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»Schiff ahoi, hast du den weißen Wal gesehen?« So schrie Ahab und rief noch einmal ein Schiff an, das die englische Flagge trug. Es sank am Heck tief ein. Der Alte stand mit dem Schallrohr am Munde in dem aufgeheißten Kapitänsboot. Der fremde Kapitän konnte das künstliche Bein deutlich erkennen; er lehnte sich nachlässig gegen den Bug seines eigenen Bootes. Er war dunkelfarbig, stämmig und sah gutmütig aus. Er hatte feine Gesichtszüge, mochte gegen sechzig sein und trug eine weite Jacke, die wie ein blaues Lotsentuch um ihn herumflatterte. Ein freier Ärmel hing ihm hinten aus der Jacke, wie der gestickte Ärmel eines Husarenmantels.
»Hast du den weißen Wal gesehen?«
»Können Sie das sehen?«
Er zog aus den Falten, die ihn verborgen hatten, einen weißen Arm hervor, der aus den Knochen eines Pottwals angefertigt war und der wie ein Hammer in einen Holzstiel auslief.
»Mann, mein Boot!« rief Ahab gebieterisch und stieß an die Ruder in seiner Nähe. »Klar bei Boote! Herunterlassen!«
In weniger als einer Minute wurden er und seine Mannschaft, ohne daß er das kleine Schiff zu verlassen brauchte, zu Wasser gelassen. Bald waren sie längsseits des Fremden. Aber da zeigte sich eine merkwürdige Schwierigkeit. In der Aufregung hatte Ahab vergessen, daß er niemals, seitdem er sein Bein verloren hatte, auf ein fremdes Schiff gegangen war. Dann ist es nicht ganz einfach – die Walfischer, die stündlich daran gewöhnt sind, bilden eine Ausnahme –, vom Boote aus auf offener See ein Schiff zu erklettern. Die großen Wellen heben das Boot mal hoch bis zur Reling, mal lassen sie es bis zum Innenkiel herabfallen. Da Ahab des einen Beines beraubt war und das fremde Schiff die Einrichtung des »Pequod«, die des Kapitäns wegen da war, nicht kannte, kam sich Ahab wie ein ungeschickter Landbewohner vor. Als er die Höhe des anderen Schiffes betrachtete, hatte er kaum Hoffnung, hinaufzukommen.
Ich habe schon darauf hingewiesen, daß jeder unvorhergesehene Umstand, der aus seinem Mißgeschick indirekt abzuleiten war, Ahab reizte und bis zur Verzweiflung brachte. Das wurde noch durch den Anblick der beiden Offiziere des fremden Schiffes, die sich über die Seite lehnten, gesteigert, ebenso durch die hin und her schwingende Schiffsleiter und durch die beiden schmuckvollen Geländerseile. Daß ein Mann mit einem Bein sich bewußt werden mußte, daß er ein Krüppel war, wenn er diese Geländerdocke benutzen sollte, daran dachten sie natürlich nicht. Aber das dauerte nur eine Minute. Der fremde Kapitän sah mit einem Blick, wie sich die Sache verhielt. Er schrie: »Ich sehe es! Weg mit dem Zeugs! Los, Jungens, und werft den Flaschenzug hinüber!«
Das Glück wollte es, daß sie vor ein paar Tagen einen Wal längsseits gehabt hatten. Die großen Flaschenzüge hingen noch oben, und der kolossale Speckhaken, der nun rein und trocken war, war auch noch am Ende dran. Der wurde nun schnell für Ahab heruntergelassen. Er begriff es schnell, was er damit sollte. Er steckte das gesunde Bein in die Krümmung des Hakens – so, wie man in den Ankerflügel oder in die Gabelung eines Apfelbaumes klettert –, dann gab er das Stichwort, hielt sich fest und half durch sein eigenes Gewicht mit, daß er hochgezogen wurde, und zog mit übereinandergreifenden Händen an den Seilen des Flaschenzuges. Dann wurde er behutsam über die hohe Reling gelassen und landete unversehrt oben auf dem Gangspill. Der andere Kapitän warf seinen künstlichen Arm in jovialer Weise zum Gruß vor, ging auf Ahab zu, der sein künstliches Bein vorstreckte, und indem sie die künstlichen Glieder übereinander kreuzten, wie zwei Sägefische ihre Sägen, rief Ahab rauh wie ein Walroß: »Nun wollen wir uns mal gegenseitig die Knochen reichen, den Arm und das Bein! Einen Arm, der niemals zusammenschrumpfen kann, und ein Bein, das nicht laufen kann. Wo hast du den weißen Wal gesehen? Wie lang ist das her?«
»Den weißen Wal?« sagte der Engländer und zeigte mit dem künstlichen Arm nach Osten. Dabei glitt er mit einem traurigen Blick daran entlang, wie an einem Fernrohr. »Da sah ich ihn, auf dem Äquator, in der letzten Walfischzeit.«
»Und er hat dir den Arm abgerissen, nicht wahr?« fragte Ahab, der nun von dem Gangspill herunterglitt und sich auf die Schulter des Engländers stützte.
