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Denk dir nur, Komarowskij, es gibt Leute, die leider die gleiche Uniform wie wir beide tragen und die mich . . .« begann der Kaiser mit einem schiefen Lächeln, wie ein Mensch, der heftige Zahnschmerzen hat, und schloß mit Selbstüberwindung: »einen Usurpator nennen!«
Das Wort ›Usurpator‹ im Munde des Selbstherrschers aller Russen setzte den General Komarowskij dermaßen in Erstaunen, daß er im ersten Augenblick nicht wußte, was darauf zu sagen.
»Die Schurken!« sagte er schließlich; und da er glaubte, daß dies noch zu wenig sei, fügte er einen derben russischen Fluch hinzu.
Der Kaiser, in bloßer Uniform des Ismailowschen Regiments mit dem blauen Andreasband, die er für den Gottesdienst angelegt hatte, saß auf einem weißen Pferd, von einer Suite von Generälen und Flügeladjutanten umgeben, an der Spitze eines Bataillons des Preobraschenskijschen Leibgarderegiments, das auf dem Admiralitätsplatze, dem Newskij gegenüber, in einer Kolonne aufgestellt war.
Die Stille des Wintertages war um so vollkommener, als auf den von den Truppen besetzten Plätzen und Straßen jeder Wagenverkehr aufgehört hatte. Die nahen Stimmen klangen wie in einem Zimmer, und aus der Ferne, vom Senatsplatze her tönte ein ununterbrochenes gedehntes Brausen, dem Brausen der Meeresbrandung ähnlich, und dazwischen klangen einzelne Ausrufe wie das Knirschen der von den zurückflutenden Wellen fortgetragenen Steine: »Hurra-rra-rra!« Plötzlich knatterten Gewehrschüsse, das Stimmengebraus wurde stärker, schien näher zu kommen, und wieder klang es: »Hurra-rra-rra!«
General Komarowskij blickte den Kaiser verstohlen von der Seite an. Nikolais Gesicht unter dem tief in die Stirne gedrückten schwarzen Dreispitz mit den schwarzen Federn hatte eine durchsichtige blaue Blässe angenommen, und die tiefliegenden dunklen Augen waren weit aufgerissen. ›Angst hat große Augen‹, kam es Komarowskij plötzlich in den Sinn.
»Hörst du diese Schreie und Schüsse?« wandte sich der Kaiser an ihn. »Ich werde ihnen zeigen, daß ich kein Feigling bin!«
»Alle bewundern den Mut Eurer Kaiserlichen Majestät; es ist aber Ihre Pflicht, Ihr kostbares Leben zum Wohle des Vaterlandes zu schonen«, antwortete Komarowskij.
Der Kaiser aber fühlte, daß er das von der Feigheit lieber nicht hätte sagen sollen. Er sprach und benahm sich unnatürlich wie ein Sänger, der aus dem Ton gefallen ist, oder wie ein Schauspieler, der seine Rolle nicht gelernt hat.
»Ritter ohne Furcht und Tadel«, – das war die Rolle, die er spielen sollte. Angefangen hatte er gut. »Vielleicht werden wir beide heute abend nicht mehr am Leben sein, aber wir werden sterben, nachdem wir unsere Pflicht getan haben«, hatte er des Morgens beim Ankleiden zu Benkendorf gesagt. Später hatte er an die Kommandeure des Gardekorps die Worte gerichtet: »Ihr bürgt mir mit euren Köpfen für die Ruhe der Residenz; und was mich betrifft, so werde ich, und wenn ich auch nur eine Stunde lang Kaiser bin, zeigen, daß ich dessen würdig war!«
Als er aber das Wort ›Meuterei‹ hörte, wurde es ihm kalt ums Herz und finster vor den Augen, und alles drehte sich wie im Wirbel.
