Johannes Richard zur Megede
Von zarter Hand
Johannes Richard zur Megede

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Zehntes Kapitel.

Die Vergangenheit ist tot.

Wir sind verheiratet und wohnen seit Monaten am Lago Maggiore. Diesmal war mir die Luft meines Vaterlandes zu schwer. Es ist eine kleine, weiße Villa nicht weit von Pallanza. An den Rebenhügeln des Monte Rosso klimmt der Garten empor. Immergrüne Eichen, zum Laubgang geschnitten, das graugrüne Riesenblatt der stachlichten Agave, am Bambushain eine schöne afrikanische Palme – etwas Paradies ist's. Auf der weißen, staubigen Landstraße klingeln die Maultierfuhrwerke vorüber, trotten die abgehungerten italienischen Pferde. Wenige Fuß tiefer der See. Ich bin oft am Strande, der mit Granitplatten übersät ist. Das helle, eintönige Klixklax der Steinmeißel und Hämmer klingt von allen Seiten. Der Seearm hier liegt ruhig, blau; nur wenn die Dampfer von Baveno die Wasser furchen, kommen die Wellen schwapp, schwapp, und weißes Schaumband säumt den sandigen Strand. Drüben hebt der Monte Motterone sein Felshaupt, und die riesigen Bergschatten reichen bei Sonnenuntergang bis zu unserm Ufer. Wie ein schwermütiger Traum liegt die Isola Madre mit ihren dunkeln Hainen mitten im See. Die Grafen Boromei 341 betreten nur zur Fasanenjagd das wunderbare Eiland. Links springt Pallanza vor – eine graue, alte Kirche, deren Glocke ewig bimmelt, hohe, enge italienische Steinhäuser; dazwischen leuchtet das Zuchthaus hervor, rot, neu; zuweilen sehe ich das Bajonett eines italienischen Infanteristen auf der Umfassungsmauer blitzen; weiterhin am grünen Hügel der Castagniola zwei geschmacklose Paläste; es sind die großen Hotels. Der See zieht sich weit, blau, stumm, Felsspitzen zeichnen sich scharf in der klaren Lust, bis Wasser und Hügel allmählich im lombardischen Flachlande verschwinden. Zur Rechten ist's großartiger. Die starre Majestät des Hochgebirges schaut in die Wassersenke; in zackigen, wilden Linien die Höhen des Simplon, vom weißen Firnschnee leuchtend; auch ein Horn der Michavelkette reckt sich daneben. Die große Alpenwelt scheint nahe, aber der Schneeglanz täuscht.

Es war schön damals, und wir waren sehr glücklich, Asta und ich, als wir das Haus von einer deutschen Familie mieteten. Einsame Rosen blühten noch an der Gartenmauer, die Sonne strahlte hell, und wir tranken den ersten Nachmittagskaffee auf der Terrasse.

Jetzt gießt der Regen, die Glocken der Maultiere klingen traurig. In Nebel gehüllt ruht der See; wo das Dunstgewand zerreißt, blinkt's bleifarben, mürrisch. Den Zaubergarten der Isola Madre sehe ich nur als schwarzen, unbeweglichen Punkt. Es könnte Deutschland sein und Herbst.

Wir sitzen abends am Kamin und verschwenden das teure Holz. Wir sprechen wenig und träumen viel. Wenn man so vieles hinter sich hat, das man ohne Wehgefühl nicht berühren darf! Asta ist sehr zärtlich – eigentlich zärtlicher als ich. Ich habe ja ein schweres Geheimnis zu bewahren, sie nicht. Wenn wir so abends beisammen sind – die Kaminflamme spielt auf den bunten Cretonnemöbeln des 342 Salons, und die einzige Kostbarkeit des Raumes, ein großes Oelbild, das den Dogen Falieri darstellt im rostfarbenen Seidenwams, die Linke um den Schwertknauf gekrampft, in der Rechten eine Pergamentrolle, bekommt Leben unter der roten Glut, so daß der graue Kopf mit der Sturmhaube sich bewegt und die unheimlichen Augen des Alten, der die habsüchtige Signoria der Lagunenstadt in finsterer Gewaltthat zu bezwingen gedachte, indes ihn die Lagunenstadt in noch finsterere zwang, blitzen –, dann lehne ich mich zurück im knarrenden Stuhl. Die Bilder der Vergangenheit werden übermächtig.

Ich sehe mich nach Petersburg fahren zu meinem Vetter Lasis, noch halberstarrt von dem Schrecklichen, das ich erlebte, und dennoch fest entschlossen. Wie freundschaftlich mich der gute Kerl empfing! »Geld? Aber Mensch, was du haben willst!« Und wie er mich dann ungläubig ansah – »bürgerlich? mach keine Faxen! Das thut kein Carén.« Und als er endlich begriff, langsam begriff, weil sein österreichisches Hochadelsgefühl unter dieser Möglichkeit zuckte, fand er sich dennoch. »Gott, des Menschen Wille ist sein Himmelreich! Ich hatte auch mal 'ne Liaison, von der ich nimmer meinte loszukommen! Bei dir, Louis, ist's natürlich was andres. Und Geld brauchst dazu erst recht, alter Kerl!« Er gab mehr, als er vielleicht einem Bruder gegeben hätte. Als ich nach Berlin zurückkam, erwartete mich Asta schon in meinem Zimmer. Es war fast Mitternacht.

»Asta, was ist geschehen?«

Da stürzt sie in meine Arme, ohne Aufschrei, in jenem stummen Schluchzen, unter dem jede Fiber bebt.

