegen thu' ich's doch.
»Was Du geschrieben hast, vergiß es! . . . Du sagst, Du liebtest einen andern nicht – aber mich auch nicht! Warum sagst Du das so spät? Warum sagtest Du es überhaupt? Drei Tage später . . . wer weiß . . . vielleicht wär's dann nicht mehr nötig gewesen . . . Ich stehe vor einer ganz schweren Entscheidung der Waffen, und soweit ich Carén kenne, kommt einer von uns beiden lebend nicht vom Platz zurück. Er wird mir auch da über sein, wie er überall in seinem Leben mir über war, wo er wollte, darüber mach' ich mir keine Illusionen . . . Aber weißt Du eigentlich, worum es geht? Um Dich! . . . Jawohl . . . Er mag sich und andern vorlügen, was er will. Und weil Du der Preis bist, will ich nicht sterben! Was ich dagegen thun kann, werde ich thun . . . Du liebst ihn nicht, wie er Dich auch nicht liebt? Und wenn Du's doch thätest! . . . Asta, ich kenne Dich nicht, aber ich glaube Dir unbedingt – ihn kenne ich, und darum glaube ich ihm unbedingt nicht. Du weißt wohl, daß Carénsche Eitelkeit vor nichts zurückschreckt! . . . Sieh mal, Schatz – darf ich Dich noch einmal so nennen, obgleich Du mich nie geküßt hast? –, ich will's Dir auch glauben, weil 228 ich Dich keinem andern gönne, ihm nicht und keinem. Thue, bitte, nichts für mich oder gegen mich, bevor das Duell vorüber ist. Ich darf Dich nicht mehr sehen vorher, und er will Dich nicht mehr sehen vorher . . . Was aber auch kommen möge, ich habe Dir nichts zu verzeihen und mir nichts vorzuwerfen. Ich habe Dich nur zu sehr geliebt! Thu mir darum das eine – ich komme sicher nicht lebend zurück –: laß mich sterben mit dem Gedanken an Dich, so sterben, als wenn uns nichts trennen könnte, auch Dein Brief nach jenem unglückseligen Renntage nicht. Ich kann weder für den Brief noch für das Duell. Ach Asta . . . Soll ich sagen: sei glücklich!? . . . Ich kann's nicht . . . Asta . . . Asta . . . Ich werde schwach, sehr schwach! . . . Wir sehen uns nie wieder. Ich küsse Dich, mein Schatz, ich küsse Dich.
Karl Ignaz.«
Als ich in das Mansardenzimmer hinaufstieg, war's zwei Uhr, jetzt ist's vier. Der Lichtstumpf verglimmt, draußen zwitschern die Vögel. Und ich sitze hier unbeweglich auf derselben Stelle, denselben Papierfetzen in der Hand. Ich döse nicht, bereue nicht, ich kämpfe auch nicht mehr. War dieser letzte Ruck unbedingt nötig? Jedenfalls ist er stärker, als ich vertragen kann. Wogegen ich mich gewehrt habe mit Händen und mit Füßen, im Wachen und im Traum, ein Jahr lang und länger, seit dem Augenblick, wo ich sie sah, – der unehrliche Kampf mit mir selbst wird mir zu schwer. Ich habe sie geliebt, seit ich sie sah. Ich selbst weiß es thatsächlich erst jetzt. Es war ein gesundes und großes Gefühl, aber gerade darum für den Kranken nicht Medizin, sondern Gift. Unsereiner kann nicht mehr rein empfinden. Der verkriecht sich vor dem großen Gefühl, es ekelt ihn an. Das kleine, lichtscheue Gefühl, dazu langt's. Die ungesunde Dämmerung 229 dabei thut uns wohl, aber das große beizt die blöden, lichtentwöhnten Augen, daß sie uns wehe thun. Darum habe ich mich gegen dieses große Echte in mir gewehrt, es gehaßt, weil es aus dem Rahmen des Gewöhnten heraussprang, über mich selbst hinauswachsen wollte. Und es war auch stärker als ich und zwang mich . . . Wenn ich zurückschaue – warum ging ich in die Händelstraße? – Ihretwegen! Weswegen erschoß ich den andern heimtückisch wie ein Schuft? – Ihretwegen! Weswegen kam ich nach Berlin zurück, weswegen bin ich heute in dieser Mansardenstube? – Ihretwegen!
Ich hätte Lust, dieses Tagebuch zu zerreißen, diesen erlogenen Roman, der dennoch meine Krankheitsgeschichte ist. Ich zerreiße ihn nicht, weil es feige wäre, und ich will nicht mehr feige sein. Alles mußte so kommen. Das Geschwür mußte aufbrechen, damit der Körper heile. Und ist die ganze Geschichte nicht wiederum so unsagbar thöricht und giftzerfressen auch? Weil ich einmal in meinem Leben ganz empfand nach so viel unsagbaren albernen Halbheiten, wurde ich heimtückisch, wurde ich Verbrecher. Wo ist die Logik? Das frühreife Karlchen modert in seinem Grab, weil ich ein einziges Mal ganz empfand und er auch . . . Und in dem Augenblicke, wo doch das Leben für mich seinen Wert verloren hat, fühle ich gerade etwas von seinem Wert. Die Weltstädte, Berlin nicht zum wenigsten, haben an mir gefressen, das Beste haben sie weg, und jetzt rette ich mich zu dem kleinen Heimatgefühl wie ein Greis in seine Jugend. Die ekeln Gefühle aller Sorten haben an meinem Lebensmark gesogen, ohne es zerrütten zu können. Das große Gefühl schneidet den Rückennerv gleich ganz durch. Was nutzt denn solch Erkennen, solch Gesunden, wenn die große Lähmung doch bleibt?
