Johannes Richard zur Megede
Von zarter Hand
Johannes Richard zur Megede

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Achtes Kapitel.

Madame kommt erst morgen.

Jetzt eilt mir das auch nicht so. Ich wollte nur, der verwünschte Tag wäre 'rum. Hätte ich eine Spur von wirklichem Takt, ich bliebe gerade heute nicht in der Oberspreevilla, denn die Grünäugige ist auch da. Aber ich bleibe.

Das Brautpaar, der Onkel und sie sind im Garten. Ein Herbsttag wie jener, funkelnd, klar. Von den Beeten duftet es nach abblühenden Reseden. Der Wind jagt die ersten welken Blätter. Die Villa empfängt mich froh. Niemand gedenkt des Tages, nur wir beide. Aber sie bleibt. Meine That hält sie; ich kenne den seelischen Zusammenhang nicht, aber ich wittere, daß mein Verbrechen ein wirkliches Band zwischen uns ist, ein Zauberband, ja noch mehr.

Wir sitzen auf der Terrasse. Das Brautpaar verständig, geschwätzig ich, stumm sie. Der Onkel mit seinem scharfen, guten Auge sieht auf die kalt glitzernde Spree. Die Zillen gleiten hin und her. Er hört nicht recht hin, als ich von meinem Prozeß erzähle. Ich thue es auch mit dem ruhigen Sarkasmus, den man einer verlorenen Sache gönnt. Warum ich sie auf einmal für verloren halte, ja selbst verloren wünsche, das ist mir ein Rätsel. 278 Vielleicht macht's die dumme Exhumierung. Verwandte ausgraben zu lassen aus reiner Geldgier, ist nicht gräflich – und zu guter Letzt war sie doch die einzige Schwester meines Vaters.

Als ich auf die gewundenen Erklärungen des Sachverständigen komme, der es aller Welt recht machen will, wird der Arzt allmählich wach. Herr Lister sieht mich sogar prüfend an und sagt: »Erzählen Sie, bitte, noch einmal, Graf!«

Ich erzähle.

Der Arzt wiegt den Kopf. »Diese Ausführungen machte ein Mediziner?«

»Ein veritabler Arzt wie Sie, Herr Lister.«

»Hm . . . hm . . . Er war nüchtern?«

»Ich glaube wohl. Am Sterbebette meiner Tante war er das allerdings nicht.«

»Aber er brachte Sie doch auf den Morphinismus?«

»Das that er allerdings.«

Darauf schweigt der Onkel ungebührlich lange. Endlich langsam: »Ihr Arzt täuschte sich.«

»Sie glauben also auch nicht an den Morphinismus?«

»Ich glaube an etwas ganz andres.«

»Und das wäre, Herr Lister?«

»Pardon, Herr Graf, ich kenne von der ganzen Sache nur die paar Andeutungen, die ich eben von Ihnen höre. Ich täusche mich also vielleicht erst recht. Ist es Ihnen im übrigen egal, welche Konsequenzen ich aus diesem Falle persönlich ziehen könnte?«

»Ganz egal, Herr Lister.«

»Das würden wir vielleicht am besten dann allein besprechen, Graf.«

Aber die blonde Ethel ist neugierig geworden. »Ach, Onkel, du bist immer so! Erst machst du 279 einem den Mund wässerig – und dann . . . Weißt du, Onkel, wenn du so geheimnisvoll thust, dann denkt man gleich an irgend ein Verbrechen!«

Dem Onkel ist diese Wendung unangenehm. »Meinetwegen hört auch zu! Das Ganze giebt thatsächlich mehr das Bild einer akuten Vergiftung. Die alte Dame kann sich in der Medizin vergriffen haben. Solch unglückliche Zufälligkeiten ereignen sich öfter, als man denkt.«

Mir wäre dies Thatsächliche innerlich sympathischer als der verwünschte Morphiummißbrauch. »Denken Sie an ein bestimmtes andres Gift, Herr Lister?«

»Ja . . . nein. Die Pupillen wie Stecknadelköpfe – der totenähnliche Schlaf – die entsetzlichen Wehegefühle beim Aufwachen . . .« Er macht eine zweifelnde Bewegung mit der Hand. »Hatte irgend jemand ein sehr starkes Interesse an diesem Tode?«

»Ich.«

»Das glaube ich Ihnen bis zu einem gewissen Grade. Die Gräfin hatte aber vielleicht noch andre Freunde, Leute, die ein Legat vielleicht nicht mehr erwarten konnten?«

»Die waren vorhanden.« Ich male mit ein paar scharfen Strichen die Silhouetten des Dicken und der Dürren.