»Ja, der war schuld daran, und der war auch wohl schuld an dem Bein da?«
»Erzähl' mir die Geschichte!« sagte Ahab. »Wie kam das?«
»Das war das erstemal, wo ich auf dem Äquator kreuzte«, sagte der Engländer. »Ich wußte damals noch nicht, daß es einen weißen Wal gibt. Nun, eines Tages ließen wir wegen einer Herde von vier oder fünf Walen die Boote herunter. Mein Boot kriegte einen fest. Das war ein richtiges Zirkuspferd. Er ging in einer Tour mit einem herum, daß meine Mannschaft sich nur dadurch im Gleichgewicht halten konnte, daß sie sich mit dem Hintern auf das äußerste Dollbord setzte. Auf einmal kam von tief unten ein großer Wal hervorgeschossen. Hatte einen Kopf und einen Höcker von milchweißer Farbe, hatte Krähenfüße und ebensolche Runzeln!«
»Das war er, das war er!« schrie Ahab und gab plötzlich den angehaltenen Atem frei.
»Und Harpunen steckten nahe bei der Steuerbordflosse.«
»Ja, ja! Die waren von mir. Meine Eisen!« schrie Ahab ganz außer sich vor Aufregung. »Aber weiter!«
»Einen Augenblick doch mal,« sagte der Engländer in guter Laune: »Nun, dieser alte Urgroßvater mit dem weißen Kopf und weißen Höcker schießt mit tollem Schaum zwischen die Herde und schnappt wie ein Blödsinniger an meiner festgemachten Leine.«
»Ja, ich verstehe es; er wollte sie losmachen, er wollte den festen Fisch befreien. Das ist sein alter Trick, den kenne ich wohl!«
»Wie es genau war,« fuhr der Kapitän mit dem einen Arm fort, »weiß ich nicht. Aber er mußte wohl mit seinen Zähnen in die Leine gebissen haben: sie war mit einemmal ab und fing sich irgendwo fest. Aber wir wußten das damals nicht. Als wir dann an der Leine zogen, plumpsten wir mit einemmal gegen seinen Höcker, und der andere Wal ging windwärts davon und machte eine riesige Dünung. Als ich sah, wie sich die Sache verhielt und erkannte, was das für ein edles großes Tier war – es war wohl der edelste und größte Wal, den ich jemals in meinem Leben gesehen habe –, nahm ich mir vor, ihn zu fangen – trotz der großen Wut, in der er sich offenbar befinden mußte. Und da ich dachte, daß die verunglückte Leine losgehen würde oder sich um den Zahn gewickelt hätte, und daß es deshalb leicht wäre, daran zu ziehen – ich habe eine verteufelte Mannschaft, die sich auf Walleinen versteht –, da sprang ich in das Boot meines ersten Maaten. Das ist Mister Mountopp hier – (nebenbei, Kapitän-Mountopp; Mountopp-Kapitän). Wie gesagt, sprang ich in das Boot von Mountopp, das dicht neben mir war, kriegte die erste Harpune zu fassen und warf sie dem alten Urgroßvater ins Gesicht. Aber, Herr du