Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Zweiter Teil

Erstes Kapitel

»Mit Peter dem Großen hat die Revolution in Rußland begonnen, die auch heute noch fortdauert«, – an diese an Pestel gerichteten Worte Puschkins mußte Golizyn denken, als er am Morgen des 14. Dezember auf den Senatsplatz trat und das Denkmal Peters erblickte.

Der trübe, neblige und stille Morgen schien noch zu schwanken, ob er sich für Frost oder für Tauwetter entscheiden solle. Die Nadel der Admiralität bohrte sich in den niederen Himmel wie in weiße Watte. Die über die Newa führenden Brücken stießen gleichsam gegen eine weiße Mauer, und man glaubte, daß dort, jenseits der Newa, nichts mehr wäre – nur der weiße Nebel, die Leere, das Ende der Erde und des Himmels, der Rand der Welt. Und der Eherne Reiter auf dem eisernen Pferde sprengte in diese weiße Finsternis.

Golizyn ging auf dem Quai auf und ab und beobachtete den leeren Platz. Er bemerkte in der Ferne Iwan Iwanowitsch Puschtschin und ging auf ihn zu.

»Ich glaube, um acht?« fragte Golizyn.

»Ja, um acht«, antwortete Puschtschin.

»Es ist aber bald neun. Ist jemand da?«

»Niemand.«

»Wo stecken sie denn alle?«

»Ich weiß nicht.«

»Wo ist Rylejew?«

»Er schläft wohl noch. Er schläft gern lange.«

»Daß wir nur Rußlands Freiheit nicht verschlafen!«

Sie gingen eine Weile schweigend auf und ab und warteten, ob nicht noch jemand käme. Es kam niemand.

»Nun, ich gehe«, sagte Puschtschin.

»Wo wollen Sie hin?« fragte Golizyn.

»Nach Hause.«

Puschtschin ging, und Golizyn fuhr fort, auf dem Quai auf und ab zu gehen.

Ein Weib in angefrorenem Kleid, mit blauangelaufenem Gesicht spülte in einem Eisloch Wäsche. Ein alter Laternenanzünder hatte die Laterne von dem noch mit dem Sommerschmutz bespritzten Holzpfahl am Block heruntergelassen und goß Hanföl in das Blechlämpchen. Ein Hausierer ordnete auf seinem Verkaufsstand weiße und rosa Fischchen aus Pfefferminzmasse und durchsichtige gelbe und rote Hähnchen aus Eiszucker.

Ein Ladenjunge in schmutziger Schürze, mit einem leeren Korb auf dem Kopfe, blieb, Sonnenblumenkerne knabbernd, vor dem Trottoir stehen und musterte Golizyn mit Interesse; vielleicht wußte er aus Erfahrung, daß, wenn ein Herr wartet, auch ein junges Mädchen in der Nähe sein müsse. Golizyn war es selbst zu Mute, als erwartete er jemand:

›So wartet nur ein Liebender
Auf der Zusammenkunft Minute.‹

Der Junge langweilte ihn. Er ging über den Quai auf den Admiralitäts-Boulevard hinüber und fing an, auf der einen Seite desselben auf und ab zu gehen, während auf der andern Seite ein Herr mit schwarzer Brille, in erbsgrauem Mantel auf und ab ging. Auf dem Hinwege blickte er Golizyn so an, als fragte er: »Nun, wird etwas geschehen?« – und wenn er zurückging, schien sein Blick zu antworten: »Etwas wird schon geschehen, wir werden ja sehen!«

›Ein Spitzel‹ dachte sich Golizyn. Er bog um eine Ecke, setzte sich auf eine Bank und duckte sich.

»Es ist gar nicht lange her, daß man für eine Kopeke eine Semmel bekam, von der man zwei Tage leben konnte; heutzutage darf man sich selbst mit neun Kopeken nicht an den Verkaufsstand wagen!« jammerte eine Bettlerin einer Semmelverkäuferin vor und suchte mit den Blicken Mitgefühl in Golizyn zu erwecken. Über seinem Kopfe saß aber auf einem nackten Aste ein Rabe; er riß seinen schwarzen Schnabel, in dem etwas blutrot schimmerte, weit auf und krächzte.

