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Golizyn hatte sich vor seiner Abreise nach Petersburg vorgenommen, im Demutschen Gasthause an der Moika, neben der Polizeibrücke abzusteigen. Er wollte nicht in seine eigene Wohnung im Bauerschen Hause an der Wäscherinnenbrücke, weil diese Wohnung den ganzen Sommer über unaufgeräumt blieb und sein einziger Dienstbote, der alte Kammerdiener, im Urlaub auf dem Lande war – außerdem hatte er Angst vor Spitzeln: Er wußte von Rylejew, daß man ihn beobachtete. Als er aber mit seinen beiden Begleiterinnen, der Frau Tolytschowa und ihrer Tochter in Petersburg ankam, sie der Natalja Kirillowna Rschewskaja ablieferte und Abschied nehmen wollte, um ins Gasthaus zu fahren, wollte die Alte es nicht zulassen.
»Was fällt dir ein, Väterchen, ich bitte dich! Wo hat man es gehört, daß man einen Menschen aus einem anständigen Hause in ein Gasthaus ziehen läßt? Sind etwa wenig Zimmer hier? Das ganze Haus ist ja leer. Wohne da, so lange du willst. Du bist uns doch kein Fremder.«
Natalja Kirillowna stellte gleich in den ersten Augenblicken eine sehr entfernte Verwandtschaft fest.
Golizyn ging auf den Vorschlag um so lieber ein, als er glaubte, daß der Aufenthalt in diesem Hause für ihn gefahrloser sein würde, und auch, weil er sich nicht gerne von Marinjka trennen wollte.
Das Haus der Frau Rschewskaja lag an der Fontanka, neben der Alartschin-Brücke. Eine öde, menschenleere Gegend. Ringsherum unbebaute Plätze. Nur am Rande dieser Wüste standen niedere Häuschen. Zuweilen ertönten in dieser Einöde in finsterer Nacht Schreie: »Zur Hilfe! Räuber!« Die erschrockenen Leute sprangen aus den Betten, öffneten die Fenster, steckten die Köpfe heraus und riefen möglichst eindringlich: »Wir kommen!« Sie kamen aber nicht, sondern verkrochen sich wieder in ihre warmen Betten und steckten die Köpfe unter die Bettdecken.
Von einem alten, einst regelmäßig angelegten, aber schon längst verwilderten Garten umgeben, erinnerte das Haus an ein Landschloß eines der Paladine Katharinas.
Im großen Flur mit Säulen und einer Marmortreppe saßen die alten Diener schlummernd, strümpfestrickend oder mit gedämpfter Stimme die Psalmen lesend. Die Seidentapeten in den weiten Sälen waren verblichen und verschossen. Die Kristallgehänge an den Kronleuchtern, dunkel und durchsichtig wie Rauchtopase, glitzerten trüb und klirrten, wenn jemand durchs Zimmer ging. Die riesengroßen holländischen Öfen aus blauen Kacheln glühten. In allen Räumen roch es nach Ambra und herrschte eine Grabesstille.
Das Zimmer der Großmutter war ein Eckzimmer. Die Wände waren mit Bosketten bemalt. Wie in einem Trödlerladen erinnerte hier alles – die Chiffonieren, Etageren, Glasschränkchen mit Porzellanpuppen, die runden Tischchen mit Messinggitter und die dickbauchigen Kommoden mit eingelegter Arbeit im chinesischen Geschmack – an ein anderes Jahrhundert. Vor den Fenstern standen niedere Lichtschirme mit himbeerfarbenen Gläsern, die auf alle Gegenstände und Gesichter einen rosa Schein warfen, der an ein ewiges Abendrot gemahnte. Vor einem der Fenster standen ein Käfig und eine Kletterstange für den weißen Papagei mit gelbem Schöpfchen, namens Potap Potapytsch.
Großmutter war eine kleine, vertrocknete Alte mit einem wächsernen, leichenblassen Gesicht; man hatte den Eindruck, sie habe einen Tag und eine Nacht im Sarge gelegen und wäre dann zu neuem Leben auferstanden. Sie trug stets große Toilette: ein stahlgraues Seidenkleid mit einer Halskrause, eine weiße Tüllhaube mit breiter Rüsche und kleine glänzende falsche Locken ›en grappes de raisin‹; an den Schultern hing ihr eine Pelzjacke: Großmutter fror es immer. Eine halbe Stunde, bevor sie aus dem Schlafzimmer kam, mußte eine deutsche Gesellschafterin, die so feist wie ein Pferd war, sich in ihren Sessel setzen und den Platz vorwärmen.
