Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel

Wir fürchten Blut, wir wollen es ohne Blut machen. Es wird aber Blut geben, unschuldiges Blut‹, diese Worte Kachowskijs kamen Golizyn wieder in den Sinn. ›Unschuldiges! Unschuldiges! Unschuldiges!‹ hämmerte es eintönig in seinem kranken Kopfe wie in einem Delirium.

Er lag auf dem Sofa und blickte durch die zusammengekniffenen, fieberhaft brennenden Lider auf den hellen Kreis der Lampe unter grünem Schirm im halbdunklen Zimmer, auf die Bücherreihen der Bibliothek, auf die verblichenen zarten Pastellbilder der Großmütter und Großväter – alles war so gemütlich, friedlich, still, daß ihm der ganze Tag auf dem Platz wie ein schrecklicher Traum erschien.

Spät in der Nacht, als alles schon zu Ende war, war ein Unteroffizier des Moskauer Regiments, der sich durch die entlegenen, schneeverwehten Hintergassen vor Reiterpatrouillen rettete, am Krjukow-Kanal auf Golizyn gestoßen, der zwischen Holzstößen eingeschlafen und halb erfroren war; er dachte, er sei schon tot, und wollte weitergehen, hörte aber ein leises Stöhnen, beugte sich, blickte ihm ins Gesicht, erkannte beim Laternenschein einen der Vorgesetzten, die auf dem Platze gewesen waren, und meldete es Wilhelm Karlowitsch Küchelbäcker, der sich in der Nähe, in einem Haufen fliehender Soldaten befand.

Man brachte Golizyn zum Bewußtsein, setzte ihn in eine Droschke, und Küchelbäcker fuhr mit ihm zu Odojewskij, mit dem er in der Nähe des Großen Theaters zusammenwohnte. Der Hausherr war nicht zu Hause – er war noch nicht vom Platz heimgekehrt.

Als Golizyn erfuhr, daß alle Genossen unversehrt seien, wurde er gleich lebendig, erinnerte sich des Versprechens, das er Marinjka gegeben hatte – sie zum letztenmal vor der vielleicht ewigen Trennung aufzusuchen – und wollte gleich nach Hause. Küchelbäcker ließ ihn aber nicht gehen; er brachte ihn zu Bett, umband ihm den Kopf mit einem in Essig getauchten Handtuch, und gab ihm Tee, Punsch und irgend einen Dekokt eigener Erfindung zu trinken.

Golizyn wollte nicht schlafen; er legte sich hin, nur um etwas auszuruhen, schloß aber sofort die Augen und versank augenblicklich in einen tiefen Schlaf, als stürzte er in ein tiefes Loch.

Als er erwachte, war Küchelbäcker nicht mehr im Zimmer. Er rief, und niemand antwortete. Er sah auf die Uhr und traute seinen Augen nicht. Er hatte fünf Stunden geschlafen, glaubte aber, daß es nur fünf Minuten gewesen seien.

Er stand auf und ging durch die Zimmer. Niemand da. In der Gesindestube schnarchte der Bursche. Golizyn weckte ihn und erfuhr, daß der Herr noch immer nicht heimgekommen sei und Küchelbäcker sich mit dem alten Kammerdiener auf die Suche in die Stadt begeben hätte.

Golizyn war sehr schwach; der Kopf schwindelte ihm, und er spürte einen heftigen Schmerz an der Schläfe, wahrscheinlich infolge des Schlages mit dem Stiefelabsatz, den er im Gedränge abbekommen hatte. Er zog sich aber dennoch an – jetzt erst merkte er, daß er einen fremden Hut hatte; die Brille war aber wie durch ein Wunder unversehrt geblieben. Er ging auf die Straße, setzte sich in eine Droschke und ließ sich auf den Senatsplatz fahren. Er wollte zuerst dorthin und dann erst nach Hause.

Es tagte noch nicht, der Himmel fing eben an, grau zu werden, und der Schnee auf den Dächern schimmerte weiß.

