Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Drittes Kapitel

»Marinjka!« sagte Golizyn, die Augen aufschlagend.

Er kam zum ersten Male nach seiner Ohnmacht zu sich. Als er noch im Fieber lag, hatte er, ohne sie zu sehen, gefühlt, daß sie hier an seiner Seite sei, und sich gequält, daß er sie nicht rufen könne.

»Was denn, Valerian Michailowitsch, Liebster?« fragte sie, sich über ihn beugend und ihm erschrocken und freudig in die Augen blickend. »Was denn? Was?« Sie bemühte sich zu erraten, was er wollte.

Er wollte fragen, wo er sich befinde und was mit ihm los sei, war aber so schwach, daß er nicht sprechen konnte; er fürchtete wieder, in das schwarze Loch der Bewußtlosigkeit zu stürzen, aus dem er eben mit solcher Mühe herausgekommen war. Er wollte sich selbst an alles erinnern; er besann sich auf einiges und vergaß es gleich wieder. Die Gedanken rissen wie durchgebrannte Fäden. Allerlei Einzelheiten lenkten ihn ab: die Menge Medizingläser mit Rezepten auf dem Nachttischchen, die Flamme der Wachskerze hinter einem grünseidenen Lichtschirm, das eintönige leise Ticken der Taschenuhr auf dem Tischchen, wahrscheinlich war es seine eigene Uhr.

»Wie spät ist es?« fragte er endlich mit vorsichtiger Anstrengung.

»Halb sieben«, antwortete Marinjka.

›Morgens oder abends?‹ wollte er fragen, vergaß es aber gleich, denn es kam ihm ein anderer Gedanke: Wie lange er schon so liege? Er schwieg eine Weile, sammelte sich und fragte:

»Was für ein Tag?«

»Donnerstag.«

›Und das Datum?‹ wollte er fragen und vergaß es wieder.

Plötzlich ertönte in der Stille ein dumpfes Dröhnen, wie von einem fernen Schuß.

›Schießt man denn immer noch?‹ wunderte er sich und besann sich, daß er das gleiche Dröhnen auch im Fieber gehört hatte: Jedesmal hatte er aufstehen und hinlaufen wollen; er hatte die Füße bewegt, war gelaufen und dabei auf demselben Fleck geblieben. ›Stehen-stehen-stehende!‹ tickte eintönig die Uhr. Und er verstand, was es bedeutete: ›Stehende Revolution‹.

»Er schwitzt!« sagte Marinjka, ihm die Hand auf den Kopf legend.

»Gott sei Dank!« rief Foma Fomitsch erfreut. Golizyn erkannte seine Stimme. Der Arzt hatte neulich gesagt: Wenn er einmal schwitzt, wird er gleich gesund werden.

Sie wischte ihm den Schweiß mit einem Tuch aus dem Gesicht. Er sah sie an und entsann sich ihrer wie durch einen alten, oft gesehenen Traum: ein liebes, liebes junges Mädchen, vom Duft der Liebe umhaucht wie blühender Flieder von der Frische des Taus. Sie trug einen alten Morgenrock aus Gros-de-Naples, von rauchgrauer Farbe, und ein Spitzenhäubchen, aus dem längs der Wangen wie leichte Trauben lange schwarze Locken herabfielen. Das Gesicht war etwas magerer und blasser geworden, und die großen dunklen Augen schienen noch größer und dunkler.

»Meine Liebe, Liebe!« flüsterte er und wandte sich zu ihr.

Ihre Blicke trafen sich; sie lächelte. Sie erriet, was er wollte und drückte ihre Handfläche, so frisch und warm wie eine von der Sonne durchwärmte Blütenkrone, an seine Lippen.

»Man müßte ihm die Arznei geben, Marja Pawlowna«, sagte Foma Fomitsch.

Marinjka füllte einen Löffel und reichte ihn Golizyn. Es schmeckte gut und roch nach Mandeln und Anis.

»Noch!« bat er mit kindlicher Gier.

»Mehr dürfen Sie nicht. Wollen Sie trinken?«

»Nein, schlafen.«

»Warten Sie, der Kopf liegt zu tief.«

Sie umfaßte mit dem einen Arm seine Schultern, hob mit unerwarteter Kraft und Gewandtheit seinen Kopf und begann mit der andern Hand die Kissen zurechtzurücken. Während sie ihn hob, fühlte er an seiner Wange durch das Kleid hindurch ihre elastische zarte Mädchenbrust.