Großmutter saß in ihrem Sessel trotz der vielen kleinen, mit Wolle, Seide und Perlen bestickten Kissen, kerzengerade. Auf dem Tischchen neben ihr stand ein Schächtelchen mit Puder: Die Alte puderte sich oft und rieb sich dann das Gesicht mit einem Tüchlein oder einem Stück Ochsenblase ab. Auf dem runden Bänkchen zu ihren Füßen lag zusammengerollt der weiße, furchtbar böse Bologneser Fideljka.
»Sag mir mal, warum zittert dir das Tablett in den Händen?« fragte Großmutter das Dienstmädchen Marfuschka, wenn sie ihr den Tee brachte. – »Die Fideljka beißt mich furchtbar in die Füße.«
»Muß deswegen das Tablett so zittern?« fragte Natalja Kirillowna erstaunt.
Sie war stets um ihre Gesundheit besorgt; beim geringsten Unwohlsein legte sie sich ins Bett und wickelte um die ›Pulse‹ mit Essig gefeuchtete Läppchen. Sie mochte nicht von Todesfällen hören. Wenn die alte Gesellschafterin Sacharowna zuweilen von einem Todesfalle hörte, pflegte sie zu ihr ins Schlafzimmer zu kommen und es ihr leise ins Ohr zu sagen.
»Schweig, sage niemand, daß ich es weiß. Du hast es mir nicht gesagt, hörst du?!« pflegte ihr die Großmutter streng zu sagen.
Einmal starb im Mezzanin, fast direkt über Großmutters Schlafzimmer, eine andere Gesellschafterin, – es gab ihrer im Hause eine ganze Menge.
»Sie ist gestorben«, flüsterte Sacharowna der Großmutter zu, mit dem Finger nach oben weisend. – »Ja, schweig.«
Man trug die Verstorbene heimlich hinaus und beerdigte sie, und Großmutter erwähnte sie mit keinem Wort, als ob sie niemals gelebt hätte.
Sie hatte schon vieles erlebt; darum hatte sie vor allem Angst und klagte oft darüber, daß »Fortuna so wetterwendisch sei«.
»Das ganze Leben ist nichts anderes als ein Hazardspiel!«
Nach den beiden leichten Schlaganfällen, die sie erlitten, verfiel sie leicht in einen halbbewußtlosen Zustand; dann saß sie tagelang stumm und unbeweglich da und beobachtete mit trüben Blicken den Papagei, der auf seiner Stange schaukelte und dabei durchdringend schrie: »Potap Potapytsch Potapow!« Dann wurde sie wieder lebhaft und gedachte ihrer Jugend, als sie noch Hofdame im Gefolge Katharinas war. Sie teilte mit geheimnisvollem Flüstern als die letzte Neuigkeit mit, daß Fürst Platon Subow, ›ce charmant vaurien‹ es fertig gebracht habe, ihre Majestät von seiner ›angenehmen Gesinnung‹ zu überzeugen. Sie erzählte gerührt von der freundlichen Art der alten Kaiserin.
»Wenn sie mal sah, daß die Sonne jemand ins Gesicht schien, ging sie gleich zum Fenster und ließ mit eigenen Händchen den Vorhang herunter. Dafür war sie gegen die Frechen ohne jede Nachsicht: Einmal mußte der Obersekretär der Geheimen Expedition Scheschkowskij die allzu geschwätzige Generalin Koschina direkt vom Maskenball holen, einer leichten körperlichen Züchtigung unterwerfen und dann unter Wahrung jeglichen Anstandes auf den Maskenball zurückbringen.«
Sie erzählte auch gerne über den Herrn de Fontenelle, den sie in Paris noch vor der Revolution kennengelernt hatte.
»Er war ein echter Philosoph: Niemals erhob er seine Stimme, niemals zürnte er, niemals weinte er, niemals lachte er. ›Herr Fontenelle‹, fragte ich ihn einmal, ›haben Sie denn niemals gelacht?‹ ›Nein‹, sagte er, ›ich habe niemals Ha-ha-ha gemacht!‹ Er kannte keine Gefühle, hatte niemand geliebt, die Menschen gefielen ihm nur. ›Herr Fontenelle‹, sage ich ihm, ›achten Sie mich?‹ – ›Je vous trouve fort aimable, madame!‹ – ›Und wenn man Ihnen sagte, daß ich jemand umgebracht habe, würden Sie es glauben?‹ – ›Ich würde abwarten, gnädige Frau‹, sagte er drauf und lächelte. War ein kräftiger Greis, hat über hundert Jahre gelebt. Und so klug. Heute findet man solche nicht mehr!«
Die Menschen des neuen Zeitalters mit ihren gestutzten Gedanken und gestutzten Fräcken mißfielen der Großmutter.