Der Doktor schüttelt den Kopf. »Das ist doch eine andre Menschengattung, als ich meine. Dieser Freund oder diese Freundin Ihrer Tante, die ich vielleicht im Auge hätte, müßte klüger sein und kühler. So was wie diese Dienstboten versucht's mit gekochten Streichholzköpfen oder – gar nicht. Sie können in jedem Falle Namen nennen, Graf. Morphium ist überdies ein zu verschwiegenes Gift, als daß es bei der Sektion wirklich belasten könnte. 280 Wer mit ihm umzugehen versteht, hütet sich vor dem Eklat – es tötet ja ohne den langsam und sicher! Wozu sollte er sich die Brutalität einer übermäßigen Dosis leisten, die ihn verraten könnte? Die Gräfin mag Morphinistin gewesen sein oder nicht – nach allem, was Sie, Graf, über ihre sonstige Gesundheit sagen, war sie es nicht oder nicht sehr lange. Ergiebt also eine Sektion Spuren von Morphium in Darm oder Magen, so wäre das in diesem Fall noch nicht belastend. Also Sie waren der einzige Interessierte am Sterbebette?«

»Der einzige Interessierte, ohne Frage! Denn die andre . . .« Ich zögere, den Namen Madames zu nennen. Sie hat mir zwar kein Stillschweigen auferlegt, aber man soll nie überflüssige Namen nennen. Das ist eine alte diplomatische Erfahrung. Schließlich – Herr Lister sieht mich so scharf an, als wenn er mir selbst einen Giftmord zutraute –, schließlich sage ich: »Ihre Frau Schwester war auch dabei – als Freundin meiner Tante . . .«

Die Mädels richten sich beide auf: »Mama?«

»Davon weiß ich nichts!« sagt Ethel verwundert.

»Ich auch nicht,« bestätigt Asta.

Ich stehe da wie ein Lügner. »Aber, meine Herrschaften, Frau Le Fort war thatsächlich eine sehr intime Freundin meiner Tante, vielleicht die intimste in letzter Zeit.«

Die Mädels prüfen meine Wahrheitsliebe – Ethel mit einem kühlen, Asta mit einem scheuen Blick. Am Ende glauben sie mir. Die Lüge war mir ja auch nie Passion, höchstens Mittel. Mir thut's leid, daß ich den Namen nannte.

Alles schweigt markant.

Endlich lacht der Doktor kurz auf. »Sehen Sie mal an, wohin ärztliches Mißtrauen führen kann! Jetzt kann ich Ihnen sagen, ich hätte auf eine akute 281 Morphiumvergiftung geschworen. Sobald Sie aber den Namen meiner Schwester nennen, ist das ausgeschlossen. Claire interessiert sich, wie die meisten Frauen, für Medizin. Sie hat sogar einen merkwürdig scharfen Blick für das Symptom. Seit dem Joniaux-Falle haben es ihr die Gifte angethan – das ist so begreiflich! . . . Meine Schwester kennt die Erscheinungen gerade bei Morphiumvergiftung so genau, daß sie bei Ihrer Tante die Diagnose nicht im Stich gelassen hätte. Was Sie also gesehen haben, lieber Graf, das sahen Sie eben mit getrübten Augen. Sterbende, für die man sich im guten oder bösen Sinne interessiert – ich bitte Sie! Darum brauchen Sie sich auch nicht etwa zu entschuldigen.«

»Aber, Herr Doktor, in dem Augenblick war mein Blick wirklich nicht getrübt! Was ich sah – war.«