»Ach, endlich! Ich bin schon seit Mittag hier.«

»Beruhige dich nur um Gottes willen, mein Schatz! Lasis garantiert für alles. Wir können ganz ruhig in die Zukunft sehen.«

343 »Wenn ich davor Angst hätte!« Dabei macht sie sich los und tritt einen Schritt zurück. »Ich möchte aber doch, Louis, daß du mir mein Wort zurückgiebst.«

»Schatz, jetzt? Wo es euch schlecht geht? Liebes Kind, deine Beweggründe ehre ich, aber sie thun mir weh! Wenn ich dich je geliebt habe, so liebe ich dich jetzt, gerade, weil es euch schlecht geht. Wenn man sich nicht wenigstens den Fetzen aristokratischen Empfindens hinübergerettet haben sollte! Aber wie du willst.«

»Louis, quäl mich nicht!«

»Und was gedenkst du zu thun?«

Sie stöhnt dumpf auf. »Ich möchte irgendwo verkommen.«

Sie ahnt also doch etwas – das wäre der Tod. Und ruhig frage ich weiter: »Warum das, Asta?«

»Weil ich dein Fluch wäre!«

»Du mein Fluch? Lieber Gott!« Und ich nehme sie auf meine Arme und trage sie zu einem Stuhl und spreche verständig mit ihr, daß sie mir ja alles sei, alles sein müsse. Langsam erkennt sie die Wahrheit, und das stumme Schluchzen löst sich in einem Thränenstrom. Sie ahnt, Gott sei es gedankt, doch nichts. Es ist nur das schwere Blut, das immer die Schatten sieht.

»Also gut, gut, Louis, ich will! Aber heirate mich bald, gleich. Geh mit mir weg in dieser Stunde noch oder behalte mich bei dir. Es ist Nacht; kein anständiges Mädchen kommt zu einem Mann um diese Zeit. Mir ist das alles so gleichgültig! Oder schicke mich doch lieber weg, es ist besser, ich beschwöre dich, es ist besser, daß ich verkomme. Wenn ich dich nur nicht so lieb hätte! Warum hast du mich eigentlich auch so lieb?«

Das war ein seltsames Wiedersehen. Doch meine Liebe übersteht jeden Sturm. Denn erst das Schwerste weckt in mir ganz den Mann. Es ist ein Wirrsal 344 freilich, in dem ich tappe. Und es kam noch eine Zeit. Wenn ich die sechs Wochen noch einmal erleben müßte, Madame sehen, schweigen und doch jeder Blick von uns beiden ein Dolchstoß, der mir das Herz zerfetzte und ihr auch, ihr, die der Tochter alles opferte, zuletzt sich selbst. Denn ein Wiedersehen giebt's nach der Verheiratung nie mehr! Das ist stillschweigende Uebereinkunft. Mag sie verbluten, einsam an ihren Sünden; mag sie verenden auf faulendem Stroh, aber meine Frau darf nie wieder in diesen Kreis, was auch geschehen möge. Auch diese Zeit ging vorüber. Ich sehe noch, wie auf dem Anhalter Bahnhof die beiden den letzten Kuß tauschten, der nur ein Hauch war, so schnell rissen sie sich los. Asta sprach auf der ganzen Tour bis München kaum ein Wort, nur von Zeit zu Zeit fuhr sie zusammen und drückte den Kopf gegen die Coupéfenster, während der Winterwind seine großen Flocken trieb. Mutter und Tochter haben sich doch sehr lieb. Nein, sie ahnt nichts, das merkte man an dem Kuß.

Seitdem wird der Name Frau Le Forts nicht mehr genannt. Er geht mir nicht über die Lippen. Und Asta, die genau weiß, daß Madame und ich uns nie liebten, verlangt seltsamerweise auch keine Rücksicht in dem Punkte. Ich weiß nicht mal, ob sich die beiden schreiben. Unter den Briefen entdecke ich nicht die verhaßte Handschrift. Das müßte mir zu denken geben, wenn der Kuß nicht wäre! Die Frau, die so schrecklich mit dem Leben andrer spielte, hätte Asta nie wissend geküßt! Eine Vergangenheit giebt's eben auch ihr nicht. Darin sind sich die Schwestern ähnlich. Im neuen Nest vergessen sie das alte. Es ist auch viel besser so, dennoch befremdet's mich gerade bei Asta.

Das sind die düsteren Bilder der Vergangenheit, wenn der Regen strömt und der Magnolienbaum 345 seine dicken, glänzenden Blätter neugierig gegen die Scheiben preßt. Der alte Falieri, dem sie das Haupt zu Füßen legten, angesichts der leuchtenden Herrlichkeit von San Marco, ist eigentlich der Hauptschuldige. Wen das Schicksal so hoch hob und so tief stürzte, dessen Anblick giebt zu denken. Ach, es giebt auch so viel schöne Erinnerungen bei uns – die Hochzeitsreise, auf der man die großen Thorheiten stammelt, dies verborgene Liebesnest selbst, wo jeder Händedruck, jeder Blick innerliches Verstehen heißt. Was liegt mir im Grunde daran, ob der ungeschickte Griffel meine Frau verzeichnet. Was zwei innerlich miteinander erleben, das giebt man doch nie preis. Die Wärme, die mich jetzt umgiebt, kann ich die schildern? Oder all das Köstliche, das nur die Fingerspitze fühlt? Ein Dritter kann das belächeln, und für diesen Dritten schreibt man doch eigentlich das Tagebuch.

Man sollte im Glücke niemals zurückschauen. Der Augenblick ist schön, und der kommende noch schöner. So genießen die Kinder, und sie genießen doch allein. Je tiefer man in die Abgründe des Lebens schaut, je mehr wird man Fatalist in allem.