»Wenn ich euch so anschaue, so seid ihr alle wie gerupft, als kämet ihr gerade aus dem Dampfbade, Gecken, Stutzer!«
Sie konnte sich unmöglich an die neuen weiten und langen Beinkleider gewöhnen, die an Stelle der einstigen kurzen Hosen mit Strümpfen und Schnallenschuhen getreten waren.
»Von den Sansculotten kommt diese Mode, von diesen schamlosen Ohnehosen, daß Gott mir verzeih!« brummte sie und erzählte, wie auf einem Balle zu Moskau der Gastgeber auf einen jungen Elegant losgestürzt sei, der als erster in langer Hose erschienen war: »Was ist dir eingefallen? Man hat dich auf den Ball geladen, damit du tanzt, und nicht damit du auf Masten kletterst, du hast dich aber als Matrose verkleidet!«
»Seit dem Jahre 1812 ist Moskau degeneriert«, klagte Natalja Kirillowna, wenn Nina Ljwowna ihr die Moskauer Neuigkeiten berichtete. »Wenn unsere Alten auferstünden und Moskau wiedersähen, würden sie aufschreien: keine Gesellschaft, keine Noblesse. Ja, Moskau ist heruntergekommen! Von Stunde zu Stunde geht es dort abwärts. Ich möchte lieber gar nicht sehen und hören, was dort vorgeht!«
Als einziger Gast kam zu Natalja Kirillowna manchmal der alte Foma Fomitsch Fryndin, ein ehemaliger Brigadier aus Ssuworows Zeiten. Er war klein gewachsen, von angenehmem Äußern und hatte blaßblaue, an verblichene Vergißmeinnicht gemahnende Kinderaugen, ein kindliches Lächeln und eine stille und freundliche Stimmung. Er war immer ungewöhnlich sauber gekleidet und trug einen langschößigen Rock von französischem Schnitt mit Stahlknöpfen, Jabot und Manschetten, einen Degen und eine gepuderte Zopfperücke mit einer Schleife. Wahrscheinlich war er einst in Großmutter verliebt gewesen und blieb ihr bis ans Ende treu. Er benahm sich immer mit dem größten Respekt. Nur beim Mouche- oder L'hombrespiel erlaubte er sich manchmal einen Witz; so sagte er z. B. »Sieben Herz« statt »Sieben cœur.«
»Hör auf, Väterchen, was sind das für Scherze!« brummte die Alte.
»Ach Mütterchen, Natalja Kirillowna, warum soll man sich nicht diese Freude gönnen: Das Leben ist doch so kurz!« erwiderte der Alte mit seinem milden Lächeln.
Wenn Großmutter ein wenig schlummern wollte, las er ihr aus den ›Tröstungen der Philosophie‹ oder den ›Früchten der Melancholie, Nahrung für empfindsame Herzen‹ vor; und wenn sie sich langweilte, suchte er sie mit irgendeiner Neuigkeit zu zerstreuen.
»In der ›Nordischen Biene‹ steht geschrieben, Mütterchen, daß die Chinesen die Affen abrichten, die Blätter von den Teebäumen zu rupfen, denn sie verstehen besser als die Menschen zu klettern.«
»Was faselst du da?« zweifelte Großmutter. »So werde ich keinen Tee mehr trinken, wenn er aus Affenhänden kommt.«
»Das macht doch nichts, Mütterchen, man wäscht ihnen ja die Pfötchen in drei Wassern«, tröstete sie der Alte.
Manchmal philosophierte er:
»Es gibt für den Menschen keine so frohe Zeit, die sich nicht in einer größeren Menge Kummer der folgenden Zeiten auflöste. Ein mildes Herz ist aber den Freunden stets offen. So freue ich mich denn. Ich habe in dieser Welt gar keine Wünsche mehr, und kein Mensch in der Welt ist glücklicher als ich«, sagte er, indem er sich aus seiner mit dem Bildnisse Pauls I. und der Inschrift ›Neben Gott er allein, und durch ihn atme ich‹ geschmückten goldenen Dose langsam eine Prise holte. Und in seinem heiteren Lächeln war so eine Stille, daß man seinen Worten wirklich glauben konnte.
Er verglich gern die vergangenen Zeiten mit den jetzigen.