Ohne ersichtlichen Grund stürzte er sich zuerst in die Schloßhauptwache – er glaubte wohl, daß die Aufrührer im Palais einbrechen würden – und wollte an den Türen Wachtposten aufstellen; dann lief er in das Hauptportal und stieß hier mit dem Obersten Chwoschtschinskij zusammen, der verwundet, mit verbundenem Kopf, direkt aus der Kaserne des Moskauer Regiments geritten kam. Als der Kaiser die blutige Binde sah, fuchtelte er mit den Armen und schrie: »Schafft ihn weg, schafft ihn weg! Versteckt ihn doch!« Er fürchtete, daß der Anblick des Blutes die Menge erregen würde, obwohl gar keine Menge zu sehen war.
Dann stand er ganz allein, ohne Suite auf dem Schloßplatze in der Menge, die sich hier drängte; er redete ihnen etwas zu, suchte ihnen etwas zu beweisen, las und erklärte das Manifest und bat sie inständig: »Setzt eure Mützen auf, setzt eure Mützen auf, ihr werdet euch erkälten!« Die Leute schrien Hurra, knieten nieder und griffen nach seinen Rockschößen, Händen und Füßen: »Väterchen-Zar, unser Vater! Wir werden alles in Stücke reißen und dich nicht verraten!« Ein Kerl mit rotem Gesicht, mit einem Fuchspelz bekleidet, versuchte ihn zu küssen; aus seinem Munde roch es nach Schnaps, Zwiebeln und noch etwas Ekelhaftem, wie nach rohem Fleisch. In den hintern Reihen krakeelte aber ein Betrunkener; man suchte ihn zum Schweigen zu bringen, man schlug ihn, aber er schrie doch:
»Hurra, Konstantin!«
Der Kaiser beruhigte sich ein wenig und faßte Mut, als er sah, daß das Bataillon des Preobraschenskijschen Leibgarderegiments sich vor dem Schlosse zu einer Kolonne formierte.
Endlich versammelte sich die Suite; man brachte ihm sein Pferd.
»Kinder! Die Moskauer machen dumme Geschichten. Ihr laßt euch von ihnen nicht verleiten und tut tapfer eure Sache! Seid ihr bereit, mir zu folgen, wohin ich befehle?« schrie er, die Front abreitend, mit seiner gewohnten befehlenden Stimme.
»Zu Befehl, Eure Kaiserliche Majestät!« antworteten die Soldaten etwas unsicher und nicht wie aus einem Munde; aber es war noch gut, daß sie überhaupt antworteten.
»Bataillon halb rechts marsch!« kommandierte der Kaiser und führte sie auf den Admiralitätsplatz.
Auf dem Newskij hielt er aber, da er nicht wußte, was zu tun. Er entschloß sich, auf den General Ssuchosanet, den Kommandeur der Gardeartillerie, zu warten, den er auf Rekognoszierung geschickt hatte.
Das alles flimmerte vor ihm wie eine Fiebervision vorbei, als er die Augen schloß und für eine Sekunde das Bewußtsein verlor; solche ohnmachtähnliche Anfälle von Bewußtlosigkeit befielen ihn öfters.
Ihn weckte die Stimme des Generaladjutanten Ljewaschow, der nach dem Geschrei und den Schüssen auf dem Senatsplatz auf ihn zuritt.
»Eure Majestät, Graf Miloradowitsch ist verwundet.«
»Lebt er?«
»Die Verwundung ist schwer, er wird sie kaum überstehen.«
»Nun, es ist seine Schuld, er hat es verdient«, erwiderte der Kaiser achselzuckend, und seine feinen Lippen verzerrten sich zu einem solchen Lächeln, daß es allen plötzlich ganz unheimlich wurde.
›Ja, es ist nicht Alexander Pawlowitsch! Wartet nur, er wird euch schon eine Konstitution zeigen!‹ dachte sich Komarowskij.
»Nun, wie steht's, Iwan Onufritsch?« wandte sich der Kaiser an den General Ssuchosanet, der in diesem Augenblick heransprengte.
»Cela va mal, sire. