Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Neuntes Kapitel

»Wenn sie nicht sofort die Waffen strecken, lasse ich schießen«, hatte der Kaiser gesagt, als er Ssuchosanet zu den Meuterern schickte.

»Nun wie steht's?« fragte er ihn, als er zurückkam.

»Majestät, die Wahnsinnigen schreien: Konstitution! Sie verdienen Kartätschen«, wiederholte Ssuchosanet die Worte Benkendorfs.

›Kartätschen oder Konstitution?‹ fragte sich der Kaiser wieder.

Ssuchosanet wartete auf Befehle. Aber der Kaiser schwieg, als hätte er ihn vergessen.

»Sind die Geschütze geladen?« fragte er endlich, die Worte langsam, mit Anstrengung hervorbringend.

»Zu Befehl, ja, Majestät, aber nicht scharf. Befehlen mit Kartätschen?«

»Ja. Geh«, antwortete der Kaiser ebenso langsam und mühselig. »Wart«, rief er ihm nach, »der erste Schuß in die Luft.«

»Zu Befehl, Majestät.«

Ssuchosanet ritt zu den Geschützen, und der Kaiser sah, daß man sie mit Kartätschen lud.

Die frühere Angst hatte sich verflüchtigt, und an ihre Stelle war eine neue, ihm noch unbekannte getreten. Er fürchtete nicht mehr für sich, – er hatte begriffen, daß sie ihm nichts tun und ihn bis zuletzt schonen würden, – aber er fürchtete das, was er selbst tun würde.

Er erblickte Benkendorf und ritt ??auf ihn zu.

»Was soll ich tun, was soll ich tun, Benkendorf?« flüsterte er ihm ins Ohr.

»Was heißt, was? Sofort schießen lassen, Majestät! Sonst unternehmen sie gleich eine Attacke und nehmen die Geschütze weg.«

»Ich kann nicht! Ich kann nicht! Warum verstehst du nicht, daß ich es nicht kann!«

»Die Empfindsamkeit des Herzens macht Eurer Majestät alle Ehre, aber jetzt ist es um andere Dinge zu tun! Man muß sich für eines von beiden entschließen: Entweder das Blut einzelner vergießen, – um alles zu retten, oder das Reich opfern . . .«

Der Kaiser hörte zu, ohne etwas zu verstehen.

»Ich kann nicht! Ich kann nicht! Ich kann nicht!« flüsterte er noch immer wie geistesabwesend. Und in diesem Flüstern war etwas so Neues und Schreckliches, daß Benkendorf erschrak.

»Beruhigen Sie sich, um Gotteswillen, beruhigen Sie sich, Majestät! Geruhen Sie nur zu kommandieren, und ich nehme alles auf mich . . .!«

»Gut, geh. Sofort . . .« Der Kaiser winkte ihm mit der Hand und ritt auf die Seite.

Er schloß für einen Augenblick die Augen und sah so klar, als hätte er ihn vor sich, den kleinen nackten Körper Saschas. Es war schon lange her, vor fünf Jahren, in einer schwülen Gewitternacht, im blauen Schlafzimmer Saschas im Schlosse von Peterhof. Der Kleine zahnte; alle Nächte hatte er nicht geschlafen, immerzu geweint und sich im Fieber hin- und hergeworfen, aber in dieser Nacht war er ruhig eingeschlafen. Alexandrine führte ihren Mann zu Saschas Bettchen und schob leise die Vorhänge auseinander. Der Kleine hatte im Schlaf die Decke von sich geworfen und lag nackt da, – sein rosiges Körperchen war voller Grübchen, und er lächelte im Schlafe. »Regarde, regarde le donc! Oh, qu'il est joli, le petit ange!« flüsterte Alexandrine lächelnd, und auch der Stabshauptmann Romanow lächelte.

»Was ist mit mir los? Phantasiere ich? Werde ich verrückt?« Er kam zu sich, öffnete die Augen und sah den General Ssuchosanet, der ihm schon zum dritten Male meldete:

»Die Geschütze sind geladen, Majestät!«

Der Kaiser nickte stumm mit dem Kopf, und jener ritt wieder, ohne einen Befehl erhalten zu haben, verblüfft zu der Batterie zurück.

»Herr, rette mich! Herr, hilf mir!« versuchte der Kaiser zu beten, konnte es aber nicht.

»Batterie, Einzelfeuer! Der rechte Flügel fängt an! Erstes!« schrie er plötzlich mit dem gleichen Gefühl, mit dem ein furchtsamer Mörder den Dolch hebt, nicht um ihn ins Fleisch zu stoßen, sondern nur um zu probieren.