»Ist es so gut?« fragte sie, indem sie seinen Kopf auf das Kissen legte.

»Gut, Marinjka . . . Mamachen . . .«

Er wußte selbst nicht, ob er das Wort ›Mamachen‹ absichtlich oder zufällig gesagt hatte. Ihre Blicke trafen sich wieder: Sie lächelte ihm zu, und er wiederholte gerührt und begeistert:

»Mamachen . . . Marinjka . . .«

Er wollte noch etwas sagen, aber dunkle, weiche Wellen schlugen über ihn zusammen; er fühlte nur, wie sie ihn auf die Stirne küßte und bekreuzigte und hörte, wie sie flüsterte:

»Schlaf, Liebster, schlaf mit Gott!«

Er schloß mit einem Lächeln die Augen; es war ihm, als hätte sie ihn auf die Arme genommen und wiege ihn in den Schlaf.

Er schlief bis elf Uhr früh. Die weiße, blauäugige Katze ›Marquise‹ mit den gezierten und langsamen Bewegungen einer echten Marquise, hatte die ganze Nacht, zu einem Knäuel zusammengerollt, auf dem Deckel des Klaviers geschlafen. Am Morgen erwachte sie, stellte sich auf alle vier Pfoten, machte einen Buckel, schnurrte und sprang auf die Tasten, und das Geklimper weckte Golizyn.

»Kitz, du Nichtsnutzige! Da hast du ihn geweckt!« schrie Marinjka die Katze an und stampfte mit dem Fuß.

»Potap, Potapytsch Potapow!« klang aus der Ferne der Schrei des Papageis, und Golizyn begriff sofort, daß er sich im alten Hause der Großmutter befand. Es war aber nicht sein Zimmer, sondern das gelbe Teezimmer neben dem blauen Sofazimmer. Später erfuhr er, daß man ihn aus seinem kleinen und schwülen Schlafzimmer im Entresol während seiner Krankheit in dieses Zimmer geschafft hatte.

Es roch nach brennender Birkenrinde. Im Ofen brannte knisternd ein Feuer, und die Ofentür klapperte im Luftzug. Die eine Hälfte des Zimmers war von einem anheimelnden rosa-goldenen Licht übergossen, und die andere in das blauweiße Licht des Wintermorgens getaucht. Die Fenster gingen nach dem Garten mit den reifbedeckten alten Linden. Über den mit verblaßtem zitronengelbem Stoff bespannten Wänden zog sich oben an der Decke ein weißer Stuckfries hin – ein Reigen tanzender Amoretten. Ihre nackten Körper erschienen im rosa Lichte des Ofens lebendig.

›Welch ein lustiges Zimmer!‹ dachte sich Golizyn, und plötzlich wurde es auch ihm lustig zumute.

Die Katze hatte vor Marinjka nicht viel Respekt: Sie glitt an ihren Füßen vorbei, sprang aufs Bett und fing an, ihr Schnäuzchen mit lautem Schnurren an Golizyns Beinen zu reiben.

»Kitz, Kitz, du Abscheuliche!«

»Macht nichts, Marinjka, ich habe schon ausgeschlafen.«

»Guten Morgen, Durchlaucht, wie haben Sie geruht?« fragte Foma Fomitsch, hinter dem Bettschirm hervortretend. Seine Perücke war auf die Seite gerutscht, das gepuderte Zöpfchen derangiert und der langschößige Rock zerdrückt; offenbar hatte er die ganze Nacht nicht geschlafen und nur ein wenig in einem Sessel oder auf dem Kanapee hinter dem Schirm geduselt.

»Ich habe ausgezeichnet geschlafen. Aber warum diese Sorge um mich? Es geht mir viel besser«, sagte Golizyn.

Marinjka sah ihn aufmerksam an und war plötzlich erstaunt und erfreut: eine solche Veränderung im Aussehen und in der Stimme!

»Gott sei Dank! Gott sei Dank!« rief Foma Fomitsch, sich bekreuzigend, und in seinen kindlichen Augen, in seinem kindlichen Lächeln leuchtete solche Güte, daß es Golizyn noch lustiger wurde.