Darum lasse ich auch meine Prozeßgeschichte gehen, wie sie will. Die müde Stiftung telegraphierte mir neulich, ob ich nicht Halbpart machen wollte. Eine Million, das ist mehr als genug. Aber mein Rechtsfreund, der Mollah, will durchaus nicht. Er setzte mir das brieflich ganz verständig auseinander. »Was Ihnen von Rechts wegen zukommt, Herr Graf, werden Sie doch nicht auf dem Wege des Vergleichs und arg beschnitten annehmen. Solch unbedachtes Zugreifen sähe ja wie Angst aus, beinahe als wenn Sie die Alte mit Morphium langsam vergiftet hätten! Es giebt Leute, die das sofort behaupten würden. Exhumiert wird nicht, wenn das Ihr Zartgefühl beruhigt. Ich habe den Medizinalrat jetzt so zahm, 346 daß er aus der Hand frißt. Ende März ist Schlußtermin. Da wird sich's zeigen, daß ich recht habe.«

Wir sind jetzt Anfang März. Der Frühling ist da. Die unerbittliche italienische Sonne lacht. Im Garten blühen die Tulpen, und die smaragdgrünen Eidechsen huschen aus jedem Mauerritz. Die weiße Landstraße stäubt bis zu unserm Kaffeetisch auf der Terrasse. Ueberall die Treibhausdüfte des italienischen Lenzes, ein wenig zu viel Parfüm, zu viel helles Licht. Der deutsche Lenz ist doch schöner. Ich vermisse den Geruch der frischen Scholle, das zarte Hellgrün auf Wiese und Moor und den scharfen Frühlingswind, unter dem das glitzernde Gras sich duckt. Hier kommt der Lenz wie eine Woge, die Büsche sind ein Blütenmeer, die blauen Glycinen kriechen wie Unkraut am Haus empor; nur das leise Vogelgezwitscher, mit dem unser Frühling erwacht, dringt nicht an mein Ohr.

Heute ist es besonders schön. Wir sitzen auf der Terrasse in der Mittagssonne. Auf der Landstraße marschieren die Touristen. Mancher sieht neidisch zu unserm Kaffeetisch herauf. Sie kommen in letzter Zeit wie die Mückenschwärme, die der erste Sonnenstrahl lebendig macht, und die der erste Frühlingsregen ebenso schnell verjagen wird. Ich mokiere mich über das Volk unter uns. Es sind viele Deutsche dabei, namentlich Naturmenschen mit einer Hühnerbrust, im Jägerkostüm, und Protzen mit dem breitspurigen Tritt und dem unverschämten Blick, der immer fragt: ›Was kostet denn das ganze lumpige Italien?‹ Ich liebe Touristen überhaupt nicht, und einer grüßt auch sogar zu uns herauf, ein Bergfex aus den »Fliegenden Blättern«, Herr Bomulunder. Die Gattin an seiner Seite gab ihm einen gelinden Stoß. Es ist die veritable Gräfin von der Le Fort-Gesellschaft damals – nicht gerade jünger, nicht 347 reizvoller. Ich gönne den beiden sehr ihr Eheglück. Asta verzieht beim Gegengruß etwas den Mund.

»Er ist unter die Rittergutsbesitzer gegangen, der Bomulunder, weißt du?« sage ich.

»Ich las seine Verlobung in der ›Kreuzzeitung‹. Warum sollten sie auch nicht?«

»Allerdings, ich werde ja auch wieder unter die Landjunker gehen. Paß mal auf, Asta! In vierzehn Tagen wird dir ein Telegramm präsentiert werden, und du wirst deinem Manne um den Hals fallen und wirst dann sehr lange überlegen, ob es jenseits der Weichsel ein Gut giebt, das schön genug ist für die gräflich Carénsche Dynastie.«

Darauf wird sie warm. »O ja, Louis, du hast mir so viel von dem Osten erzählt, und wie dir die Landwirtschaft Vergnügen machen wird. Die Flitterwochen müssen doch mal aufhören, und du sehnst dich nach irgend einer Bethätigung, ich seh's dir an.«

»Lieber, lieber Schatz, ich müßte dir vor allem ein wirkliches Heim geben. Auch andre Leute als die Schiffer vom See sollen hinter dir stehen bleiben und sagen: ›La Bella Marchesa‹. Und weißt du, zu welchem Zweck man sonst heiratet?«

»Louis, du sollst nicht!«

»Schatz, Schatz, warum soll ich eigentlich nicht?«

Sie kann mich beinah ärgerlich machen, wenn sie die Möglichkeit eines Grafen oder einer Gräfin Carén neueren Datums so sehr bestreitet. Sie hat gar kein Recht zu diesem Streit, gar keins, wie ich genau weiß. Aber sie will und will das einmal nun nicht wahr haben, wonach ich mich so sehne, und das ganz sicher die Welt mit wenig gräflichem Geschrei begrüßen wird.

An der Gartenthür klingelt's. Ein Betteljunge, der in den kläglichsten Tönen um Almosen winselt. Morgen ist Markt in Intra, und italienische 348 Vagabunden grasen heute vorschriftsmäßig die umliegenden Nester ab. Ich will dem Bengel einen Soldo in den Hut werfen, da seh' ich, daß er irgend etwas Lebendiges in der Hand hält. Ich winke ihm – ein schmutzstarrender Piemontesenbengel mit den Madonnenaugen, an die kein Mensch in Italien glaubt, taucht neben der italienischen Palme auf.

»Was hast du in der Hand?«

Er hält uns darauf einen Vogel hin, der wehmütig piept, die braune Faust faßt ihn unbarmherzig.

»Ich werde dir das Vogelfangen abgewöhnen, mein Sohn!« sage ich empört, im denkwürdigsten Italienisch.

»O, Signore, das ist nichts Böses! Ein Vogel ist kein Christ.«

Das ist die reizende südliche Moral, mit der das unwissende Volk vom Aetna bis zu den Alpen die scheußlichsten Tierquälereien liebenswürdig lächelnd abthut.

»Brutto Scorpione!« herrsche ich den Bengel an, »laß den Vogel fliegen!« Ich verstehe jetzt in der Fingersprache ausgezeichnet zu sagen, wo das Italienische mich im Stich läßt.

»O, Signore, date mi due Soldi - due Soldi!« bettelt unentwegt der kleine Brigant und preßt den Vogelbalg fester.