230 Gut, ich liebte das Mädchen – und darum mußte der andre durchaus sterben? War's denn gar nicht anders möglich? Muß denn immer bei mir, wenn ein großes Gefühl mit tausend kleinen kämpft, rotes Herzblut fließen? . . . Das Mädchen hat mich nie geliebt, aber sie hätte mich vielleicht geliebt, und was ich that, entfremdete sie mir auf ewig . . . Nein, ich bin dem Schicksal wahrhaftig nicht dankbar, das mir diese Aufklärung bescherte. Wenn Gesunden so wehe thut, ist es dann nicht weit besser, unsereinen in seinem Gifte schmerzlos dahinsiechen zu lassen und ihm diesen unsäglich schmerzlichen Prozeß der langsamen Heilung zu ersparen? . . . Alles, alles – immer und immer, wenn es zu spät ist! Man soll die Kranken wie mich ruhig sterben lassen, dem Arzt danken sie doch nicht die Genesung.
Ich will nicht mehr an das Mädchen denken, dessen Haar mit zwanzig Jahren weiß wird um mein Verbrechen. Mit zwanzig Jahren die weiße Strähne! . . . Warum eigentlich? Was faselte die Thörin vorhin in Hirschgarten – sie hätt' ihn getötet? Weil sie den Narren wollte und nicht lieben konnte? Herrgott, das ist doch die Natur, das ist doch keine Sünde. Nahm sie ihn, dann war's um sie geschehen, sie starb an ihm. So starb er an ihr, wie sich's gehört. Sie kann die schwere Schuld doch bloß drücken, wenn sie das alles und noch mehr kommen sah und zu feige war, es im letzten Moment zu hindern, weil auch sie vergiftet war. Aber sie ist eben ein Weib wie alle Weiber, sie flieht vor dem Schicksal, bis es sie packt, und dann schließt sie die Augen und flennt. . . . Ich verstehe sie nicht, sie kann doch nur schuldig sein, wenn sie dieselbe Schuld drückt wie mich, wie sie mit einem Gefühl spielte, dessen sie sich nicht bewußt 231 werden wollte, bis es ihrer Herr wurde und sie zermalmte, gerade in dem Augenblick, als sie begreifen mußte. Das wäre Schuld – das wäre Verhängnis!
Denk nicht darüber nach, Louis Carén, wer der andre gewesen sein könnte. Du warst es jedenfalls nicht! Denk überhaupt nicht, mein Lieber, es steht dir nicht! Oder denk, wie du aus Berlin wegkommst, heimlich, stumm, der Verbrecher, der du bist, und büße in einem Kloster strengster Observanz, was du gethan! Aber du gehst nicht, ich kenne dich, mein Freund. Du wirst bleiben und leiden und leiden machen, wie du es immer gethan hast, und doch von der weißen Haarsträhne nicht lassen können, weil in ihr die Geschichte deines Verbrechens und eines andern Verbrechens liegt.
Der Lichtstumpf hat ausgeflackert. Es ist dunkel bei geschlossenen Jalousien, nur die klugen Augen des Hundes, der zu meinen Füßen liegt, leuchten durch die Finsternis. Ich kann nicht schlafen, und ich ertrage auch die Lasten der Finsternis nicht. Was erlebt man nicht Unglaubliches an einem einzigen Tage. Draußen glüht der Morgen, die Sonne funkelt auf der Spree, von den Sträuchern duftet's, Vögel wiegen sich auf schwankenden Zweigen. Die Natur ist so groß, so unnahbar! Ich weiß nicht, ob sie eine Seele hat, aber ich weiß, daß sie allein heilt – der große Arzt für alle und alles. Die Hoffnung läßt uns ja nicht! Und ich sehe die Sonne so klar, so lichtfroh am weichen Sommerhimmel strahlen – meine Sonne, zu der ich fliegen möchte. Was ist mir daneben Berlin, das qualmbeladen da drüben im Westen aufsteigt? Der Sumpf, in dem ich meine Flugfedern ließ, und dem ich doch entrann. Es giebt Wunder, und verstümmelte Schwingen wachsen dem Begnadeten wieder; man 232 glaubt so gern an das Wunder, wenn man es nötig hat!
Ist's Vorbedeutung? Eine Zille kommt von Berlin hergezogen – ein vielgeflickter, leerer Kahn, aber noch wasserfest: endlich einer, der dem Abgrunde entronnen. Ein einzelner gebeugter Mann stößt ihn schweißtriefend vorwärts; es ist ein abgearbeitetes, aber ein fröhliches Gesicht. Ich nehme das Omen an. Berlin giebt seine Toten wirklich zurück! 233