Doktor Lister lächelt. »Nein, nein, dann geben Sie nur jede Hoffnung auf, mich zu überzeugen. Und was Ihren Prozeß anbelangt, so einigen Sie sich wohl besser mit den Herren. Claire ist wirklich in diesem Punkte Spezialistin. Ich habe ihr das so oft und so detailliert klar machen müssen, wie Morphium akut und chronisch in großen und kleinen Dosen wirkt. Und sie begreift so fabelhaft rasch! Es lag ja auch in ihrem Interesse. Sie leidet seit länger als einem Jahr des Nachts an einem nervösen Krampfhusten. Das ist außerordentlich quälend und Morphium eigentlich das einzige Mittel dafür. Ja, ja, Ethel, schüttle nur nicht ungläubig deinen eigensinnigen Kopf! Deine Bronchien sind in Ordnung. Da aber deine Mutter vor den Folgen des Morphiums bangte, so war es sehr natürlich, daß sie sich über die Wirkungen überhaupt genauer orientierte.«

282 Ethel schüttelt noch immer das blonde Haupt. »Jeder würde mir leid thun, den eine solche Krankheit nachts über so quält, daß er keinen Schlaf findet. Aber Mama – und nachts husten? Ich habe niemals einen Ton gehört! Und ich müßte ihn unbedingt gehört haben. Durch eine angelehnte Thür hört man in der Nacht doch alles, und eine Thür trennt doch nur unser Schlafzimmer von Mamas Zimmer. Ich habe auch seit länger als einem Jahr über guten Schlaf nicht klagen können. Der Graf Carén soll auf einmal keine Augen haben und ich kein Gehör! Ich kein Gehör? Wenn Mama sich im Bett umwendet, höre ich's immer – und sie thut's doch gewiß leise! Asta, hast du vielleicht von Husten etwas gehört? Du fährst doch alle fünf Minuten auf!«

»Wir werden eben geschlafen haben, Ethel.«

Aber die Kleine bleibt feindlich. »Gut, du hast es überhört, Asta; ich hätte es nicht überhört!«

»Kinder, Kinder!« begütigt der Onkel.

»Ach Gott, Onkel! Für mich ist es ganz klar, daß Mama nicht hustet – und wenn sie es doch gesagt hat, so hatte sie ihre wohlweislichen Absichten damit.«

»Ethel!« Die beiden Geschwister sehen sich an. Was sie auch verbindet, der Name der Mutter trennt sie sofort. Was die eine liebt, das haßt die andre. Was sagte doch der große Diagnostiker neulich von den gesteigerten Gefühlen? ›Die Unglücklichen, die sie empfinden, werden von ihrer Flamme verzehrt!‹ Wenn Madame auch eines Tages dies Asta-Gefühl verzehrte? Es wäre nicht schade um sie. Aber um die beiden Mädels ist's schade! Sie können eben darum nicht zu einander kommen, und sie sehnen sich doch beide nach der Schwesterliebe, die bei der Blonden manchmal so rührend hervorbricht und bei der Braunen 283 in jedem Blick liegt. Woher haben diese Eltern diese Kinder? Ich frage es mit einer Art Grauen. Arme Asta!

Na, mit den Augen wär's also auch nichts mehr, lieber Louis! Man muß sich mit der Thatsache begnügen, daß es noch Blödere giebt. Es versprach ein erträglicher Nachmittag zu werden. Nun sitzen wir stumm, feindselig. Der Riß, der durch die ganze moderne Gesellschaft klafft, – klafft er auch zwischen uns?

Wir trennen uns bald. Ich doch etwas ärgerlich. Sie konnten mich meine Jagdgeschichten erzählen lassen, sie belächeln, aber letzte Konsequenzen ziehen und dann alles zurückziehen – ich weiß nicht, wozu. Der Onkel hat auch wohl sein Gefühl. Er drückt mir zum Abschied warm die Hand. Es ist eine so gute, väterliche Hand! Warum ist er nicht Asta zugleich Vater und Mutter? Warum habe ich ihn nicht früher kennen gelernt? Vielleicht wäre es doch anders gekommen.