Ich werfe ihm das Geld hin. Der Vogel flattert matt nach einem Gebüsch. Mir ist der Bengel mit den Madonnenaugen so widerwärtig wie möglich. »Scher dich weg!«

Asta schüttelt den Kopf. »Versuch's doch, ihm klar zu machen, daß er etwas Häßliches gethan hat. Vögel fangen sie ja hier alle!«

»Ich, dem infamen Bengel?«

»Er ist ein Kind . . .«

»Kind hin, Kind her, die Tierquälerei liegt dem 349 italienischen Gesindel im Blute. Sie mögen nun einmal nichts Lebendiges leiden, so wenig wie ein Sibirier einen Baum.«

»Er ist aber doch nur ein Kind,« wiederholt sie.

Der Spitzbube hat sich unterdessen getrollt. Er ahnt, daß ich bei dem Streite die Oberhand behalten werde. Aber ich sehe seine Madonnenaugen noch eine Stunde später hinter der Gartenmauer leuchten, wo er wieder Vögel belauert.

Als er weg ist, bedaure ich die Aufwallung. Ich weiß ja, daß Asta Tiere lieb hat, sonst hätten wir den schwarzen Tiny nicht bis hierher geschleppt, obgleich sich auf der ganzen Reise die Leute über sein wildes Geheul im Hundecoupé beschwerten und jetzt keine Mauer seinen Katzenhaß bändigt.

Auch Kinder liebt sie, aber immer fremde Kinder, so wie sie heute diesen Unhold von der Straße in Schutz nahm. Und da sind wir wieder an dem Punkte, der uns einmal entzweien könnte, wenn die Leidenschaft ausgeglüht hat. Ich habe heute so hauskaterliche Gefühle, daß ich wie ein Pfarrer gesetzt und liebevoll rede.

»Schatz, was willst du nun eigentlich? Erkläre mir doch, warum das, was du mit aller egoistischen Mutterliebe schon jetzt lieben solltest, dir nur eine Quelle der Angst ist? Hast du wirklich Angst?«

»Nein.«

»Sieh mal, Asta, das ist wieder so was Rätselhaftes in deinem Wesen, was mich ganz irre macht. Ich sehne mich nach dem Kind, ob Junge oder Mädel, weil es nun einmal zum Leben gehört. Damit hat man überhaupt erst ein Lebensziel. Man will es doch besser erziehen, als man selbst erzogen ist; man will das Gute, das man ihm mitgiebt, stärken, das Böse, das man ihm mitgiebt, aberziehen. Das kann gar nicht so schwer sein. Sieh von mir 350 ab! Ein Vater ist im allgemeinen kein Engel, aber auch kein Bösewicht, und vor allem will er etwas andres züchten, als er selbst war. Mir wird das schwer werden. Aber du, liebe Asta, die du deinem Kinde mitgiebst, innerlich und äußerlich, was einem Kinde überhaupt mitgegeben werden kann? Dennoch willst du nicht. Es ist Laune.«

»Weißt du das so genau, Louis?«

»Ja, das weiß ich allerdings, Schatz!« Ich will ihr darauf die Hand küssen, was ich nicht aus Komödie thue, sondern weil mir diese Hand wirklich alles gab.

Aber Asta zieht die Hand zurück. »Thu's lieber nicht! Ich kann dir nur sagen, mir bangt vor dieser Möglichkeit, die ich nicht aussprechen kann.«

»Ja, das wirst du eben überwinden müssen, meine liebe Asta.«

*

Nachmittags fahren wir nach San Catarina hinüber. Von unsrer Villa kann man den Fels noch gerade sehen, wo das Kloster eingesprengt ist. Vor vielen Jahrhunderten hauste dort Beato Alberto in einer Felsennische als Klausner. Ein Wallfahrtsort ward später daraus, als Felstrümmer von der Höhe stürzten und das Klosterdach durchschlugen. Da stockte der Fall, der tote Alberto erhob sich aus seinem Glassarge und wehrte dem Gestein. In der Schwebe hängen noch jetzt, von zwei Backsteinen gehalten, die gewaltigen Blöcke, – es erscheint wahrlich wie ein Wunder. Seitdem pilgern die Gläubigen zu der Stelle.

Wir benutzen unser eignes schmales Boot. Asta sitzt am Steuer, ich rühre die Riemen kräftig. Sie liegen mir gut in der Hand, und der Nachen fliegt. Jetzt heben sich die Häuser von Pallanza aus dem Blütenflor in weißem, grellem Lichte, hoch darüber 351 starren die Schneeberge, unten blaut der See tief. An der Landungsbrücke wiegt sich eine elegante Barkasse unter Dampf, eine etwas exotische Flagge weht. Die Nichtsthuer von Pallanza drängen sich am Strand, die braunen Schiffer, die Bengels, alle in zerrissenem Anzug, die bunten Tücher ausgefahlt; nur der Italiener trägt mit Grazie das Bettlergewand. Ich tauche die Riemen tiefer, ich möchte nicht den Pfad der exotischen Majestät kreuzen, die seit Wochen am Lago weilt und mich einst zur Mazurka befahl; übrigens ist's eine deutsche Prinzessin. Die Fischerbarken mitten auf dem See liegen unbeweglich, ein geflicktes Segel leuchtet gelb. Lange, ölige Linien ziehen sich übers Wasser; sie sollen Sturm melden. Der lachende Himmel weiß nichts von Sturm. Die Kielwelle rauscht leise. Dann schickt uns ein großer Dampfer zwei schwere Wogen, auf denen der Nachen tanzt. Der See ist so tief und so klar, und wir gleiten lustig über eine fast bodenlose Tiefe. Dann öffnet sich zur Linken die ganze Länge des Sees. Braune, dunstige Felshöhen, der Strand mit weißen Häusern übersät, in der Ferne ragen die Schneeberge von Locarno. Die pralle Sonne geniert mich bei dem Nackenschleier nicht, und die Flut spendet wohlige Kühle: wenn ein Tropfen von unsern Rudern auf die Hand spritzt, ist es ein eisiger Tropfen, Gletscherwasser nähren so den See.