»Wollen Sie nicht etwas zu sich nehmen? Kaffee, Eier, Bouillon?«

»Alles, alles, Foma Fomitsch! Ich habe furchtbaren Hunger!«

Plötzlich spitzte er die Ohren und horchte: Er hörte wieder, wie damals in der Nacht, im Fieberdelirium, ein fernes dumpfes Dröhnen, dem Dröhnen eines fernen Kanonenschusses ähnlich. Jetzt wußte er aber, daß es kein Delirium war.

»Was ist das? Hören Sie?«

»Nein, ich höre nichts«, antwortete Foma Fomitsch: Er war etwas schwerhörig.

»Jetzt wieder! Man schießt! Hören Sie es denn nicht?« schrie Golizyn auf, und in seinen Augen leuchtete die Hoffnung. Er richtete sich im Bette auf, als wäre er bereit, aufzuspringen und hinzulaufen.

»Valerian Michailowitsch, Liebster, um Gottes willen, liegen Sie still! Foma Fomitsch laufen Sie mal hin und erfahren Sie, was es ist«, sagte Marinjka.

Der Alte lief ins Nebenzimmer, dessen Fenster nach dem Hof gingen. Hier klang das Dröhnen so laut, daß er es hörte. Er trat ans Fenster, schob einen Stuhl hin, stieg aufs Fensterbrett, öffnete die Luke, steckte den Kopf hinaus und begriff sofort alles. Dann kehrte er zu Golizyn zurück.

»Ach, das ist kein Artilleriefeuer!« sagte er, den Kopf schüttelnd und wie ein kleines Kind lachend. »Durchlaucht können ganz unbesorgt sein, die Schießerei ist nicht gefährlich: Das Pförtchen im Tore ist aus schwerem Eichenholz und wird durch ein Gewicht geschlossen, das über eine eiserne Rolle hängt, der Torweg ist aber überwölbt, und jeder Ton hallt darin wider. Der Hausknecht Jefim trägt Brennholz in die Küche: Sooft er das Pförtchen zuschlägt, kracht es wie aus einer Kanone.«

Er schwieg eine Weile, nahm aus der goldenen Tabatiere mit dem Bildnisse des Kaisers Paul I. und der Inschrift: ›Neben Gott – er allein, und durch ihn atme ich‹ langsam eine Prise und fügte mit einem philosophischen Seufzer hinzu:

»So ist es, sehr verehrter Herr! An diesem Beispiel kann man sehen, wie unvollkommen und der Täuschung zugänglich die menschlichen Sinne sind, diese äußeren Türen unseres mechanischen Automaten. Wenn wir das Zuschlagen einer Pforte von einem Kanonenschuß nicht zu unterscheiden vermögen, welchen Wert haben dann unsere tiefsinnigen Urteile über die Natur der Dinge und über die verborgensten Gesetze des Weltalls?«

Plötzlich merkte er, daß Marinjka ihm zuwinkte. Er hielt inne und sah Golizyn an. Jener war blaß geworden, hatte den Kopf in das Kissen fallen lassen und die Augen geschlossen.

»Wir haben aber das Frühstück ganz vergessen!« rief plötzlich Foma Fomitsch. »Sofort laufe ich in die Küche. Kaffee, Eier, Bouillon, vielleicht auch etwas Reisbrei?«

Marinjka winkte nur mit der Hand, und der Alte lief hinaus.

Golizyn lag lange mit geschlossenen Augen.

Marinjka saß auf dem Bettrand und streichelte schweigend seine Hand.

»Welches Datum haben wir heute?« fragte er endlich.

»Den Achtzehnten.«

»Also drei Tage. Ich bin doch am Dienstag früh erkrankt?«

»Ja, am Dienstag. Als der Kammerdiener Ihnen den Tee brachte, lagen Sie angekleidet im Fieber und bewußtlos auf dem Bett.«

»Habe ich phantasiert?«

»Ja.«

»Was habe ich phantasiert?«

»Immer von den Schüssen. Dann von irgendeinem Tier, daß man das Tier töten müsse.«

»Erinnern Sie sich noch, Marinjka, ich sagte Ihnen, daß wir uns noch wiedersehen werden? Nun haben wir uns wiedergesehen . . .«

Er sah sie lange und unverwandt an. Er wollte sie fragen, ob sie wisse, was am Vierzehnten gewesen war, fragte aber nicht; er fürchtete, sie danach zu fragen.

