Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Viertes Kapitel

Nun haben Sie, Gott sei Dank, die Fragen beantwortet, und die Sache ist erledigt«, sagte P. Pjotr zu Golizyn, als er zu ihm einen Tag nach dem Verhör in die Zelle kam. »Jetzt geht alles glatt vonstatten. Sie können ruhig sein: Er wird alle begnadigen. Er hat selbst gesagt: ›Ich werde Rußland und Europa in Erstaunen setzen!‹«

In den kleinen dreieckigen Augenschlitzen unter den herabhängenden Lidern leuchtete eine so einfältige Schlauheit, daß Golizyn, so aufmerksam er ihn auch betrachtete, nicht entscheiden konnte, ob er sehr einfältig oder sehr schlau sei.

»Der Kaiser hat Ihre Antwort selbst gelesen«, fuhr Myslowskij nach kurzem Schweigen mit geheimnisvoller Miene fort. »Seine Majestät zog aus Ihrer Antwort sehr günstige Schlüsse auf Ihre Fähigkeiten . . .«

»Es ist genug, P. Pjotr, gehen Sie«, sagte Golizyn erbleichend.

P. Pjotr verstand aber nicht und sah ihn erstaunt an.

»Gehen Sie!« wiederholte Golizyn, noch mehr erbleichend. »Ich habe Ihren Rat befolgt. Was wollen Sie von mir noch?«

»Was haben Sie, was haben Sie, Valerian Michailowitsch, Liebster? Warum fahren Sie mich so an . . .?«

»Weil Sie, ein Diener Christi, sich nicht geschämt haben, das Amt eines verächtlichen Spions und Spitzels zu übernehmen.«

»Gott sei Ihr Richter, Fürst. Sie beleidigen einen Menschen, der nur Ihr Bestes . . .«

»Hinaus! Hinaus!« schrie Golizyn, aufspringend und mit den Füßen stampfend.

P. Pjotr ging und kam nicht wieder. Golizyn wußte, daß er nur ein Wort zu sagen brauche, damit jener gelaufen komme. Er wollte es aber nicht, er versuchte sich zu überreden, daß er ihn nicht brauche und daß dieser ›empfindsame Gauner‹ ihm immer ekelhaft gewesen sei.

Nun war er nicht nur von P. Pjotr, sondern auch von allen andern verlassen.

›Endlich haben sie mich in Ruhe gelassen‹, freute er sich anfangs; als er aber fühlte, daß die Einsamkeit sich über ihm schloß wie das Wasser über einem Ertrinkenden, wurde es ihm unheimlich.

Das Schlimmste war, daß man Obolenskij in eine andere Zelle verbracht hatte. Das Klopfen hörte auf. Mit einem neuen Nachbarn müßte er alles von vorn anfangen. An Stelle Obolenskijs kam Odojewskij. Als Golizyn zu ihm hinüberklopfte, antwortete jener mit einem solchen Gepolter, daß alle Wachtposten zusammenliefen. Sooft Golizyn zu klopfen versuchte, wiederholte sich dieselbe Geschichte. Zuletzt verzweifelte er und gab es auf. Auf der anderen Seite saß aber der halbverrückte Fallenberg, der auf das Klopfen überhaupt nicht reagierte. Er sehnte sich nach seiner Frau und weinte. Nachts, wenn alles still war, hörte man oft sein Schluchzen, anfangs dumpf, dann immer lauter und zuletzt den herzzerreißenden Schrei:

»Eudoxie! Eudoxie!«

›Marinjka! Marinjka!‹ wollte ihm Golizyn mit dem gleichen Schrei antworten.

In den ersten Tagen seines Gefangenenlebens, als er noch glaubte, daß alles bald zu Ende sein würde, war es ihm leicht ums Herz. Aber jetzt, als er sich überzeugt hatte, daß das Ende erst nach Monaten, Jahren, Jahrzehnten kommen könne, bemächtigte sich seiner eine stumpfe Verzweiflung.

Die Tage vergingen so eintönig, daß sie wie bei einem bewußtlosen Fieberkranken zu einem einzigen unendlichen Tag zusammenflossen. Er entfernte die Brotkügelchen, die ihm zur Zeitrechnung dienten, von der Wand; er war ganz aus der Rechnung gekommen. Die Zeit wurde zu einer Ewigkeit, und er blickte mit Entsetzen in ihren gähnenden Abgrund.