Santa Catarina! Ich lasse die Ruder ruhen und sehe mich um. Der steile Fels steigt aus der blauen Flut, blühendes Gebüsch wuchert in den Ritzen. Auf halber Höhe das Kloster, ernst, feierlich. Ich voltigiere an Klippen vorbei, über denen das Wasser grünlich schillert; daneben die blaue, verschwimmende Tiefe. Fische spielen behende im Licht. Ein gewundener Pfad führt empor. An der 352 Brustwehr oben lehnt der alte Pfarrer in neuer Soutane. Wir grüßen ihn und treten in die kühle Kirche. Modrige Luft umfängt uns. In einer Nische schläft Beato Alberto den ewigen Schlaf, lang ausgestreckt, das Gerippe in ein grellrotes Gewand gestopft, mit silbernem Flitter verziert, darüber ragt gespenstisch der braune Schädel mit den leeren Augenhöhlen. Das Volk liebt nun einmal solche geschmacklose Maskerade. Tiefer unten gähnt der Felsenspalt, wo der Sänger büßte, hoch oben der hangende Steinsturz, das Wunder. Pilgerkränze hängen an den Wänden, ein weißer Teller, mit verschimmelten Soldi und geflickten Lirescheinen überhäuft, mahnt um Spende. Man thut mit. Asta ist's in der katholischen Atmosphäre voll Moder und Weihrauch unbehaglich. Wir wollen nach oben auf den Berg zu dem Kloster. Als wir durch die hallende Kirche zurückgehen, öffnet sich weit das Portal, die exotische Majestät tritt ein, vom Pfarrer geführt, dann ihre Suite, ein alter Kammerherr und eine junge Hofdame. Meine Petersburger Erinnerungen erwachen, ohne daß ich es wünsche. Eine tiefe Courverbeugung, vor der Asta hinter eine Säule flüchtet. Die hohe Frau streift den Grüßenden mit scharfem, schnellem Blick und kommt dann auf mich zu.

»Graf . . . Graf . . .«

»Carén, Eure Majestät.«

»Seine alten Bekannten erkennt man doch immer wieder.«

»Es giebt auch wenige von so königlichem Gedächtnis als Eure Majestät.«

»Gut geschmeichelt. Und Sie sind doch aus der diplomatischen Carriere heraus, wie ich höre. Warum eigentlich?«

»Majestät . . .«

»Ich ahne, mein Lieber. Ich hätte Sie gerne 353 später einmal als Gesandten an meinem Hofe gesehen. Sie tanzen gut . . .«

»Das war aber auch das einzige, Majestät.«

»Na, na! Ich wurde noch neulich an Sie erinnert, mein lieber Graf, als ich gelangweilt im Gothaischen Kalender blätterte. Sie sind der Letzte Ihres Namens. Wollen Sie das bleiben?«

»Hoffentlich nicht lange, Majestät.«

Da mißt mich die hohe Frau von Kopf bis zu Fuß, am Trauring haftet der Blick. »Ach so! Sie sind auf der Hochzeitsreise?«

»Ich wohne schon seit Monaten bei Pallanza, Eure Majestät.«

»Ihre Frau?«

»Da!« Ich mache eine halbe Bewegung nach der Säule, an der Asta lehnt, um das Altarbild besser zu sehen.

Die hohe Frau nimmt das langgestielte Lorgnon vors Auge und klappt's gleich mit einem Ruck zusammen. Sie reicht mir die Hand, die ich unterthänig mit tiefer Verbeugung küsse. »Ich gratuliere Ihnen, mein lieber Graf. Nicht alle aus königlichem Blut können sich solch königlichen Wuchses rühmen.«

»Eure Majestät machen Ihren unterthänigsten Diener glücklich.«

»Ich bleibe noch einige Zeit in Pallanza, mein lieber Graf. Wenn es Ihnen Spaß macht, präsentieren Sie mir doch Ihre Frau. Jetzt verlangt erst der Beato Alberto das Seinige, er wartet schon so viele hundert Jahre auf das Heiliggesprochenwerden, der arme Mann!« Die hohe Frau grüßt mich noch einmal flüchtig mit den Augen, indes ich in Unterthänigkeit versinke. Wäre ich allein gewesen, hätte mir vielleicht ein Platz in der königlichen Barkasse geblüht; jetzt scheut wohl die hohe Frau einen 354 Vergleich mit der andern. Wer von den beiden sieht königlicher aus? Ich weiß es.

Aber die Sonne königlicher Huld thut doch sehr wohl, und als ich mit Asta den steinigen Pfad zur Höhe emporklimme, sind wohl meine Bewegungen etwas abgemessen, höfisch, denn meine Frau lächelt mokant. »Na, na, Louis, die alten Zeiten waren doch schöner?«

»Nein, sie waren wahrhaftig nicht schöner! Aber du weißt ja, wie die Erinnerung alles Vergangene aufschminkt.«

Die vergangenen Zeiten waren wirklich nicht schöner, das fühle ich auf der Höhe. Ein einsames Gehöft liegt da, ein echter Bauerngarten mit Gemüsebeeten und schiefen Oliven. Der Frühling regt sich hier erst mit hellgrünen Trieben und bescheidenen Wiesenblumen. Aus der Tiefe leuchtet der See, von den weißen Spitzen der Schneeberge gerahmt; das gleißt und glänzt alles in festtäglichem Gewande. Solche Lebensfreude vor Augen, möchte einem auch das Herz hüpfen. Ja, das Dasein ist doch schön! Wie Asta so neben mir steht, traumverloren wie ich, den Blick auf die dunkeln Zaubergärten der Borromeischen Inseln zu unsern Füßen geheftet, mitten drin in dem tollen Frühling des Südens, den der Eisglanz des Hochgebirges gürtet, und wie die Sonne auf der weißen Spitze des Monte Rosa glüht, der klein wie ein Zuckerhut hinter dem Motterone hervorlugt: da bitte ich dem Schicksal vieles ab, um das ich mit ihm zürne. Wenn wir beide erst das Kind haben, es wird nicht sein wie ich, sondern wie sie, dann werden wir auch unter dem lastenden Himmel des Ostens über all die italienische Herrlichkeit lächeln und sagen: Bei uns ist's doch noch schöner! Ich werde mich wiederfinden, und sie wird sich wiederfinden, und eine große Natur wird all die Wunden heilen, die das Leben schlug.