»Ich weiß alles«, sagte sie, als hätte sie seinen Gedanken erraten. »Großmutters Haushofmeister, Ananij Wassiljewitsch, war auf dem Senatsplatze. Er kam am Abend zu uns gelaufen und erzählte alles. Er hat auch Sie gesehen . . .«

Sie verstummte plötzlich, beugte sich zu ihm, umarmte ihn, schmiegte ihre Wange an die seine, drückte ihr Gesicht in das Kissen und weinte.

»Nicht doch, Marinjka, mein liebes Mädchen! Ich bin ja bei Ihnen, und wir werden uns niemals . . .«

Er wollte sagen: »Wir werden uns niemals trennen«, aber er fühlte, daß er sie nicht betrügen könne: Sie weiß alles, nicht nur seine Vergangenheit, sondern auch seine Zukunft; darum beweint sie ihn wie eine Lebendige einen Toten, nimmt von ihm für immer Abschied.

›Arme Braut, wo ist dein Liebster?
Dich erwartet, tot und fahl,
Tief im Grabe dein Gemahl . . .‹

Diese Verse, die er einst Ssofja Naryschkina vorgelesen, fielen ihm jetzt ein.

»Da ist schon das Frühstück!« sagte Foma Fomitsch, mit einem Tablett ins Zimmer tretend.

Marinjka sprang auf und lief hinaus. Der Alte blickte ihr nach, schüttelte den Kopf, seufzte, sah auch Golizyn an, sagte aber nichts: Wahrscheinlich fühlte er, daß er sich durch nichts mehr täuschen oder trösten ließe.

Während des Frühstücks sprach er, um den Kranken zu zerstreuen, von abseitsliegenden Dingen: vom Rückkauf des Gutes Tscherjomuschki, von der Kunst des Arztes, der Golizyn behandelt hatte, von der Krankheit der Großmutter; als die Alte vom Aufstand hörte, erschrak sie so, daß sie sich hinlegen mußte und beinahe einen Schlaganfall bekam; sie ließ niemand von der leibeigenen Dienerschaft zu sich herein, denn sie fürchtete, die Leute könnten sie ermorden: Sie erinnerte sich noch an den Aufstand Pugatschows. »In Petersburg allein gibt es vierzigtausend Leibeigene, das ist kein Spaß; sie warten doch nur auf den Augenblick, wo sie nach Messern greifen können. Das haben aber die Martinisten, Freimaurer und sonstige gottlose Freidenker angestellt. Nun haben sie es erreicht. Es wird bei uns ebenso zugehen wie in Frankreich!«

Golizyn lächelte, und das war alles, was der Alte wollte. Er holte aus der Tasche ein Zeitungsblatt, die Beilage zu den ›Sankt-Petersburger Nachrichten‹ mit der Bekanntmachung der Regierung über die Vorgänge am Vierzehnten. Golizyn wollte es selbst lesen, aber Foma Fomitsch ließ es nicht zu; er griff wieder in die Tasche, holte ein Lederfutteral heraus, entnahm diesem eine Brille mit großen runden Gläsern, putzte sie sorgfältig mit dem Taschentuch, setzte sie sich bedächtig auf, räusperte sich und begann zu lesen.

»Der gestrige Tag wird zweifellos eine Epoche in der Geschichte Rußlands bedeuten«, las er mit seiner leisen, schwachen, wie aus der Ferne klingenden Stimme. »An diesem Tage, erfuhren die Einwohner der Residenz mit einem Gefühl von Freude und Hoffnung, daß Seine Majestät, der Kaiser Nikolai Pawlowitsch, den Thron seiner Vorfahren besteigt. Aber der göttlichen Vorsehung hat es gefallen, diesen langersehnten Tag durch traurige Ereignisse zu trüben . . .«

Der Aufstand wurde als eine kleine Konfusion der Truppen bei der Parade hingestellt.

»Zwei meuternde Kompanien stellten sich zu einem Karree vor dem Senatsgebäude auf; sie wurden von sieben oder acht Offizieren befehligt, zu denen sich einige Menschen von gemeinem Aussehen in Fräcken gesellten.«

»Da ist doch von mir die Rede!« bemerkte Golizyn mit einem Lächeln, das Foma Fomitsch unter seiner Brille mit dem gleichen Lächeln beantwortete.