meines Lebens, in einem Augenblick konnt' ich nichts mehr sehen, beide Augen waren mit dickem Schaum umgeben und beinah erblindet. Der Schwanz des Wals baumelte hoch in der Luft wie ein Pendel und sah wie ein marmorner Kirchturm aus. Es hatte keinen Sinn, kehrt zu machen. Ich starrte in eine Sonne von leuchtenden Kronenjuwelen, durch die man blind werden konnte. Ich griff nach der zweiten Harpune, und gerade sollte es losgehen, da kam der Schwanz wie ein Turm von Lima herab, schlug mir das Boot in zwei Stücke und es gab tausend Splitter. Der weiße Höcker ging mit den Schwanzflossen rückwärts durch das Wrack, als ob es lauter Schiffe wären, und wir flogen aus dem Boot. Um den gefährlichen Dreschflegeln zu entgehen, hielt ich mich am Harpunenstiel fest und klebte daran wie ein Fisch. Aber ein Wellenkamm riß mich fort, und zu gleicher Zeit machte der Fisch einen guten Satz vorwärts. Tauchte unter wie ein Blitz, und die Spitze der verdammten zweiten Harpune ging mir hier vorbei (er schlug mit seiner Hand an eine Stelle unterhalb seiner Schulter!) Ja, ging bis hierher und riß mich in die Flammen der Hölle hinunter. Da ging zum Glück die Spitze an dem Fleisch entlang und kam dicht an meinem Handgelenk wieder heraus. So kam ich wieder nach oben, und dieser Herr hier wird Ihnen das übrige erzählen. (Nebenbei, Kapitän – Doktor Bunger, der Schiffsarzt, mein lieber Bunger – der Kapitän.) Nun, mein lieber Bunger, packen Sie mal aus, was Sie wissen.«
Der so familiär bezeichnete Herr hatte die ganze Zeit daneben gestanden und hatte durch nichts verraten können, was seine Beschäftigung an Bord war. Er hatte ein ungewöhnlich rundes, aber ehrbares Gesicht und trug einen abgetragenen blauen Wollrock und geflickte Hosen.
»Es war eine furchtbare Wunde,« so fing der Arzt des Walschiffes an, »und auf meinen Rat ließ Kapitän Boomer hier unseren alten Sammy –«
»›Samuel Enderby‹ ist der Name meines Schiffes«, unterbrach der einarmige Kapitän und wandte sich an Ahab.
»Weiter, Junge!«
»Ließ unseren alten ›Sammy‹ den Kurs nordwärts nehmen, um aus dem glühendheißen Wetter des Äquators wegzukommen. Aber es hatte keinen Zweck. Ich tat alles, was ich konnte. Ich saß die Nächte mit ihm zusammen und hielt sehr strenge auf Diät!«
»Oh, sehr streng, sehr streng!« rief der Patient dazwischen. Dann änderte er den Ton der Stimme. »Er trank mit mir jede Nacht heiße Grogs, bis er nicht mehr die Binden unterscheiden konnte.«
»Was wurde denn aus dem weißen Wal?« rief nun Ahab, der ungeduldig dies Intermezzo zwischen den beiden Engländern mit angehört hatte.