Und nun kommt's wieder ganz anders.

Nach Hause gehen mag ich nicht. Der Wald ist so nahe. Ich liebe jetzt zuweilen weite Spaziergänge, das ziellose Bummeln durchs Grüne. Ich sollte mich an dem Tage freilich vor der Waldeinsamkeit scheuen – ich scheue mich nicht.

Das ist ein wunderbarer Herbstnachmittag geworden. Hell und kalt der Himmel mit jagenden Wolken, die Sonne ein unerbittlich funkelnder Purpurball. Das schwermütige Herbstschweigen des Waldes – wo ist's? Der Wind schüttelt die Fichtenkronen, daß sie stöhnen, zaust die Eichen; die absterbenden Blätter rascheln ängstlich. Das ist nicht mehr das kosende Säuseln des Sommers, das ist der Herr, der durch seinen Wald dahinfährt. Ich liebe den Wind, vor dem die alten Stämme zittern, dem das 284 Gras sich neigt. Er rüttelt auch mich. Was schwach ist und welk, das rafft er dahin. Wenn ich Reuegefühle empfand – er nahm sie. Und die Sonne lächelt uns kalt, als wenn sie sagen wollte: er hat recht! Solch Herbst liebt die Sentimentalität nicht, er liebt die That. Ob schlecht, ob gut, ihn kümmert's nicht.

Es geht sich so leicht in der reinen Luft, die die Moderdüfte des Grundes davonjagt. Ueber die Lichtungen fallen die großen, breiten, scharfen Lichter. Die Sonne hält Heerschau über alles, was noch jung und lebenskräftig in der Natur. Darum knacken die morschen Aeste und stöhnen, darum wiegt sich der grüne Zweig anmutig wie im Spiel. Solch Herbst ist schön! Als ich ausging, wünschte ich kein Ziel. Ich suchte Vergessen – jetzt hab' ich eins. Der scharfe Wind raunt mir zu: ›Fürchtest du den Ort, wo er fiel?‹ – Nein, ich fürcht' ihn nicht! – Die rote, kalte Sonne sagt's auch. Nein, ich fürchte den Toten heute wirklich nicht. Gerade jetzt will ich auf die Lichtung, nicht, um kleinlich abzurechnen, sondern mir zu sagen: wie es war, so war's gut! Ich gehe rasch. Es ist ein weiter Weg, und nie war er mir so kurz.

Jetzt bin ich da. Ich stehe an den Baum gelehnt, an dem der Stabsarzt damals sein Besteck auspackte. In den Wipfeln rauscht's, die rote Sonne blitzt, das schilfige Gras auf der Lichtung wogt, die Vögel sind schon zu Nest gezogen. Der Tag neigt sich bald. Ich bleibe lange. Ich sehe alles noch einmal vor mir, den Unparteiischen, den Sekundanten, die ganze Dekoration dieses Mordes; ich sehe auch den schwankenden Serner, ja sogar genau die Stelle, wo er sich im Grase streckte. Als wenn man den Körper eben davongetragen hätte, so ängstlich gebückt sind da die Halme. Ich möchte bereuen, ich kann's 285 nicht. Es war doch mein Bestes, das ich ihm in dem verhängnisvollen Augenblicke damals gab. Nicht kleinliche Eitelkeit, das große Gefühl fällte den andern. Ich will das Jahr nicht mehr zurück, ich will ihn nicht wieder lebendig haben. Das ist geschrieben – grauenhaft. Mir macht's kein Grauen. Das ist Herzenskälte, und mein Herz schlägt doch gerade jetzt so warm. Wenn sie auch käme, sie, die hierher gehört, ich würde ihr das alles sagen, was ich denke, und sie würde mich verstehen und würde mir verzeihen. Die andern brauchen die schwüle Sommernacht, mir thät' es die Herbstdämmerung. Ja, sie! Ich fühle etwas wie Zauberkraft in mir. Mein heißer Wunsch wünscht sie an diese Stelle, und sie muß kommen, sie muß. Ob Bösewicht oder nicht – heute ist mein Tag, heute bin ich ihr Schicksal, wie ich es ihr damals war. »Asta.« Und ich fühle, wie der Herbstwind den geflüsterten Namen gierig packt und fortträgt. Wenn er ihn zu ihr trüge!