»Einige kleine Gruppen versammelten sich um sie und schrien Hurra. Die Truppen baten um Erlaubnis, die Revolte mit einem Schlage niederwerfen zu dürfen. Aber Seine Majestät der Kaiser wollte die Wahnsinnigen schonen und entschloß sich erst bei Anbruch der Nacht, entgegen seinem Herzenswunsch, Gewalt anzuwenden. Es wurden Geschütze angefahren, die in wenigen Minuten den Platz säuberten. Das sind die Vorgänge des gestrigen Tages. Sie sind zweifelsohne beklagenswert. Aber wenn man bedenkt, daß die Aufrührer, nachdem sie vier Stunden auf dem Platze verbracht, keinen weiteren Zulauf bekommen haben, außer einigen betrunkenen Soldaten und einigen gleichfalls betrunkenen Menschen aus dem Pöbel, und daß von allen Garderegimentern nur zwei Kompanien sich von dem verderblichen Beispiel hinreißen ließen, so muß man mit einem Gefühl des Dankes für den Höchsten anerkennen, daß an diesen Vorfällen auch manches Tröstliche ist; daß es nur eine vorübergehende Prüfung der unerschütterlichen Treue der Truppen und der allgemeinen Ergebenheit der Russen für ihren allerhöchsten und gesetzlichen Monarchen war. Ein gerechtes Gericht wird bald die verbrecherischen Teilnehmer an den Unruhen ereilen. Mit Hilfe des Himmels und dank der Festigkeit der Regierung sind dieselben vollkommen unterdrückt; nichts stört mehr die Ruhe der Residenz . . .«

»Ist es wahr, Foma Fomitsch, daß in der Stadt alles ruhig ist?« fragte Golizyn.

»Still ist es wohl, aber diese Stille verheißt nichts Gutes«, antwortete der Alte und schüttelte zweifelnd den Kopf. »Die ganze Stadt ist wie ausgestorben; man sieht nur Wagen mit Verhafteten unter Eskorte von Gendarmen; man verhaftet immer mehr Menschen, und es ist gar kein Ende abzusehen; bald wird die eine Hälfte des Menschengeschlechts die andere bewachen müssen . . . Geht Ihr Traum vielleicht doch in Erfüllung, Fürst?« flüsterte er, sich mit geheimnisvoller Miene zu seinem Ohre beugend.

»Was für ein Traum?«

»Daß man wieder schießt. Man sagt, daß die Südarmee den Treueid verweigert habe und gegen Moskau und Petersburg ziehe, um die Konstitution zu verkünden; auch der General Jermolow soll dabei sein; er verfügt aber über eine große Truppenmacht, alle Regimenter des Kaukasischen Armeekorps sind ihm grenzenlos ergeben. Ich kenne ja seine Exzellenz Alexej Petrowitsch: ein wahrer Adler! Ist noch einer von Ssuworows Leuten. Alles ist möglich: Es kann auch eine Dynastie der Jermolows anstelle der der Romanows kommen, sagen die Leute. Ja, so stehen die Sachen, Fürst: jeden Augenblick kann die Geschichte von neuem losgehen . . .«

Golizyn hörte zu, und in seinen Augen leuchtete wieder die Hoffnung. Aber er unterdrückte sie.

»Wenn es auch losgeht, dann nicht so bald«, sagte er leise, wie vor sich hin. Aber Foma Fomitsch hörte es.

»Nicht so bald? Wann denn?«

»Was interessiert Sie das? Sie sind doch für den Zaren?«

»Ich bin schon in den Achtzigern, Väterchen. Ich lebe noch in der alten Zeit und denke auch, wie man in der alten Zeit dachte: Der echte Russe erwartet alle Güter des Lebens und allen Ruhm für sein Vaterland einzig vom Throne seines Monarchen.«

»Nun, Sie sind also für den Zaren, ich bin aber für die Republik. So dürfen Sie mit mir überhaupt nichts zu tun haben!«

»Hören Sie auf, Fürst! Es gibt in der Welt nicht so viel gute Menschen, daß man einen verschmähen könnte. Was soll ich mit Ihnen anfangen? Soll ich Sie vielleicht bei der Polizei anzeigen? Sie böser Mensch! Ich bemuttere Sie wie ein kleines Kind, Sie aber spotten über mich!« Der Alte wollte böse werden, es gelang ihm aber nicht: Aus dem kindlichen Lächeln, aus den kindlichen Augen leuchtete stille Güte.

»Foma Fomitsch, kommen Sie bitte zur Großmutter«, sagte Marinjka, ins Zimmer tretend.