»Unsere Vorfahren hatten weniger Bildung, aber mehr Freuden. Unsern Prunk kannten sie nicht, aber auch nicht diese Sorge und Unruhe. Es ist erstaunlich, daß die Menschen nicht nach dem Vorbilde ihrer Vorfahren ruhig leben wollen. Was aber unsere Enkel und Urenkel erleben werden, daran ist sogar schrecklich zu denken!«
Nach den stürmischen Zusammenkünften der Verschwörer, wo nur von Meuterei, Blut, von dem im Feuer der Revolution lodernden Rußland gesprochen wurde, kehrte Golizyn in dieses alte Haus wie in ein Traumgesicht, wie in ein Gespensterreich zurück. Der Traum verfliegt, die Gespenster verschwinden, es ist um sie nicht schade: das alte Haus so zerstören, daß kein Stein auf dem andern bleibt, dazu ging er ja in die Revolution. Er wollte nicht, daß es ihm leid tue, und doch tat es ihm leid. Es war, als zögen vor seinen Augen zum letzten Male die stillen Schatten der Vergangenheit vorbei und blickten ihm mit einer stummen Klage in die Augen.
Als er an jenem Tag, dem 13. Dezember, von Rylejew zurückkam und in Großmutters Zimmer hineinblickte, saß die Alte wie immer in einem niederen Sessel vor einem Tischchen mit zwei Wachskerzen und legte eine endlose Grande-Patience. Der alte Fryndin las ihr aus einer vorjährigen Zeitung vor. Nina Ljwowna strickte ein Halstuch, und Marinjka stickte Buchstaben auf Wäsche.
Es war ordentlich eingeheizt und mit Ambra geräuchert, so daß Golizyn, nach der frischen Luft, beinahe erstickte. Er bückte sich, um Großmutter die Hand zu küssen. Fideljka bellte und biß ihn fast ins Bein. Der Papagei, der in seinem Käfig duselte, fuhr auf, öffnete ein Auge, sah ihn an und murmelte mit böser Stimme:
»Potap Potapytsch Potapow!«
Alles wie immer: gemütlich, still, verschlafen, unbeweglich, unabänderlich wie in der Ewigkeit.
»Wo hast du dich wieder herumgetrieben, Väterchen? Warum kannst du nicht ruhig zu Hause sitzen und steckst von früh bis spät bei fremden Menschen?« brummte Großmutter freundlich.
»Ich war beim Onkel, dem Fürsten Alexander Nikolajewitsch. Ich habe ihm Ihre Grüße bestellt«, log ihr Golizyn vor, um weiteren Fragen aus dem Wege zu gehen.
»Du lügst wohl? Der Alte wird sich doch meiner nicht mehr erinnern.«
»Er erinnert sich wohl, Großmutter. Er ließ Sie grüßen und Ihnen die Hand küssen!« Er bückte sich wieder, und Fideljka fing von neuem zu bellen an.
Eine Weile schwiegen alle, und es wurde noch stiller, gemütlicher, einschläfernder.
»Marie, verdirb dir doch nicht die Augen. Bei Kerzenlicht soll man nicht sticken«, sagte Nina Ljwowna.
Marinjka machte noch einige Stiche, befestigte den Faden, biß das Ende ab und legte die Arbeit weg.
»Komm mal her, Enkelin«, rief die Großmutter. »Warum bist du heute so traurig? Auch dein Gesichtchen ist blaß. Ist dir nicht wohl?« Sie küßte sie und streichelte ihr die Wange. »Und wenn du auch bleich bist, heute siehst du doch besonders vorteilhaft aus!«
Sie wandte sich an Nina Ljwowna und fuhr fort:
»So hübsch ist unsere Marinjka geworden! Einen netten Bräutigam sollte man ihr finden, einen andern, als euern alten Knasterbart Aquilonow. Laß dein Tscherjomuschki, Mütterchen, und ziehe zu mir, verschmähe mich Alte nicht, du wirst zufrieden sein. Ich will auch einen ordentlichen Bräutigam finden.«
Nina Ljwowna schlug stumm die Augen nieder und bewegte schneller die Stricknadeln.
»Wann werden Sie Ihr Versprechen einlösen, Marja Pawlowna?« fragte Golizyn. Er sah, daß sie sich bedrückt fühlte, und wollte sie von der Großmutter erlösen.
»Was für ein Versprechen, Fürst?«
»Mir die kleinen Andenken zu zeigen.«
»Ach ja, mit Vergnügen, wenn Großmutter erlaubt.«
»Ich hätte sie dir selbst gezeigt, Väterchen, aber die Füße tun mir weh, ich kann gar nicht aufstehen. Zeig du sie ihm, Marinjka!«
Die Großmutter liebte es, den Gästen ihre ›Andenken‹ vorzuführen, und war auf sie stolz wie ein Kind.