Der Verstand zerbröckelte, wurde zu Staub, wie ein Korn zwischen zwei Mahlsteinen – zwischen den beiden Gedanken: Er muß etwas tun, und er kann nichts tun.

Stundenlang ordnete er die aus dem Ventilator herausgebrochenen Blechstückchen auf dem Tisch zu verschiedenen Figuren: Sternen, Kreuzen, Kreisen, Vielecken.

Oder er saß auf dem Bett, zog den unendlichen Faden heraus, mit dem die Decke an das Laken angenäht war, und knüpfte Knoten auf Knoten, bis sich schließlich ein ganzer Knäuel bildete; dann entwirrte er alles und knüpfte neue Knoten.

Oder er beobachtete, wie die Spinne ihr Netz baute und beneidete sie: Die hat wenigstens eine Beschäftigung.

Oder er stand auf dem Fensterbrett und blickte durch das Loch des Ventilators auf die blinde Granitwand nebenan und auf das Dach der Bastion mit der Regenrinne, auf die sich zuweilen eine ihm bekannte Krähe setzte und krächzte.

Oder er lief im Kreise herum und machte die von seinen Vorgängern in dem Ziegelboden ausgetretenen Vertiefungen noch tiefer.

Oder er dichtete dumme Verse und wiederholte sie bis zur Bewußtlosigkeit vor sich hin:

Wer nicht weiß, was ich erdulde,
Oh, der glaubt es nimmermehr,
Daß ein so gering Verschulden
Uns doch quälen kann so sehr.

In der Ecke, wo er sich wusch, fand er auf der Wand die Inschrift:

›God demn your eyes.‹

»Wer hat das geschrieben?« fragte er den Namenlosen.

»Ein Engländer.«

»Was ist aus ihm geworden?«

»Er ist gestorben.«

»Woran?«

»Vor lauter Schlafen. Er schlief Tag und Nacht und starb auch im Schlaf.«

›Auch ich werde so im Schlaf sterben‹, dachte sich Golizyn.

Er war rührselig geworden wie ein altes Weib. Wenn das Glockenspiel seine traurige Weise ertönen ließ, hatte er Lust zu weinen. Wenn der Feuerwerker Schibajew ihm das Mittagessen oder den Tee mit einem besonders freundlichen Lächeln brachte, traten ihm Tränen in die Augen. Einmal las er den Zettel, den er von Marinjka bekommen hatte, wieder durch und weinte dabei wie ein kleines Kind. Als aber der Wachtposten zu ihm durch das Guckloch hereinblickte, schämte er sich; er wandte ihm den Rücken, versuchte die Tränen zurückzuhalten und konnte es nicht; sie liefen unstillbar und widerlich süß. ›Das hat die Haft von nur zwei oder drei Wochen zuwege gebracht, was wird noch später kommen?‹ Er dachte sich:

Für meine Heimat sterbe ich,
Ich fühl es tief, ich weiß es lange;
Und dennoch, Vater, freu ich mich,
Daß ich ein solches Los empfange!

Als es aber zum Handeln kam, war er schwach geworden, wollte nicht zugrunde gehen; er liebte das Leben, weil er Marinjka liebte. Die Liebe ist eine Gemeinheit: Um richtig zu sterben, muß man zu lieben aufhören, die Liebe töten – von allen seinen schrecklichen Gedanken war dieser der schrecklichste.

Seine Verzweiflung nahm von Tag zu Tag zu, die Geduld ging aber zu Ende: Das Herz war voller Wunden, die Gedanken gerieten durcheinander, und es war ihm, als werde er verrückt. Er beobachtete sich und fand in jeder seiner Bewegungen, jedem Wort und jedem Gedanken Symptome der Geisteskrankheit. Anfangs war es die Angst vor dem Wahnsinn, dann die Angst vor dieser Angst. Er wurde verrückt beim Gedanken, daß er verrückt werden müsse. ›Wenn es doch bloß schneller ein Ende nehmen wollte!‹ sagte er sich voller Verzweiflung und schlug sich, in der Ecke stehend, mit dem Kopf an die Wand. Oder er betrachtete das scharfgeschliffene Stück Blech aus dem Ventilator und dachte, ob er sich damit nicht die Kehle durchschneiden könne.