Je mehr er sich dem Senatsplatz näherte, um so mehr glichen die Straßen einem Kriegslager: überall Truppen, Haufen von Stroh und Heu, zusammengestellte Gewehre und Picken, Werda-Rufe, knisternde Holzfeuer; die funkelnden Mündungen der Kanonen zeigten sich und verschwanden im Rauch und zitterndem Flammenschein.

Auf dem Englischen Quai stieg Golizyn aus der Droschke, weil man nicht weiter fahren durfte, und zwängte sich zu Fuß durch die Menge. Nach einigen Schritten mußte er aber stehen bleiben: Man ließ niemand auf den Platz; er war von Truppen umzingelt, zwischen denen Geschütze standen, die Mündungen in alle Hauptstraßen gerichtet.

Über den Quai fuhr ein mit Bastmatten zugedeckter Wagen. Als die Leute ihn erblickten, ließen sie ihm den Weg frei, zogen die Mützen und bekreuzigten sich.

»Was ist das?« fragte Golizyn.

»Die Toten«, antwortete ihm ein ängstliches Flüstern. »Gott schenke ihnen das Himmelreich! Es sind doch getaufte Menschen, sie stoßen sie aber unter das Eis wie verreckte Hunde.«

Auch die andern Leute neben Golizyn fingen zu tuscheln an. Golizyn hörte, daß die Polizei die ganze Nacht die Leichen gesammelt und zum Fluß zusammengetragen habe; dort hätte man eine Menge von Löchern ins Eis geschlagen und alle Körper unterschiedslos hineingeworfen, nicht nur die Toten, sondern auch die Lebenden und Verwundeten: Man hatte keine Zeit, viel Federlesens zu machen, denn es war befohlen, den Platz bis zum Morgen zu säubern. Man stieß die Körper in aller Eile in die Löcher, so daß viele steckenblieben und an das Eis anfroren.

Die Raben witterten die Beute und schwirrten in der weißlichen Morgendämmerung über der Newa mit unheimlichem Krächzen. Und dieses Krächzen vermischte sich mit anderen, noch unheimlicheren Tönen, die sich wie eisernes Knirschen anhörten. »Was ist das? Hört ihr es?« fragte Golizyn wieder. »Das ist die große Wäsche«, antwortete ihm dasselbe ängstliche Flüstern. »Geh hin und sieh selbst« .–

»Was für eine große Wäsche?«

Golizyn drängte sich noch etwas vor, reckte sich auf den Zehen und blickte in die Richtung, aus der die unbegreiflichen Töne kamen. Auf dem Platze schabten Männer mit eisernen Stangen das Pflaster, kratzten den roten, mit Blut vermischten Schnee ab, schütteten reinen weißen Schnee auf und rollten ihn mit Walzen fest; die eingefrorenen Blutlachen auf den Stufen vor dem Senat wusch man mit kochendem Wasser aus dampfenden Kübeln und rieb die Flecken mit Bastwischen und Besen ab. Man setzte in die eingeschlagenen Fenster neue Scheiben ein und verputzte, verschmierte und strich die gelben Wände und die weißen Säulen des Senats, die mit Blut bespritzt und von Kugeln zerkratzt waren. Oben auf dem Dach reparierte man die Waage in der Hand der Göttin der Gerechtigkeit.

Aber der Morgen, ebenso trüb, neblig und still wie gestern, schien noch zu schwanken, ob er sich für Frost oder für Tauwetter entscheiden solle; die Nadel der Admiralität bohrte sich wieder in den niederen Himmel wie in weiße Watte; die über die Newa führenden Brücken stießen gegen eine weiße Mauer, und man glaubte, daß dort, jenseits der Newa nichts mehr sei, – nur der weiße Nebel, die Leere, das Ende der Erde und des Himmels, der Rand der Welt. Und der Eherne Reiter auf dem ehernen Pferde sprengte wie gestern in diese weiße Finsternis.

Und die Schabeisen kratzten mit eisernem Knirschen.

›Sie werden es nicht abkratzen!‹ dachte sich Golizyn. ›Das Blut wird aus der Erde steigen, es wird zu Gott schreien und das Tier besiegen!‹

 


 


 << zurück weiter >>