Da höre ich einen Laut, ich wittere menschliche Nähe. Kein Wilddieb, dem ich den Birschgang störe, kein altes Holzweib, das mich anbettelt. Meine Sinne sind aufs äußerste gespannt.

Da, kaum aus Manneslänge vor mir ein Schatten, dann eine Gestalt. Sie!

Ich rühre mich nicht von dem Baum, dessen Stamm mich deckt. Sie sieht sich auch nicht um. Ihr Fuß schleift. Sie kennt die Stelle, wo er fiel, so genau wie ich. Da bleibt sie stehen und sieht auf das gebeugte Gras und faltet die Hände. Sie möchte beten! Die Lippen bewegen sich. Und doch ist's ein leeres Gebet. Nicht Erlösung bringt's ihr, sondern Qual, wie der zuckende Mund verrät.

Ich sollte die stumme Trauer ehren – ich ehre sie nicht. Hier ist mein Zauberreich, hier herrscht 286 mein Bann. Der Herbstwind hat mir die welken, kleinen Gefühle abgeschüttelt, die kalte Sonne hat sie mir hinweggelächelt – das große, eine Gefühl blieb.

Ich schleiche heran. Der Wind fängt den Laut meines Schrittes. Ich will diese Frauenhand fassen auf der Stelle, wo Serner fiel, wo sie mich zum Mörder machte. Ein Schritt davon, wer weiß . . .

Ich zaudere nicht, ich überlege nicht. Es ist Instinkt.

»Gnädiges Fräulein . . .« Ich höre meine eigne Stimme leise, heiser, ungelenk.

Sie will zurücktreten. Da fass' ich die Hand, und ein Beben geht durch ihren Körper, ein Beben des Grauens – es ist ein süßes Grauen, stark wie der Tod. Ich fühle das. Und unsre Augen bohren sich ineinander. Es ist ein schwerer Kampf, ein stöhnend Ringen, aber der Stärkere bin ich.

»Asta . . .«

Sie schweigt.

»Asta . . .« Das ist der heiße Hauch, der spröde Laut einer großen Leidenschaft. »Weswegen erschoß ich den da?«

»Um deinetwillen!« Es ist so brutal, unvermittelt; ein Verbrecher flüstert's, dem die Gewaltthat aus den fiebernden Augen blitzt.

Sie ermannt sich. »Er« hat ihr das wohl auch geflüstert, weicher vielleicht, aber ebenso heiß: »Um deinetwillen!« Sie will weg, sich losreißen. Der Stolz des Weibes, die Scham, die eigne Schuld – das alles empört sich im unklaren Gefühl der Abwehr. Das Gefühl ist stark. Wir ringen Leib an Leib. Ein Ruck macht sie frei. Sie könnte entfliehen, sie könnte . . . ich folge ihr nicht. Sie könnte diesen Wahnsinnigen mit dem Handschuh ins Gesicht schlagen, den sie hält – sie thut's nicht. Sie liebt mich ja! . . .

287 Sie bleibt stehen auf derselben Stelle, wo sie sich frei machte; sie kann nicht fort. Wir sehen uns an und sehen uns doch nicht, ob auch unsre Körper sich fast berühren. Er steht zwischen uns, der Tote. Nicht etwa er, der plötzlich Auferstandene, auch nicht sein körperloses Gespenst, nein, das unsagbare Etwas, vielleicht der Hauch . . . Ist es die That, die uns in Wahrheit zusammenführte und doch auf ewig trennt? »Er« trennt uns doch! . . . Daß ich das gerade in dem Augenblick empfinden muß, sie auch! . . . Der eisige Hauch wird ewig zwischen unsern Lippen schweben, daß sich die heißen, fiebernden nicht berühren; er wird den schwülen Schlag der Herzen dämpfen, er wird uns vielleicht die Liebe töten. Mir erstarrt er das Blut schon jetzt . . .