Marja Pawlowna trat mit Golizyn an ein Glasschränkchen, öffnete es und fing an, ihm die alten Sächelchen zu zeigen: Tabatieren, Bonbonieren, Medaillons, Kamäen, Schächtelchen für Schönheitspflästerchen und Puder, Figürchen und Schalen aus sächsischem Porzellan.
»Und was ist das?« fragte Golizyn, auf einen kleinen Gegenstand aus Elfenbein und Gold zeigend.
»Eine Flohfalle. Sehen Sie: ein Röhrchen mit vielen kleinen Löchern, die sich nach innen verjüngen. Der Stift da wird mit Honig bestrichen und in das Röhrchen gesteckt; die Flöhe kommen durch die Löcher herein und bleiben am Honig kleben«, erklärte Marinjka. »Großmutter erzählt, daß die Modedamen jener Zeit solche Fallen an einem seidenen Bändchen an der Brust zu tragen pflegten.«
»So was muß man sich wirklich ausdenken!« bemerkte Golizyn lachend.
Marinjka sah ihn schweigend mit stillem Ernst an, und er verstand, daß er darüber nicht lachen dürfe; diese armen Andenken einer alten Zeit waren ihr lieb und teuer. Auch sie selbst hatte einige Ähnlichkeit mit ihnen: In ihrer Schönheit lag auch ein Duft der Vergangenheit. Ja, man soll über das Alte nicht lachen: Wir lachen über unsere Großväter, und unsere Enkel werden über uns lachen. Jede Zeit hat ihre Flohfalle.
»Marinjka, könnte ich Sie nicht unter vier Augen sprechen?« flüsterte er ihr schnell ins Ohr.
»Kommen Sie ins blaue Sofazimmer«, antwortete sie ihm ebenso schnell und leise. Dann schloß sie das Schränkchen und kehrte zur Großmutter zurück. Golizyn ging leise aus dem Zimmer.
Großmutters Grande-Patience näherte sich ihrem Ende. Alle verfolgten sie mit Interesse.
»Schellen, Mütterchen, Schellen zu cœur!« rief Foma Fomitsch aufgeregt dazwischen.
»Laß mich in Ruh', Väterchen! Was redest du so dumm drein!« erwiderte Natalja Kirillowna böse.
»Brief und Reise! Brief und Reise!« gab Foma Fomitsch nicht nach. Bald setzte er sich und sprang bald wieder auf und blickte über die Achsel der Alten in die Karten.
»Keine Spur von Reise, sondern Tod und Heirat!« widersprach Nina Ljwowna, die auch ganz aufgeregt war.
»Eintreffen der Erwartungen und unveränderliche Fortuna!« verkündete Natalja Kirillowna feierlich, die letzte Karte auf den Tisch legend.
»Foma Fomitsch, seien Sie so gut, helfen Sie mir den Stickrahmen neu bespannen!« bat Marinjka.
»Warum fällt es dir am Abend ein?« fragte Nina Ljwowna erstaunt.
»Ich will ja morgen schon in der Frühe anfangen. Denn die Tage sind jetzt so kurz: Kaum setzt man sich an die Arbeit, als es schon gleich dunkel wird«, erklärte Marinjka, bis über die Ohren errötend, denn sie verstand nicht zu lügen. Dann beugte sie sich zu der Mutter und schmiegte sich an sie, um ihr Gesicht zu verbergen. »Erlauben Sie es, liebes Mamachen!«
»Gut, geh.«
Marinjka und Foma Fomitsch durchschritten einige dunkle, nur von Nachtkerzen und den Lämpchen vor den Heiligenbildern erleuchtete Zimmer und gelangten in das blaue Sofazimmer. Hier saß am Fenster vor dem Rahmen mit der angefangenen Stickerei – einem weißen Papagei auf grünem Grunde, wohl einem Bildnisse Potap Potapytschs – Golizyn.
»Ach, Sie sind hier, Fürst!« sagte Marinjka, Erstaunen heuchelnd und wieder errötend. »Foma Fomitsch, entschuldigen Sie, um Gotteswillen, daß ich Sie bemüht habe! Der Fürst wird mir helfen, den Rahmen zu bespannen. Ich vergaß, daß er es mir früher versprochen hatte . . .«
»Das war doch keine Mühe, Fräulein, ich bitte Sie! Bleiben Sie mit dem Fürsten, ich aber geh und ruhe ein wenig im Sessel aus, bin so schläfrig geworden. Ich habe einen leisen Schlaf: Wenn jemand kommt oder ruft, höre ich es gleich und melde es Ihnen sofort. Tout à vos ordres, mademoiselle!« sagte der Alte mit einem artigen Kratzfuß.