Zuletzt wurde er krank. Er hatte Fieber, Stechen in der Seite und hustete Blut. Der Kommandant Ssukin erschrak und ließ Elkan kommen. Dieser erklärte, daß der Arrestant, wenn er nicht in eine bessere Zelle versetzt werde, leicht die Schwindsucht bekommen könne.

Golizyn freute sich. Alle seine Qualen hatten auf einmal ein Ende genommen: Der Tod ist die Freiheit.

P. Pjotr hörte von seiner Erkrankung und kam zu ihm gelaufen. Als Golizyn sich zu entschuldigen anfing, daß er ihn bei seinem letzten Besuch beleidigt habe, fiel er ihm um den Hals und brach in Tränen aus.

Nun besuchte er ihn wieder jeden Tag. Um den Kranken zu zerstreuen, erzählte er ihm alle Neuigkeiten und Gerüchte, die in der Stadt verbreitet wurden.

Golizyn erfuhr von ihm über die Ankunft des Trauerkondukts mit der Leiche des verstorbenen Kaisers. Alle hatten ihn vergessen, als hätte man ihn schon vor zehn Jahren beerdigt. Indessen zog aber quer durch ganz Rußland von Taganrog nach Petersburg sehr langsam, länger als zwei Monate, der Trauerkondukt, von Fußtruppen und Reiterei umgeben, mit Avantgarden und Arrieregarden, Patrouillen und Vorposten, wie ein Heereszug durch ein feindliches Land. Man fürchtete eine Empörung. Im Volke wurde das Gerücht verbreitet, der Kaiser sei gar nicht gestorben und man beerdige jemand anders; in Moskau wolle man die Leiche aus dem Sarge nehmen, durch die Straßen schleppen und dann verbrennen. »Ich habe die strengsten Maßregeln zur vollkommenen Sicherheit der teuren Asche getroffen«, meldete Graf Orlow-Denissow, der Ober-Zeremonienmeister des Leichenzuges. »Ich will verbürgen, daß der letzte Tropfen meines Blutes an der Bahre des allerhöchsten Toten erstarren wird und daß eine frevle Hand sie nur über meine entseelte Leiche erreichen kann.« Als die Leiche in Moskau aufgebahrt war, schloß man jede Nacht alle Tore des Kreml und stellte bei allen Ausgängen geladene Geschütze auf. Es hieß, daß in Petersburg alle Straßen von der Stadtgrenze bis zur Kasanschen Kathedrale, über die der Leichenzug kommen sollte, unterminiert seien; in den Kellern der Kathedrale seien vier Pulverfässer versteckt, außerdem je ein Faß in jedem Brückenschiff der Troizkij-Brücke, um den Leichenzug in die Luft zu sprengen.

Ein noch seltsameres Gerücht hörte Golizyn von Awenir Pantelejitsch: Der Kaiser sei an Vergiftung gestorben; der Bösewicht Metternich hätte ihn vergiftet; das Gesicht sei im Sarge so schwarz geworden, daß man es nicht wiedererkennen könne. Aber auch der lebende Kaiser sehe vor Schreck nicht besser aus als der Tote.

Die erstaunlichsten Dinge erzählte aber der ›Namenlose‹.

Als die Leiche des Kaisers Moskau passierte, sei dort ein Küster aus einem gewissen Dorf gewesen; als der Küster ins Dorf zurückkehrte, hätten ihn die Bauern gefragt, ob er wirklich den Kaiser gesehen habe. »Was für einen Kaiser?« hätte er geantwortet: »Es ist nicht der Kaiser, sondern ein Teufel, der im Sarge liegt!« Wegen dieser Worte hätte ihn ein Bauer geschlagen und beim Popen angezeigt, der Pope hätte es der Behörde gemeldet, und der Küster sei verhaftet worden. Andere aber erzählen, daß der Tote im Sarge nicht der Teufel, sondern ein einfacher russischer Soldat sei. Als der Kaiser in Taganrog wohnte, hätten ihn einige Missetäter ermorden wollen. Der Kaiser hätte es erfahren, wäre nachts aus dem Schlosse gegangen und hätte zum Wachtposten gesagt: »Wachtposten, willst du für mich sterben?« – »Zu Befehl, Majestät!« Da hätte der Kaiser die Soldatenuniform angezogen und sich auf den Posten gestellt, der Soldat sei aber in der Uniform des Kaisers ins Schloß gegangen. Plötzlich hätte man ihn mit einer Pistole erschossen. Der Soldat sei gestorben, der Kaiser hätte aber das Gewehr weggeworfen und sei weggelaufen, niemand wisse wohin. Man sagt, in die Einsiedeleien, zu den frommen Greisen, um sein Seelenheil zu retten und zu beten, daß Gott Rußland errette.