»Was ist denn los?«

»Nichts, sie sehnt sich nach Ihnen und ist böse, daß Sie sie vergessen haben. Sie ist auf den Fürsten eifersüchtig.«

»Sofort! Sofort!« Foma Fomitsch sprang auf und lief, mit seinen altersschwachen Füßchen trippelnd, davon.

›Er liebt sie genau so wie vor vierzig Jahren‹, dachte sich Golizyn.

Durch die alten bereiften Bäume leuchtete der winterliche Himmel blau und grün wie verblichener Türkis, wie die kindlichen Augen des verliebten Greises; die Wintersonne blickte ins Zimmer. Die durchsichtigen Eisblumen funkelten wie Edelsteine, und ein bernsteingelbes Licht füllte das Zimmer. Über die verblichene zitronengelbe Wandbespannung glitten Lichtreflexe, und die nackten Amoretten auf dem weißen Fries wurden golden.

›Was für ein lustiges Zimmer!‹ dachte sich Golizyn wieder. ›Das kommt von der Sonne . . . nein, von ihr‹, sagte er sich mit einem Blick auf Marinjka.

Sie hatte sich inzwischen umgekleidet: Sie trug nicht mehr den Morgenrock und das Häubchen, sondern ihr alltägliches, einfaches weißes Kreppkleid mit rosa Blümchen; sie hatte sich gewaschen und frisiert und den Zopf zu einem Körbchen geordnet; schwarze lange Locken fielen wie leichte Trauben längs der Wangen herab. Trotz der schlaflosen Nacht war ihr Gesicht frisch, ›frischer als eine Rose am Morgen‹, wie Foma Fomitsch zu sagen pflegte, und ruhig und lustig: Die Tränen von vorhin hatten nicht die geringste Spur hinterlassen.

Sie räumte das Zimmer auf, wischte überall mit einem Flügel den Staub ab, ordnete die Arzneigläser; dann rührte sie mit dem Schürhaken die Glut im Ofen um, damit es keine unverbrannten Scheite gebe.

Golizyn beobachtete sie schweigend: Alle ihre jugendlichen, starken und leichten Bewegungen waren harmonisch wie Musik, und es schien ihm, daß alles, selbst das Alltäglichste, was sie berührte, sofort festlich und ebenso heiter wurde, wie sie es war.

Sie fühlte wohl seinen Blick auf sich, wandte sich um, ging lächelnd auf ihn zu, setzte sich zu ihm auf den Bettrand und beugte sich über ihn.

»Nun, was?«

Ein Sonnenlichtstreifen trennte sie wie ein gespanntes Tuch, und in seinem bläulichen Nebel kreisten die hellen Stäubchen wie in einem unendlichen Tanze. Als sie sich neigte, kam ihr Kopf in die Lichtsäule, und Golizyn sah, daß ihre schwarzen Haare, von der Sonne durchleuchtet, einen rötlichen, fast feuerroten Ton annahmen.

»Ja, natürlich, ich bin rothaarig!« rief sie lachend, indem sie selbst die Locke betrachtete. Sie schien selbst erstaunt.

Er richtete sich ein wenig auf und wandte sich zu ihr hin – die trennenden Strahlen vereinigten sie. Sie beugte sich noch tiefer, er fing die Locke mit der Hand und drückte sie an die Lippen. Der jungfräulich-leidenschaftliche, wie starker Wein berauschende Duft ihrer Haare stieg ihm zu Kopfe.

»Nicht doch! Was tun Sie? Darf man denn das Haar küssen?!« Sie schämte sich plötzlich, errötete, schlug die Augen nieder, nahm ihm die Locke aus der Hand und warf den Kopf zurück.

Golizyn ließ sich in das Kissen sinken, erbleichte und schloß erschöpft die Augen. Der Kopf schwindelte ihm, und es war ihm, als kreise er selbst wie jene Stäubchen in den Sonnenstrahlen in einem unendlichen Tanze.

»Wie schön, Marinjka, du meine Sonne!« flüsterte er, sie durch das Sonnenlicht hindurch mit einem seligen Lächeln anschauend.

»Was ist schön?« fragte sie mit dem gleichen Lächeln.

»Alles ist schön . . . das Leben ist schön . . .«

›Ja, leben, nur leben!‹ dachte er sich, von einem solchen Lebensdurste erfüllt, wie er ihn noch nie empfunden hatte.

 


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