Als Foma Fomitsch gegangen war, setzte sich Marinjka vor den Stickrahmen und fing an, aufmerksam die Stickerei zu betrachten. Golizyn setzte sich neben sie. Beide schwiegen.
»Nun, Fürst, sprechen Sie, ich höre zu«, begann sie mit einem unwillkürlichen Lächeln. Auch er lächelte. Und ebenso wie damals auf der Reise mit der Diligence von Moskau nach Petersburg, sahen sie einander stumm und lächelnd an und fühlten, wie dieses Schweigen sie einander unaufhaltsam nahe brachte. Es war, als sähen sie sich nach einer langen Trennung wieder und erkannten einander mit freudigem Erstaunen.
»Erinnern Sie sich noch, Marinjka, wie Sie mir neulich sagten, Sie hätten vielleicht gar keinen Bräutigam. Nun, wie ist es: Haben Sie einen oder nicht?« fragte Golizyn.
»Was brauchen Sie das zu wissen?« fragte sie, sich wieder über die Stickerei beugend und mit dem Finger das gelbe Schöpfchen Potap Potapytschs betastend.
»Liebste Marinjka, Sie wissen doch selbst, wozu ich das wissen will!« rief er, ihre Hand ergreifend. Sie zog ihre Hand nicht zurück und neigte nur noch tiefer den Kopf, so daß die längs der Wangen herabhängenden langen Locken fast ihr Gesicht verdeckten. Sie wußte, daß sich in diesem Augenblicke ihr Schicksal entschied. Sie wollte ihre Aufregung verbergen und konnte es nicht. Ihr Herz klopfte so, daß sie fürchtete, er könnte es hören.
»Was ist mit Ihnen? Was ist mit Ihnen, Marinjka? Warum wollen Sie mit mir nicht so wie früher sprechen? Warum sind Sie so?«
»Wie bin ich denn? Nein, es ist nichts . . . Man kann doch nicht immer kindisch sein. Ich bin kein Kind mehr. Es ist Zeit, vernünftig zu werden. Das Leben ist kein Spiel . . .«
›Das Leben ist Cho‹, ging es Golizyn durch den Kopf; auch die Verse fielen ihm ein:
Demüt'gen Herzens muß man glauben
Und bis zum Schluß geduldig sein.
»Nun, wenn Sie es nicht sagen wollen, dann nicht. Aber seien Sie versichert, Marinjka, daß Sie, was auch kommen mag, einen Freund haben. Glauben Sie es? Glauben Sie wenigstens das, ja?«
»Aber natürlich . . .« Sie wollte wie früher lächeln, konnte es aber nicht. »Ich glaube es fast«, fügte sie mit einem anderen, blassen und schwachen Lächeln hinzu.
»Fast? Kann man denn fast glauben? Übrigens ist nichts zu machen, ich habe es wohl nicht verdient!« Er lächelte bitter und ließ ihre Hand los.
Sie schwiegen wieder, und beiden wurde es schwer ums Herz; beide fühlten, daß sie nicht das Richtige sagten; die Worte trennten sie, als hätte nach einem kurzen Wiedersehen wieder eine ewige Trennung begonnen.
»Ist das alles, Fürst, was Sie mir sagen wollten?«
»Nein, nicht alles. Es kommt noch die Hauptsache: Wenn Sie sich wegen des Herrn Aquilonow entscheiden, so vergessen Sie nicht, daß Sie frei sind: Die Schuld für das Gut ist bezahlt, und jetzt kann Ihnen niemand mehr Tscherjomuschki nehmen. Beschließen Sie, wie Sie wollen: Sie sind frei, Marinjka.«
In ihren Augen leuchtete wie ein Blitz die Freude auf, die dann ebenso plötzlich erlosch.