»Oh,« rief der einarmige Kapitän, »ja, ja. Nachdem er untergetaucht war, sahen wir ihn eine Zeitlang nicht wieder. Wie ich schon sagte, wußte ich damals nicht, welcher Wal mir diesen Streich gespielt hatte! Erst einige Zeit später, als wir wieder zurück zum Äquator kamen, hörten wir von Moby-Dick, wie einige ihn nennen, und dann wußte ich, wer es gewesen war.«
»Hast du denn nicht sein Kielwasser wieder gekreuzt?«
»Zweimal.«
»Aber konntet ihr ihn denn nicht festkriegen?«
»Das wollt' ich nicht wieder versuchen. Ist es nicht an einem Glied genug? Was sollte ich mit dem anderen Arm machen? Und ich glaube, Moby-Dick kann noch besser schlucken als beißen!«
»Nun,« unterbrach Bunger, »dann geben Sie ihm doch den linken Arm als Köder, um den rechten wiederzukriegen. Wissen Sie auch, meine Herren?« dabei verbeugte er sich mit mathematischer Exaktheit vor den Kapitänen nacheinander, »wissen Sie auch, meine Herren, daß die Verdauungsorgane des Wales von der göttlichen Vorsehung so weise eingerichtet sind, daß es ihnen ganz unmöglich ist, den Arm eines Menschen vollständig zu verdauen? Das weiß er auch selbst. Was man für Bosheit hält, ist nur seine Ungeschicklichkeit. Er will niemals ein einziges Glied verschlingen. Er will nur durch Verstellung Furcht einjagen. Aber manchmal ist er wie der alte Gaukler, der mal in Ceylon mein Patient war, und der so tat, als ob er Messer schlucken könnte. Einmal schluckte er wirklich eines herunter, wo es dann ein Jahr und mehr steckenblieb. Und als ich ihm ein Brechmittel gab, holte er es in kleinen Rucken herauf. Er hatte keine Möglichkeit, das Messer zu verdauen und es seinem allgemeinen Körpersystem einzuverleiben. Nun, Kapitän Boomer, wenn Sie den Arm als Pfand geben wollen, um den anderen anständig zu beerdigen, dann haben Sie Ihren Arm wieder.«
»Nein, danke, Bunger«, sagte der englische Kapitän. »Den Arm, den er hat, kann er behalten, da ich es doch einmal nicht ändern kann, und ich ihn damals noch nicht kannte. Aber den anderen soll er nicht haben! Die weißen Wale können mir überhaupt gestohlen bleiben! Ich habe einmal die Boote herabgelassen seinetwegen, und das genügt mir. Es wäre ja recht schön, wenn man ihn töten könnte, und er hat eine ganze Schiffsladung voll prächtigen Walratöls. Aber man läßt ihn am besten zufrieden. Meinen Sie es nicht auch, Kapitän?« und warf dabei einen Blick auf das künstliche Bein.
»Das schon. Aber man muß ihn trotzdem jagen. Was man verflucht und was man am besten in Ruhe ließe, verlockt einen am meisten. Er ist wie ein Magnet! Wie lange ist es her, daß du ihn das letztemal gesehen hast? Welche Richtung nahm er?«
»Herrgott nochmal!« schrie Bunger, der sich verbeugte und um Ahab herumging, wobei er merkwürdig schnupperte, wie ein Hund. »Man fühle sich das Blut dieses Menschen an, das Thermometer her! Es ist ja siedend heiß! Die Schiffsplanken werden ja durch diesen Puls geschlagen!« Er nahm eine Lanzette aus der Tasche und ging auf den Arm Ahabs zu.
»Wegbleiben!« brüllte Ahab und stieß ihn gegen die Reling. »Klar bei Boot! Welchen Weg nahm er?«
»Herrgott nochmal!« schrie der englische Kapitän, an den die Frage gerichtet war. »Was ist denn los? Er ging ostwärts, glaube ich. Ist Euer Kapitän verrückt?« flüsterte er Fedallah zu.
Aber Fedallah legte einen Finger auf die Lippen, schlüpfte über die Reling, um das Steuerruder zu nehmen. Ahab ließ den Flaschenzug herankommen und befahl den Matrosen des Schiffes, beim Herablassen behilflich zu sein.
Einen Augenblick stand er im Heck des Bootes, und die Manilaleute sprangen mit einem Satz an die Ruder. Vergeblich rief der englische Kapitän ihm etwas zu. Ahab hatte dem fremden Schiff den Rücken gekehrt und blickte starr nach seinem eigenen. So stand er aufrecht da, bis er längsseits des ›Pequod‹ kam.