355 Dann gehen wir stumm weiter. Die höchste Schönheit liebt das bewundernde Wort nicht, und das beste Gefühl verschließen wir auch lieber in uns selbst.

In dem Gehöft treiben sie Schafe über den Weg, etwas Schreckliches kriecht hinterher, ein Kretin mit blöden Augen und Stummeln statt der Füße. Er stößt einen langgezogenen, tierischen Laut aus, als er uns erblickt, bei dem ich auch angeekelt zusammenzucke. Es ist nicht etwa ein Bettler, es ist einer der Bauernsöhne vom Hofe, degeneriertes Blut, wie so oft in den Gebirgen. Das ewige Polentaessen und das stumpfe Ineinanderheiraten erzeugt in Piemont eine schreckliche Krankheit, unter der auch in der reinsten Luft die Geschlechter dahinsiechen. Wenn man so etwas sehen muß nach all der geschauten Herrlichkeit, ja, das ist eine üble Rückseite der Medaille, das ist die Entartung, vor der mein altes Blut immer fröstelt. Ich sehe Asta an, ganz heimlich, ob sie nicht dieselben Gedanken hat wie ich. Aber sie blickt nach der andern Seite, so daß ich nur den königlichen Nacken sehe.

Dann steigen wir den steinigen Pfad wieder hinab zum Kloster. Wir straucheln jetzt beide oft, was uns beim Aufstieg nicht passierte. Zur Erholung bleiben wir auf der Klosterterrasse bei fadem Asti und sehen die Bergschatten über die Schneefelder sich strecken und die Tageskönigin verglühen. Die Fische spielen nicht mehr, aber die Sonne leuchtet warm und freundlich bei ihrem Niedergang. Es regt sich kein Lüftchen. Ueber Arona ballt sich jedoch eine Dunstwand zusammen. Ehe die Dunstwand heranziehend den See deckt, müssen wir zu Hause sein. Ich rudere wohl scharf, aber es sind anderthalb Stunden, die auch der flinkste Schiffer des Lago Maggiore zur Ueberfahrt braucht. Die 356 Dunstwand kommt hinter uns hergezogen – stumm, grau, lastend. Sie birgt ein Unwetter. Jetzt zuckt auch ein Blitz auf. Die violetten Reflexe gleiten über das Wasser, ferner Donner rollt. Ein Windstoß. Die ölige, dunkelgewordene Flut weicht nur widerwillig den Ruderschlägen. Die Fischerboote verschwinden, längs des Ufers bei Stresa zieht der Dampfer seine tiefe, schwere Rauchlinie. Wir sind fast allein mitten auf dem See.

»Hast du Angst, Asta?«

»Keine Spur!«

Und ich lege mich geschmeidiger aus, die Riemen biegen sich. Aber die Dunstwand hat es noch eiliger. Die Blitze zucken jetzt heimtückischer, die Flut gleißt düster. Unsre Kielwelle raunt nur, dennoch klingt's drohend. Das Wasser sprudelt auf, dann glättet sich wieder die Flut. Einmal, zweimal, es ist, als wenn der Wind seine Kraft prüfte. Dann fühle ich, wie der Sturm die Backen voll nimmt. Die Dunstwand hat uns eingehüllt. Die weißen Häuser von Pallanza erkenne ich nicht mehr, sie sind in ein brodelndes Staubmeer gehüllt, nur einsame Lichter blinken auf . . . Aber ich bin sehr ruhig, ich habe so viel Kraft noch zu verschwenden. Es ist eine gespenstische Fahrt, aber eine schöne Fahrt. Der Himmel flammt, der Donner grollt tief. Nun der erste prasselnde Schlag! Die Berglinien zucken scharfumrissen auf, fahl leuchtet der Firn. Um uns am Nachen ein Rauschen und Wogen. Weiße Schaumköpfe heben sich aus der schwarzgrünen Flut, drängen das Boot, zergischten, die dünnen Holzwände zittern.

»Hast du Angst, Asta?«

»Keine Spur!«

Wie der Wiederschein eines Riesenblitzes die Spitzen des Simplon mit einem schwefligen Licht 357 übergießt, sehe ich auch unsre weiße Villa deutlich. Und jetzt hat uns der Sturm gepackt, er bläst von rechts, von links, vom Rücken, von der Seite, von vorn. Das Boot pariert nicht mehr. Mir wird doch etwas bänglich. Da – eine lange, violette Linie, die die steinbesäten Ufer entlang fährt.

Wir sind wenig Ruderschläge von unsrer Bucht. Ich ziehe die Riemen durch, daß das Holz knackt. Auf einmal ein Ruck, der uns fast aus dem Boote schleudert. Ich bin auf einen Felsblock gefahren. Aber jetzt ist die Sache nicht mehr gefährlich. Der Regen klatscht in großen Tropfen, als wir zum weißen Hause hinaufsteigen. Asta wird das Steigen etwas schwer.

»Fühlst du dich nicht wohl, mein Schatz?«

»Der Ruck ging mir durch und durch, Louis. Aber ängstige dich nur nicht!«

Beim Thee ist sie dann etwas blaß. Ich zwinge sie, sofort ins Bett zu gehen.