»Was sagen Sie, Fürst? Die Schuld ist bezahlt? Von wem?«
»Es ist ganz gleich, von wem.«
»Warum ist es ganz gleich? Jemand hat über mein Schicksal beschlossen, und ich weiß nicht, wer . . .«
»Ach, mein Gott, es handelt sich doch nicht darum! Nun, wenn Sie unbedingt wissen wollen, wer . . .« stammelte Golizyn und errötete plötzlich verlegen wie ein kleiner Junge. »Nun, Foma Fomitsch hat es bezahlt . . .«
»Foma Fomitsch? Wo hat er denn das Geld her? Er ist ja noch ärmer als wir.«
»Ich weiß wirklich nicht, wo er es her hat. Wahrscheinlich von der Großmutter . . .«
»Von der Großmutter? Aber Mamachen hat erst heute früh mit der Großmutter gesprochen und sie gebeten, wenigstens einen Teil zu bezahlen, und Großmutter hat es ihr rundweg abgeschlagen. Warum sagen Sie die Unwahrheit, Fürst? Was haben Sie für Hintergedanken?« Sie sah Golizyn unverwandt an. »Valerian Michailowitsch, sagen Sie mir sofort, sofort, wer es bezahlt hat, und wenn Sie es mir nicht sagen, werde ich mir, Gott weiß, was denken . . .«
Er sagte nichts, und sie begriff auf einmal alles. Sie erbleichte und stand auf, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
»Das waren Sie . . .? Nun, ich danke Ihnen, Fürst! Sie sind sehr gütig. Sie haben sich des armen jungen Mädchens erbarmt und ihm Ihre Wohltat erwiesen . . . Kam Ihnen denn dabei gar nicht der Gedanke, daß wir, wie arm wir auch sind, Ihr Geschenk . . . Ihr Almosen vielleicht nicht annehmen wollen? Hätten Sie auch nur ein bißchen – nicht Freundschaft, sondern Achtung gegen Mama und mich, so würden Sie es nicht getan haben. Ich bin übrigens selbst schuld, ich habe es selbst zugelassen . . . ich dummes, dummes Mädel . . .«
Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen, ließ sich in den Stuhl fallen und fing zu weinen an. Ihre schmächtigen Schultern zitterten. Das Brusttuch rutschte auf die Seite und zeigte ihren feinen Hals und die halbkindliche Brust; auf dieser Brust, die sich beim Schluchzen hob und senkte, traten unter der bräunlichen Haut die gleichfalls halbkindlichen Schlüsselbeine hervor.
›Dummkopf! Dummkopf! Was habe ich angestellt!‹ Golizyn griff sich an den Kopf. Er wußte nicht, was ihm in diesem Augenblick wichtiger war: die Befreiung Rußlands, die Revolution und Meuterei oder dieses weinende Mädchen. Marinjka erhob sich und ging, ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen, zur Türe.
»Marinjka . . . Marja Pawlowna, warten Sie, warten Sie, gehen Sie nicht, lassen Sie mich sprechen, hören Sie mich an, um Gotteswillen!«
»Lassen Sie mich! Lassen Sie mich!«
Er ließ sie aber nicht los und hielt sie an den Händen fest.
»Lassen Sie mich doch sprechen! Ich kann nicht anders, Marinjka! Sie gehen ja gleich von mir, und vielleicht sehen wir uns nie wieder . . .«
Sie blieb lauschend stehen.
»Nur eine Minute . . . Ich will nur . . . Setzen Sie sich, setzen Sie sich . . .« flehte er und zog sie an der Hand zum Stuhl.
Sie fügte sich, folgte ihm und setzte sich auf ihren früheren Platz.
»Ich bin dumm! Dumm! Alle klugen Menschen sind furchtbare Dummköpfe, das gilt von mir«, stammelte er, sich überstürzend. »Mag ich dumm sein. Wenn ich aber gewußt hätte, daß es so kommen wird . . . Halten Sie mich denn wirklich für so einen Schuft? Ich wollte einfach . . . Sie haben neulich selbst gesagt, daß man ganz einfach sein darf . . . Sie wissen ja gar nicht, Marinjka, was mit mir jetzt los ist. Erinnern Sie sich an das Märchen vom Wanderer und dem Kamel in der Wüste? Das Kamel war rasend geworden, der Wanderer stürzte sich in einen Brunnen, am Rande wuchs aber ein Himbeerstrauch . . . Ach, es ist nicht das, nicht das! Ich spreche nicht das Richtige. Ich werde verrückt, Marinjka . . . Ich kann es nicht ertragen, daß Sie sich zugrunde richten, denn dieser Aquilonow ist das Ende . . . schlimmer als das Ende . . . Sie sagten soeben, daß Sie an meine Freundschaft fast glauben . . . Wie langweilig, wie schrecklich ist es, daß alles im Leben nur fast und nie ganz ist . . . Ach, es ist wieder nicht das Richtige . . . Warten Sie, was wollte ich noch . . .? Ja, wenn Ihr Freund, fast Ihr Freund in den Tod, in einen Zweikampf ginge, aus dem er vielleicht nicht mehr lebend zurückkehrt, und wenn er Ihnen Gutes tun – diese verfluchte Schuld für Tscherjomuschki bezahlen wollte, um Sie vor dem Untergange zu retten, – würden Sie es denn nicht annehmen, würden Sie dem Sterbenden seinen letzten Wunsch abschlagen?«
Sie hörte zu weinen auf, nahm die Hände vom Gesicht, lauschte, ohne noch seine Worte zu verstehen, seiner Stimme, betrachtete sein Gesicht, sein einfaches, liebes, kindliches Gesicht, das so unglücklich war, daß ihr Herz sich wieder wie in jenen ersten Augenblicken der Annäherung, sich zusammenkrampfte vor Angst, als fühlte es, daß diesem Menschen Unheil drohe und man ihm helfen, ihn warnen und retten müsse.