Der Hauch ist verflogen. Wir sehen uns wieder, deutlich; eine Meduse sie, nur die grünen Augen leuchten tot. Ich wende mich langsam ab. Nach der einzigen goldenen Frucht, die mir wert ist, sprang ich im tollsten Satz, und in der zitternden Hand fühl' ich wieder den dürren Zweig. Es war ein Wahnsinn. Mag sie vergessen, ich vergesse auch . . . Und da wird mir das Wunder. Ich fühle einen weichen, kühlen Arm um meinen Hals geschlungen, so fest; ich fühle einen brennenden Kuß auf meinen Lippen, der einzige, der mir ewig fortbrennen wird; ich höre das leise, erstickende: »Ich liebe dich . . . ich liebe dich!« Und ich schließe die Augen, ein Schwächling, ein Thor. Da ist die goldene Frucht. Ich halte sie leibhaftig, nicht mehr den entblätterten Zweig. Und ich wage sie nicht mal anzuschauen.

In solchem Augenblick zu sterben, welches Glück!

Jetzt ist's vorbei. Wir wandeln durch den Herbst. Wir haben uns so viel zu sagen. Sie ist so schön, 288 und ich liebe sie so sehr . . . Merkwürdiges Geschöpf, das ich jetzt erst ganz verstehe! An ihr erlahmte die rücksichtslose Hand des Zeichners im ganzen Tagebuch. Wie ich sie sah, sah ich sie falsch. Sie stand meinen Augen zu nahe. Darum war sie bald blasser Schemen, bald starre Statue, zu scharf umrissen hier, zu verschwommen dort. Und sie ist doch nur ein Weib.

Nur ein Weib! Auch jetzt giebt sie mir nicht freiwillig, was sie geben soll; ich muß die Wege ihres Schicksals erraten, und heute rate ich so gut!