*

Heute ist der italienische Arzt ans Pallanza da. Er untersuchte sie umständlich. Nichts von Bedeutung. Es sind die gewöhnlichen Unpäßlichkeiten in einer jungen Ehe. Wir radebrechen ein miserables Italienisch miteinander, der Arzt und ich.

*

Den andern Tag war der gute Mann aber schon wieder da. Die Lage bedeutend ernster. Den Gedanken an das sogenannte frische Reis am gräflichen Stamme kann ich vorläufig aufgeben. Wir werden's ertragen . . . Wenn sie nur davonkommt!

*

Eine Autorität aus Pavia herübertelegraphiert. Ein sehr versierter Herr mit brillantem Französisch. Es handelt sich um weit mehr als um das Kind, es handelt sich um meine Frau. Aber Hoffnung ist noch reichlich vorhanden.

*

358 Zwei Tage später muß ich ihn wieder citieren. Von Pallanza bis zur Villa rasen wir im Carriere, weil das Dienstmädchen mit rotgeweinten Augen uns schon an der Anlegestelle erwartet.

Die Feder wird mir schwer, sehr schwer. Meine Frau stirbt.

Die Autorität war ganz erstaunt über die Veränderung. Asta muß in der Zwischenzeit etwas erlebt haben, etwas Schreckliches erlebt haben.

Meine Frau stirbt. Wenn man das so geschrieben sieht, die drei Worte . . . Ich bin nicht aufgeregt, ich habe keine Anlagen zum Jubilieren und ebensowenig zum Weinen. Was kommen muß, kommt doch . . .

*

Es ist wieder ein schöner Tag. Ich sitze in ihrem Schlafzimmer an ihrem Fenster. Der Kamelienbaum im Garten blüht rot und weiß – ein überschwenglicher Lenz, der sich vor Lebenskraft gar nicht zu fassen weiß. Ein riesiger Kamelienstrauß steht auf dem Nachttisch. Eine Königin schickt ihn einer Sterbenden. Es ist freilich hübsch, aber was nutzt's mir. Eitelkeit, wo bist du? . . . Was sind Königinnen überhaupt? Wozu sind Königinnen da? Um Sterbenden Blumen zu spenden? Vielleicht . . . Das sind so meine Gedankenkreise. Die Nacht kann Asta noch erleben, den Morgen nicht. Das war richtig von der Autorität, daß sie mir keine Flausen vormachte. Wenn's nur nicht Frühling draußen wäre! Was hat der Frühling für ein Recht, wenn sie stirbt? . . . Verwünschter italienischer Frühling, du bist so grell!

Asta ist seit drei Tagen ohne Besinnung. Ebenso habe ich kein Auge zugethan. Was heißt überhaupt Schlaf? Es giebt nur einen Schlaf.

Jetzt dämmert's. Der Monte Motterone schimmert unter dem scheidenden Licht rötlich, ich sehe das Hotel auf dem Gipfel im Schnee eingebettet. 359 Tiny, der, den Kopf an meinem Fuß, auf dem Bettteppich liegt, wedelt mich lautgähnend an. Ihm mag's langweilig werden, oder er mag Hunger haben; er weiß ja nicht, was kommen muß. Die Stunde fließt. Ich habe kein Gefühl dafür. Ich will die Zeit auch nicht aufhalten, ich will sie nicht aufhalten. Nun bringt das Mädchen die Lampe.

»La Marchesa? O molto triste...« Das Gewinsel ennuyiert mich, es ist Komödie oder wertloser Instinkt. Ich winke das glutäugige Ding hinaus.

Allein mit ihr. Sie liegt in den weißen Kissen so rosig, die Farbe der Kamelien . . . Wenn sie doch so ohne Ahnen ins Nichts hinüberschlummerte! Ich habe nicht den kleinen Egoismus, dem's um ein Abschiedswort, um einen letzten Blick zu thun ist. Ich hatte sie trotzdem so sehr lieb! Das wird mir auch der liebe Gott nicht abdisputieren wollen. Und wenn mir die weise Vorsehung es dennoch bestreitet? Mag sie . . .

Das Schwerste kommt noch. Sie erwacht, erkennt mich, ich drücke ihr die fiebernde Hand. Wenn Sterbende doch nicht lächeln wollten! Es ist so nervenzerrüttend – den Tod im Herzen, den Lenz auf den Lippen. Und ich muß doch wieder lächeln, muß etwas sagen. Ich sage, was alle Menschen in meinem Falle sagen würden: »Soll ich nach deiner Mutter telegraphieren, Asta?« Jetzt, wo alles aus ist, kann sie kommen. Ich hasse sie gar nicht mehr.