»Ich hab es doch gewußt! Ich hab es doch gewußt!« rief sie, die Hände zusammenschlagend. »Sprechen, sagen Sie alles, sofort! Was hat das zu bedeuten? Was für ein Tod? Was für ein Zweikampf?«
»Fragen Sie nicht, Marinjka, ich kann nichts sagen.«
»Die Braut?«
»Was für eine Braut?«
»Sie haben es schon vergessen? Sie haben ja eine Braut . . .«
»Ich habe gar keine Braut. Ich sagte Ihnen doch . . .«
»Sie sagten, Sie hätten keine. Vielleicht haben Sie doch eine?«
»Warum glauben Sie mir nicht, Marinjka? Sehen Sie denn nicht, daß ich die Wahrheit spreche?«
»Was ist es dann? Sprechen Sie doch! Warum quälen Sie mich? Was tun Sie mit mir?«
»Ich kann es nicht sagen«, wiederholte Golizyn.
Marinjka hatte von Foma Fomitsch gehört, »die Zeiten seien so schrecklich«, der Kaiser Konstantin Pawlowitsch hätte auf den Thron verzichtet und die Truppen müßten auf Nikolai vereidigt werden; und wenn sie sich weigern, könne es auch einen Aufstand geben. ›Vielleicht ist es das?‹ fragte sie sich in ahnungsvollem Entsetzen.
»Ich habe Ihnen vorhin nicht die Wahrheit gesagt, daß ich Ihnen fast glaube. Nicht fast, sondern ganz. Und was auch kommen mag, ich werde Ihnen immer glauben. Aber es ist schrecklich, so schrecklich zu wissen und zugleich nicht zu wissen. Was wird mit mir sein, mein Gott . . .! Valerian Michailowitsch, Liebster, läßt es sich nicht vermeiden?«
»Nein, Marinjka, es geht nicht.«
»Wann?«
»Ich weiß nicht. Bald. Vielleicht morgen.«
»Morgen? Sie gehen also, und wir sehen uns vielleicht nie wieder!«
Sie erbleichte, beugte sich zu ihm und legte ihm ihre Hände auf die Schultern. Er kniete nieder und umschlang mit den Armen ihre Taille.
»Meine Liebe, meine Liebe, Einzige!«
Plötzlich fiel ihm Ssofja ein. Ob er nicht der Himmlischen um der Irdischen willen untreu wurde? Aber nein, es war keine Untreue. Er liebte in den beiden – in der Irdischen und Himmlischen – die eine Einzige.
»Gehen Sie, und wir sehen uns nie, nie wieder!« wiederholte sie weinend; es waren aber nicht mehr die früheren bitteren, sondern neue, süße Tränen der Liebe.
»Nein, Marinjka, wir sehen uns noch wieder. Und wenn wir uns wiedersehen, werden Sie mich dann nicht verlassen?«
Sie beugte sich noch tiefer über seine Schulter, näherte ihr Gesicht dem seinigen, und plötzlich spürte er ihren Atem. Sie sahen einander mit einem stummen Lächeln an, und plötzlich besannen sie sich aufeinander, erinnerten sich einander wie durch einen alten, oft gesehenen prophetischen Traum. Die beiden Lächeln näherten sich immer mehr und flossen plötzlich in einen Kuß zusammen.
»Liebste! Liebste! Liebste!« wiederholte er, als läge in diesem einen Wort alles, was er fühlte. »Bekreuzigen Sie mich, Marinjka. Ich gehe vielleicht auch für Sie in den Tod.«
»Warum für mich?«
»Das werden Sie später erfahren.«
»Dürfen Sie das auch nicht sagen?«
»Ich darf nicht. Bekreuzigen Sie mich.«
»Nun, Christus sei mit Ihnen! Die allerreinste Mutter bewahre, beschütze und behüte Sie!« Sie segnete ihn mit den gleichen Worten, mit denen ihn einst Ssofja gesegnet hatte, und küßte ihn mit einer schon mütterlichen Zärtlichkeit.
›Ja, Mutter, Allerreinste Mutter!‹ dachte er sich. ›Die liebe Mutter Erde. Mutter und Braut zugleich. In die Kreuzespein, in den Tod für sie, – für Rußland, die Allerreinste Mutter!‹