Sie kennt mich viel länger als ich sie. In Ostende sah sie mich zuerst; sie war damals fast noch ein Kind, dennoch begriff sie. Die Dame, die in falscher Vornehmheit ihre Spitzen achtlos durch den Dünensand schleifte, die ihre berühmten Saphire so frech zur Parade gab wie jeden andern Reiz, war ihr ein Abscheu. Aber der Mann, der dazu gehörte, interessierte sie; halb fadester Dandy, halb Lebegreis, und doch wieder kein dummes Gesicht, nicht mal schlecht. Sie erkannte instinktiv, was die beiden Menschen verband – die parfümierte Sünde –, und darum that ihr der Mann leid, und auch der Ekel schüttelte sie. Vielleicht, daß sie mich damals schon liebte . . . Sie wußte es jedenfalls nicht, aber die Mutter wußte es . . . Und in der Geschichte dieser Liebe erscheint mir die Mutter als das unheimliche Gespenst. Niemals häßliche Andeutung, immer nur der leise, leise Prickel: ›Der ist's . . .‹ Und ich war's . . . Aber der unbewußte Zauber dieses Menschen, ein Zauber, den die wohlthätige Ferne stärkte, nicht schwächte, erblich im Weibe in dem Augenblicke, wo sie mich kennen lernte. Für diesen Laffen war sie denn doch zu jung und zu gesund. Erst Gleichgültigkeit – das war in Ragaz; dann kalte Feindschaft – die begann in Berlin; 289 zuletzt der wirkliche Ekel vor dieser verdorbenen Frucht, die ein Vergnügen daran fand, fauler zu scheinen, als sie war. Das schien Rettung vor einem aufkeimenden Gefühl, das unter dem Zusammensein verdorrte. Und doch war es nur Schein. Dem Ekel folgte das Grauen vor der Frau, dem Mann, der ganzen großen Welt überhaupt. Der Gedanke an all die wüsten Vergangenheiten schützte sie vor jeder andern Versuchung – vor mir nicht. Denn ihr Gefühl trog. Es trieb sie dem Schicksal in die Arme. Denn sie liebte mich unbewußt schon damals; sie liebte den Besseren in mir, der in dem Sumpfe doch noch nicht zu Grunde gegangen war. Es war ein heimlicher Kampf, ein dumpfes Gefühl, schlimmer als jedes andre, weil sie sich selbst der Feind war und das doch nicht wissen konnte. Da ward sie müde des Kampfes. Sie war noch so jung, und sie wähnte sich schon so alt. Das reifte in ihr einen verhängnisvollen Entschluß. Sie opferte sich dem, den sie am wenigsten liebte, und der sie doch am meisten liebte. Die Mutter wollte das nicht, aber sie schwieg wie immer. Sie kannte ihre Tochter, und sie kannte auch mich . . . Wer sein Gefühl auch unbewußt mit Füßen tritt, an dem rächt die Jugend sich stets. Die Jugend rächte sich auch an ihr. Als wir uns an jenem Renntage sahen, zitterte sie vor mir, während sie kalt schien. Sie fühlte im Rücken brennend meinen Blick, als die beiden Hände sich ineinander fügten. Es war Instinkt. Sie witterte, was kommen würde; als der Wagen abfuhr, wußte sie aus meinen Augen, was kommen mußte. Sie liebte das frühreife Karlchen nicht. Das königliche Mitleid, das sich großherzig wegwarf, hatte sich überschätzt. Und dieses Mitleid rächte sich an ihr . . . Mich liebte sie nicht. Es war ja nur der Lebemann ihrer Ansicht nach, der die Niederlage nicht 290 ertrug, und den Lebemann wollte und konnte sie nicht lieben. Daß der andre, der Bessere, selbst in diesem kaltherzigen Verbrechen zum erstenmal das Haupt aus dem Sumpfe reckte, das wußte ja nicht einmal ich . . . Darum schrieb sie den Brief. Er mußte geschrieben werden, Jugend und die Wahrheit wollten ihr Recht. Aber die Schuld ward ihr darum nicht leichter. Sie wähnte, um sich selbst gespielt zu haben, und daß nun ein ganz andrer Kopf dabei fiel, das schien ihr Verhängnis. Wenn ich Serner streckte – und in meinen Augen las sie die blutige Zukunft –, so tötete sie eben ihn nach der feineren Herzensmoral . . . Aber was thun dagegen? Zu ihm, dem Ungeliebten, gehen und sagen: »Thu's nicht! Schieß dich nicht! Opfere dich nicht, ich will mich opfern!« . . . Das war ja zu spät, und sie hätt' es auch nicht gekonnt. Da kam sie zu mir. Nicht, um zu sagen: »Ich liebe dich!« – sie liebte mich noch nicht –, sondern, um zu meinen Füßen zu flehen: »Schone ihn! Schuldig bin nur ich und doch wieder nicht. Mach mich nicht zur wirklichen Schuldigen!« Wenn ich sie damals annahm . . . Vielleicht, daß ich doch weich wurde, wie so oft, und das, was Ehre heißt und doch keine Ehre ist und doch mein Halt damals war, ihr verächtlich hinwarf, – dann war ich fertig fürs Leben und sie auch. Aber ich nahm sie nicht an, ich wurde nicht schwach, ich wollte das Herzblut dieses Narren sehen, und das war gut! . . . Ich habe um mein Schicksal gefleht, so oft, und während ich noch flehte, war mir die Bitte schon gewährt. Wo wir beide, Asta und ich, mit uns zu spielen wähnten, spielte das Schicksal mit uns . . . Was auch kommen möge, ich bin dem Schicksal doch dankbar, das mich zur schlechten That aufjagte aus dem faulen Wüstlingslager. Und sie wird auch dem Schicksal dankbar sein, so schwer es sie traf.

291 Als Serner fiel – sie wußte den Tag, die Stunde vielleicht, nicht aber den Ort –, da machte sich die Mutter den grausamen Scherz, der Tochter leichthin zu sagen: »Weißt du übrigens das Neueste? Dich wird's vielleicht nicht so aufregen, wie's alle Welt aufregt – Serner und Carén haben sich heute morgen geschossen.« – »Ja, . . . und? . . .« – Da schweigt die kluge Diplomatin eine lange Minute, dann sagt sie leicht bedauernd: »Carén fiel beim dritten Schuß.« . . . Und beim letzten Wort brach die Tochter zusammen. Es ist die alte Komödie; hier ward sie fast zur Tragödie: erst über dem vermeintlich Toten begriff das Weib, daß sie ihn geliebt hatte . . . Vor dieser Schuld blieb sie bewahrt, aber unter der andern ergraute ihr Haar.