»Wer weiß, vielleicht ist es auch wahr«, sagte P. Pjotr zu Golizyn, geheimnisvoll mit den Augen blinzelnd, als ihm jener den Bericht des ›Namenlosen‹ wiedergab.

»Was ist wahr?« fragte Golizyn erstaunt.

»Daß er tot war und nun lebendig ist . . .«

»Aber ich bitte Sie, P. Pjotr! Bedenken Sie doch selbst, was es für ein Unsinn ist. Haben sich denn alle Generäle, Adjutanten, Hofbeamten und die Kaiserin Jelisaweta Alexejewna selbst verschworen, Rußland zu betrügen?«

»Ja, es ist wirklich unwahrscheinlich«, gab P. Pjotr unwillig zu; er schwieg eine Weile, dachte nach und fügte noch geheimnisvoller hinzu: »Die Sache ist dunkel, Durchlaucht, sehr dunkel!«

Er beugte sich plötzlich zu seinem Ohr und flüsterte:

»Man sagt, im Regimentslazarett zu Taganrog sei tatsächlich ein kranker Soldat gelegen, der dem Kaiser ungewöhnlich ähnlich gesehen hätte. Der Soldat sei gestorben, der Kaiser aber gesund geworden. Nun hätte man sie vertauscht. Der Leibarzt Wyllié hätte die ganze Sache gemacht. Ein schlaues Biest!«

»Aber wozu? Wer brauchte das?«

»Wer es braucht, ist ein großes Geheimnis. Heute ist es verborgen, vielleicht wird es aber einmal enthüllt werden. Es wird ein gewisser gottgefälliger Greis aufkommen, ein Märtyrer für ganz Rußland, eine Feuersäule, die von der Erde bis in den Himmel reicht, ein in Wahrheit Gesegneter. Sein Name aber ist . . .«

»Nun, sagen Sie doch!«

»Werden Sie es niemand wiedererzählen?«

»Niemand!«

»Ihr Ehrenwort?«

»Mein Ehrenwort.«

»Fjodor Kusmitsch«,Kusmitsch, Fjodor, eine der geheimnisvollsten Gestalten der Weltgeschichte. Tauchte gegen 1836 am Ural auf und wurde wegen Vagabundage und Ausweislosigkeit geknutet und nach Sibirien verschickt, wo er bis zu seinem Tode (1864) zu Tomsk lebte. Galt beim Volke als heiliger Wundertäter und zugleich als der Kaiser Alexander I., der 1825 gar nicht gestorben sei und als der einfache ›Starez‹ Fjodor Kusmitsch seine Sünden büße. An diese Legende glaubten auch manche Historiker. Anm. d. Übers. flüsterte P. Pjotr mit Andacht.

»Fjodor Kusmitsch«, wiederholte Golizyn, und er glaubte in diesem Namen etwas Unheimliches und Prophetisches zu hören, als hätte er es einen Augenblick lang geglaubt: Fjodor Kusmitsch ist der Kaiser Alexander Pawlowitsch.

Ihm fiel das Gespräch ein, das er mit Pestel in Linzy gehabt hatte und Ssofjas Fieberdelirium: ›einen Toten töten!‹ Er war tot und ist nun lebendig!

Am 13. März teilte der ›Namenlose‹ Golizyn mit: Heute wird der Kaiser beerdigt.

Durch die obere, nicht übertünchte Fensterscheibe konnte er sehen, daß es draußen schneite; der Schnee fiel in dichten, noch nicht ganz nassen, aber schon weichen Märzflocken.

Golizyn schloß die Augen und sah einen sich langsam bewegenden Leichenzug mit schwarzem Katafalk und schwarzem Sarg unter einer weißen Sargdecke.

Plötzlich krachten Kanonenschüsse. Die Wände der Kasematte zitterten, als fielen sie zusammen. Irgendwo leuchtete eine Flamme auf, deren Widerschein zu ihm in die Zelle drang.

Er begriff, daß man in diesem Augenblick in der Kathedrale der Peter-Pauls-Festung die Leiche des Kaisers Alexander Pawlowitsch ins Grab versenkte.

 


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