›Es wird nichts sein! Es wird gar nichts sein!‹ dachte sich Golizyn.

Plötzlich fühlte er Langeweile, Ekel und Kälte. Er stand auf, überquerte den Admiralitätsplatz und trat ins Kaffeehaus Loreda an der Ecke des Newskij neben dem Generalstabsgebäude. Hier brannten Lampen; das Tageslicht drang ins Kellergeschoß kaum herein; es war stark eingeheizt, und es roch nach warmem Brot und Kaffee. Aus dem Nebenzimmer tönte das Klopfen der Billardbälle.

Golizyn setzte sich an ein Tischchen und bestellte Tee. Neben ihm lasen zwei blutjunge Beamte laut das Manifest von der Thronbesteigung des Kaisers Nikolai I.Nikolai I., Kaiser, geb. 1796, vermählt 1817 mit Alexandra Fjodorowna, starrer Autokrat, starb mitten im Krimkriege; es wird Selbstmord angenommen. Anm. d. Übers.

». . . Verkünden Wir allen Unseren Untertanen . . . Zerknirschten Herzens, voller Demut vor den unerforschlichen Ratschlüssen des Höchsten haben Wir Unserm älteren Bruder, dem Zessarewitsch und Großfürsten Konstantin Pawlowitsch, als nach dem Rechte der Erstgeburt gesetzlichen Erben des Russischen Thrones, den Treueid geleistet . . .«

Als die Rede auf den Verzicht Konstantins und die neue Vereidigung kam, hielt der Lesende inne.

»Verstehen Sie es?« flüsterte er so laut, daß Golizyn es hören mußte.

»Ich verstehe«, antwortete der andere. »Wieviel Vereidigungen wird es denn geben? Heute werden wir auf den einen vereidigt, morgen auf den andern, später vielleicht auch noch auf einen dritten . . .«

»Wir fordern alle Unsere treuen Untertanen auf, ihre frommen Gebete mit den Unsern zu vereinen und mit Uns zu dem Höchsten zu beten, daß Er Uns in Unseren aufrichtigen Absichten bestärke, dem Beispiele des Kaisers, den Wir beweinen, zu folgen, auf daß Unsere Regierung nur eine Fortsetzung seiner Regierung sei. – Verstehen Sie es?«

»Ich verstehe: Die Geschichte fängt von vorn an!«

›Es sind wohl Spitzel‹, sagte sich Golizyn. Er wandte sich weg, nahm eine zerlesene Zeitschrift vom Tisch und tat so, als ob er läse.

Ein Kornett der Gardekavallerie trat säbelrasselnd in den Laden und verlangte von der französischen Verkäuferin ein Pfund Konfekt: »säuerliche, mit Zitronengeschmack«.

Golizyn erkannte den Fürsten Alexander Iwanowitsch Odojewskij.Odojewskij, Fürst Alexander Iwanowitsch (1803-39), Dichter, wurde nach Sibirien verbannt, dann als gemeiner Soldat nach dem Kaukasus geschickt, wo er auch starb. Anm. d. Übers. Er begrüßte ihn und nahm ihn auf die Seite.

»Wo kommen Sie her?«

»Aus dem Schlosse. Stand die ganze Nacht Wache.«

»Nun, was gibt's?«

»Gar nichts. Graf Miloradowisch war eben beim Kaiser mit seinem Bericht; die Fahnen aller Regimenter werden ins Schloß zurückgebracht; alle Regimenter sind schon vereidigt; man kann wohl sagen, auch die ganze Stadt, denn alle Kirchen sind vom frühen Morgen an gesteckt voll. Der Graf ist so guter Laune, als ob er Geburtstag hätte; er hat alle zu einer Pastete beim Direktor der kaiserlichen Theater, Maikow, eingeladen und nachher zur Tänzerin Teljeschowa.«

»Du glaubst also, SaschaSascha – Alexander II. Anm. d. Übers. . . .«

»Nichts glaube ich. Wenn der Militärgouverneur bei einer Balletttänzerin Pasteten ißt, so ist doch in der Stadt alles in bester Ordnung.«

Die Französin reichte Odojewskij das mit einem rosa Bändchen verschnürte Pfund Konfekt.