Asta will davon nichts wissen. Sie schüttelt mühsam den Kopf. »Meine Mutter? Niemals . . . Komm näher, Louis, damit ich nicht so laut zu sprechen brauche! . . . Ich weiß alles, alles. Mein Onkel starb an Gift – die Tante starb an Gift – der Kanarienvogel starb an Gift. Eine lächerliche 360 Zusammenstellung! Und auf dieser Erde ist doch eigentlich nichts lächerlich, sondern alles unsagbar traurig. ›Ich will nicht, daß meine Leiche seziert wird . . . ich will nicht!‹ Das waren des Onkels letzte Worte, die er mit aller Anstrengung herauspreßte. Er wußte, woran er starb, und ich weiß es auch. Uns beiden sollten ja die Wege zum Glück geebnet werden, und wir beide ahnten noch nicht einmal, daß wir uns liebten. Die andern mußten darum doch sterben . . . Frage nicht, wie ich zur Wahrheit kam! Man hat zuweilen seine lichten Momente. Aber daß du auch alles weißt – ja, lieber Louis, das wußte ich nicht, dazu war ich zu dumm und wollte auch wohl dumm sein. Seit voriger Woche habe ich nicht mal den Trost mehr . . . Du gabst mir selbst den Brief des Rechtsanwalts, ohne zu ahnen, was ich herauslas. Das war der letzte Ruck. Die Sache mit dem Boot, als ich mich innerlich verletzt haben sollte, das ist Unsinn. Jetzt brauche ich auch nicht mehr zu lügen. Ich sterbe an meiner Mutter – ja, ich sterbe an ihr . . . Und ich kann für alles, was sie that, sie nicht einmal hassen. Ich kann ihr nicht böse sein, ich kann sogar verstehen, ja verstehen. Bei diesem Verstehen schüttelte mich das Grauen. Ich weiß, daß es mit mir zu Ende geht, daß vielleicht die Stunde drängt, wo das Delirium wiederkommen muß . . . Wir wollen nicht mehr von meiner Mutter sprechen! Ich will auch nicht an sie denken, ich will sie auch nicht wiedersehen. Da oben . . . Wer weiß überhaupt . . . Aber nun verstehst du mich wohl auch, Louis, warum ich mein Kind nicht haben wollte, obgleich ich fremde Kinder so liebe. Wenn sich da der ererbte Trieb wieder gefunden hätte, diese verbrecherische Mutterliebe, an der ich sterbe? Und selbst, wenn der Trieb nicht gekommen wäre – 361 aber das Warten auf sein erstes Regen, das hätte mich schon wahnsinnig gemacht. Eine Generation überspringt der dunkle Punkt im Blut vielleicht, um sich dann bei der nächsten, gerade bei meinem Kinde, schrecklicher als je wiederzufinden. Darum schließt man besser das Geschlecht ab, solange es noch Zeit ist, und solange man noch klar sieht. Glaub mir, Louis, wie es jetzt kommt, es ist besser, auch für dich . . .«

Viel hat sie nicht mehr gesprochen. An meine Zukunft hat sie nicht mit einem Worte gerührt, sie kennt sie, das ist so fein gefühlt . . . Ja, wir zwei verstanden uns wirklich.

Sie starb schwer, sehr schwer. Der Körper war ja noch so jung, das Blut so frisch! Zwei schreckliche Tage noch kämpfte der Tod mit der Besinnungslosen, bis er sie endlich zwang. Ich habe in der Zeit den Himmel nicht um Gnade angefleht. Was durch Astas letzte Worte durchzitterte, hieß: Wir hatten kein Glück und werden kein Glück haben, wir zwei, so sehr wir uns auch lieben. Sie hat recht. Warum also mit Gebeten dem Tod ins Handwerk pfuschen!

Da liegt sie nun – es ist endlich ausgelitten. Ich halte die erstarrende Hand in meiner Hand – sie hat eine so schöne und regelmäßige Hand! . . . Wir werden uns wohl wiedersehen, mein Schatz, oder wir werden ewig schlummern.

*

Das Wetter ist umgeschlagen. Schnee im Frühling. Auf den Kamelienblüten liegt es ganz weiß. Der Schnee fiel an ihrem Begräbnistage. Es war ein vornehmes Begräbnis, und eine Königin beugte sich über ihren Sarg. Vanitas vanitatum!... Jetzt bin ich wieder in dem weißen Hause allein. Die Todesanzeigen flogen in alle Winde – ich schrieb an niemand eigenhändig, auch die kleine Ethel muß 362 sich mit dem glatten Karton begnügen. Jaromirs sollen sehr glücklich sein nach ihrem letzten Brief. Sie sind ja auch das arbeitsfrohe Geschlecht der Zukunft, der grüne Zweig am Baum der Menschheit.

Es ist nach Mitternacht. Die Uhr tickt, das Holz knackt. Im Garten schüttelt sich der Magnolienbaum unter der Schneelast. Vor mir liegt die Pistole auf dem Tisch, mit der ich Serner erschoß; sie liegt auf dem Telegramm, das mir den gewonnenen Prozeß verkündet. Ich bin wieder reich, sehr reich. Und die Konsequenz davon? Daß Louis Graf und Edler Herr von Carén, Komtur, Ritter pp. zu seinen ebenbürtigen Ahnen in weniger als drei Stunden versammelt sein wird. Das Telegramm war mir der letzte Ruck. Arm sein und leben, das heißt büßen für unsereinen . . . Aber reich, den Schwindel noch einmal anzufangen – nein, ich habe genug genossen und genug gelebt. Ich sterbe ganz ruhig. Wie ein Geschäftsmann seine Bilanz am Jahresschluß zieht, so ziehe ich die meine am Lebensende. Schuld und Sühne decken sich ungefähr. Und wenn sich's eben nicht deckt, dann deckt sich's eben nicht. Das Schicksal hat mein Lebensrad schnurren gemacht nach seinem Willen, jetzt halte ich den Finger in das Rad und sage: Stehe still, nach meinem Willen! Die letzte Konsequenz des Daseins ziehe ich selbst . . . Ich will den Rat des toten Freundes befolgen: ›Der Tod ist und bleibt der beste Arzt. Drücken Sie sich nicht um den Moment herum, wo Sie ihm noch ruhig ins Auge sehen können.‹ Ich sterbe, weil ich will, und nicht, weil ich muß . . . Ja, wir vom alten Blut . . . ha! . . . mein Blut war wohl doch etwas zu alt.

Ich habe Twesten hertelegraphiert, der gerade in München ist, nicht weil wir zusammen die Schule besuchten, sondern weil ich einen im Grunde mir 363 gleichgültigen, aber anständigen Menschen an meiner Leiche haben möchte. Nur kein Gewinsel – oder häßliche Deutung!

Am Monte Motterone beginnt's schon violett zu schimmern. Der Morgen graut, bald wird der See auch wieder blauer . . . See und Berg sind so viel älter als alles menschliche Leid . . .

Ich ziehe die Fenstervorhänge wieder zu. Der Morgen wird zudringlich. Von Stresa herüber höre ich den Frühdampfer pfeifen, mit dem Twesten kommen muß. In anderthalb Stunden ist er hier. Er findet einen Toten. Adieu!

*

Eine Stunde später fiel der Schuß.

 


 


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