Arme Asta! . . . Du hast verzweifelnd wohl schon oft gefragt: Mußte das sein? Jetzt begreifst du vielleicht wie ich, daß das alles kommen mußte, eine maßlose Frivolität scheinbar, eine große Notwendigkeit wirklich. Dies eine Mal bedeutete der Tod wirklich Leben . . .

Der Morgen graut schon durch die zugezogenen Vorhänge. Das fahle Licht kommt so unheimlich gekrochen. Es will immer wieder mahnen wie ein scheuer Wucherer, der immer noch einen Wechsel einzukassieren hat . . . Der Teufel hole die kranke Dämmerung! Ich bin gesund, mich drückt keine große Schuld mehr.

Wenn das doch das letzte Kapitel meines Romans wäre! Ich habe keine Angst vor der Fortsetzung. Aber es soll auch nicht in gleichem Stil weitergehen. Der Bann ist ja gebrochen, das Leben hat wieder sein Recht. Und ich bin frisch, ich bin jung! Der Herbsttag hatte auch so viel unbarmherzige Frische und so viel starke Jugend, er soll mir das Omen sein. Ich seh' uns noch, wie wir aus dem Wald 292 treten. Sie will nicht, daß ich sie zum Abschied küsse. Ich verstehe das. Und daß sie nicht gleich jubelnd nach der Villa stürmt, das verstehe ich erst recht. Es ist doch etwas ganz andres, unser großes, blutiges Glück! Ich schau' ihr lange nach – sie geht langsam, nicht schleichend unter ihrer Schuld, sondern ernst, sicher. An der Gartenthür dreht sie sich noch einmal um und winkt mir mit den Augen, ihren schönen, grünen Augen.

Jetzt ist sie verschwunden. Es ist fast Abend. Wie ein Hauch liegt noch der helle Dämmerungsschimmer über dem dunkeln Fichtengrün, über mir ziehen die Wolken schwer. Kalt weht's. Und das thut meinen erhitzten Sinnen wohl.

So endet also Serners Todestag. Ihm nahm er das Leben, mir gab er die Sonne. Seltsame Ironie! . . . Ich gehe noch lange in der kühlen Luft spazieren. Schon blitzen Lichter jenseits der Spree, und über Berlin zieht sich der gelbe, schmutzige Dunstkreis.

Da höre ich neben mir eine Stimme – es ist die Stimme Ethels. »Nun, so schwermütig, Edler Herr?«

»Nein, liebes Fräulein, es war nur ein schöner Traum.«

»Sie sind so feierlich, Graf?«

»Ich habe wohl auch ein kleines Recht dazu . . . Wissen Sie, was passiert ist?«

Ethel mißt mich mit einem scharfen Blick, dann leuchtet's in den blauen Augen auf. »Sollten Sie auch hinabgestiegen sein, Graf Carén?«

»Reden Sie doch nicht solche Thorheiten!«

Da tritt sie rasch auf mich zu . . . »Gräfin Asta Carén! Es klingt nicht übel . . . Nun hat ja Mama endlich, was sie ersehnte . . . Bah! . . . Ich bin froh, daß wir nach New York gehen. Es 293 ist besser so, für Sie auch! . . . Und nun will ich etwas übriges thun, etwas Empörendes für jeden guten Geschmack, ich werde Ihnen einen schwägerlichen Kuß geben unter der Bedingung, daß Sie meine Schwester glücklich machen, und daß ich Sie niemals bei Ihrem häßlichen Namen zu nennen brauche. Duzen wollen wir uns auch nie! Sie sollen nicht aus Ihrer Sphäre.«

Und die blonde, kecke Person küßt mich thatsächlich. Sie ist doch ein reizendes Geschöpf . . . 294

 


 


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