»Fang an! Erstes! Erstes! Erstes!« rollte das Kommando von Offizier zu Offizier.

»Erstes!« wiederholte der jüngste Offizier, der Kompagniechef Bakunin.

»Halt!« schrie der Kaiser. Er konnte den Schlag nicht führen, der Dolch fiel ihm aus der Hand.

Nach einigen Sekunden wieder:

»Fang an! Erstes!«

Und wieder:

»Halt!«

Und zum dritten Mal:

»Fang an! Erstes!«

Ein Riesenpendel schwang von Wahnsinn zu Wahnsinn, von Schrecken zu Schrecken.

Plötzlich fiel ihm ein, daß der erste Schuß über die Köpfe abgefeuert werden sollte. Soll er den letzten Versuch machen, ob sie nicht erschrecken, ob sie nicht auseinanderlaufen?

»Erstes! Erstes!« rollte wieder das Kommando.

»Erstes! Feuer!« schrie Bakunin.

Der Feuerwerker blickte verlegen drein und führte die Lunte nicht an das Zündrohr.

»Was hörst du nicht auf das Kommando, du Hundesohn?« schrie Bakunin, auf ihn zulaufend.

»Euer Wohlgeboren, es sind doch unsere Eigenen«, antwortete jener leise und blickte den Kaiser an. Ihre Augen begegneten sich, und der Abstand zwischen ihnen war gleichsam verschwunden: Es war kein Knecht, der den Zaren anblickte, sondern ein Mensch sah auf einen Menschen.

»Ja, es sind die Eigenen! Es ist Saschas Körper, Saschas Körper!«

»Halt!« wollte Nikolai schreien, aber eine schreckliche Hand preßte ihm die Kehle zusammen.

Bakunin entriß dem Feuerwerker die Lunte und führte sie selbst an das Zündrohr.

Es dröhnte und krachte ohrenbetäubend. Aber die Kartätschen flogen über die Köpfe der Menge hinweg. Der Dolch bohrte sich nicht ins Fleisch und glitt vorbei.

Das Karree regte sich nicht: Sich gegen den Felsen Petri stützend, stand es unbeweglich und unwankbar wie dieser Fels. Als Antwort auf den Kanonenschuß knatterte unordentliches Gewehrfeuer und erklang der triumphierende Schrei:

»Hurra! Hurra! Hurra! Konstantin!«

Wie Wasser sich bei Berührung mit weißglühendem Eisen in Dampf verwandelt, so verwandelte sich das Entsetzen des Kaisers in Raserei.

»Zweites! Feuer!« schrie er, und das zweite Geschütz krachte.

Eine Rauchwolke verdeckte die Menge, aber aus dem herzzerreißenden Schreien, Heulen, Kreischen und noch anderen seltsamen Lauten, die wie nasses Klatschen und Spritzen klangen, erriet er, daß die Kartätschen mitten in die Menge eingeschlagen hatten. Der Dolch war ins Fleisch eingedrungen.

Als aber die Rauchwolke sich verzogen hatte, sah er das Karree noch immer stehen; eine kleine Gruppe hatte sich von ihm losgelöst und unternahm eine Attacke.

Da krachten aber das dritte, das vierte, das fünfte Geschütz, und durch die von den Feuerblitzen durchkreuzten Rauchwolken konnte man sehen, daß die Kartätschen wie Hagel auf die kompakte Mauer der menschlichen Körper niederprasselten.

Der Fels Petri war im Wege, aber sie schossen auch auf ihn. Es war, als wollten sie den Ehernen Reiter zusammenschießen.

Und als der ganze Platz leer geworden war, schoben sie die Geschütze vor und feuerten auf die Fliehenden in die Galernaja, auf den Englischen Quai, längs der Newa und sogar auf die Wassiljewskij-Insel.

»Geladen, Feuer! Geladen, Feuer!« schrie Ssuchosanet mit schon heiserer Stimme.

»Geladen, Feuer! Geladen, Feuer!« schrie ihm der Kaiser nach.

Schlag auf Schlag, Schuß auf Schuß, – der Dolch drang ein, drang immer tiefer ein; ihm war es aber noch immer zu wenig, als stillte er einen unstillbaren Durst, und der feurige Trank floß durch seine Adern so berauschend wie noch nie.

General Komarowskij sah den Kaiser an und dachte sich plötzlich und unwillkürlich:

»Kein Mensch, sondern ein Teufel!«

 


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