»Wo willst du hin?« fragte Golizyn.

»Nach Hause.«

»Was willst du dort?«

»Auf dem Kanapee liegen und Konfekt lutschen. Etwas Gescheiteres kann man sich gar nicht ausdenken!« antwortete Odojewskij lachend. Er drückte Golizyn die Hand und ging.

Golizyn setzte sich aber wieder an sein Tischchen. Er fühlte sich müde, die Augenlider fielen ihm zu. ›Daß ich nur nicht einschlafe!‹ ging es ihm durch den Sinn.

Weiße schwüle Watte füllte den Raum. Irgendwo in der Nähe war Marinjka, und er rief sie. Aber die Watte dämpfte die Stimme. Und dicht über seinem Ohr riß der Rabe seinen schwarzen Schnabel auf, in dem etwas blutrot schimmerte, und krächzte: »Es wird gar nichts sein! Es wird gar nichts sein!«

Ein plötzlicher Lärm weckte ihn. Alle waren aufgesprungen und zu den Fenstern gestürzt und sahen auf die Straße hinaus. Aber an den niederen Fenstern in der Trottoirhöhe huschten nur die Beine laufender Menschen vorbei.

»Wo rennen die hin?«

»Man hat jemand überfahren!«

»Ausgeraubt!«

»Eine Feuersbrunst!«

»Eine Meuterei!«

Golizyn sprang gleichfalls auf und stürzte, indem er beinahe jemand umrannte, wie ein Verrückter auf die Straße.

»Eine Meuterei! Eine Meuterei!« tönte es in der rennenden Menge. Er bog mit der Menge um die Ecke des Newskij und lief über den Admiralitätsplatz in die Gorochowaja.

»Ach, es gibt ein Unglück!«

»Was ist denn los?«

»Die Garde meutert und will Nikolai Pawlowitsch keinen Treueid leisten!«

»Wer für Nikolai ist, den stechen sie nieder, und wer für Konstantin ist, den schleppen sie mit.«

»Wer ist nun Kaiser, sagt es mir bitte!«

»Nikolai Pawlowitsch!«

»Konstantin Pawlowitsch!«

»Es gibt keinen Kaiser!«

»Ach, dieses Unglück!«

Als Golizyn die Gorochowaja erreichte, hörte er in der Ferne Trommelwirbel und ein dumpfes Brausen von Stimmen, dem Brausen eines aufziehenden Gewitters gleich. Immer näher, näher und näher, und plötzlich erzitterte die Erde vor dem Gestampf tausender Füße, die Luft erbebte vor betäubendem Geschrei:

»Hurra, Hurra, Hurra, Konstantin!«

Ein Bataillon des Moskauer Leibgarderegiments lief vornübergebeugt, wie stürzend, mit gefällten Bajonetten und wehenden Fahnen: Es war wie eine Attacke oder ein Sturm auf eine unsichtbare Festung.

»Hurra! Hurra! Hurra!« schrien die Soldaten wie wahnsinnig. Ihre Münder waren weit aufgerissen, ihre Augen quollen hervor, die Hälse waren gereckt und die Sehnen gespannt, als wollten sie mit diesem Geschrei eine ungeheure Last heben. Und die niederen schmutziggelben Häuschen der Gorochowaja blickten erstaunt auf das unerhörte Schauspiel, wie alte Petersburger Beamte auf den Weltuntergang.

Die Menge lief neben den Soldaten her. Die Gassenjungen pfiffen, johlten und sprangen wie kleine Teufel. Drei große Teufel, drei Stabshauptleute rannten aber vor dem Bataillon: Die Brüder Alexander und Michaïl BestuschewBestuschew, Michael Alexandrowitsch (1800-71), Stabshauptmann, wurde nach Sibirien verschickt und 1867 amnestiert. Anm. d. Übers. hatten ihre Dreimaster mit den Federbüschen auf die Spitzen ihrer bloßen Degen gesteckt, und Fürst Schtschepin-Rostowskij schwang seinen blutigen Säbel: Soeben hatte er drei Menschen niedergehauen.

Stolpernd und sich in den langen Schößen seines Mantels verfangend, lief Golizyn mit den andern und schrie wild und begeistert: »Hurra, Konstantin!«

 


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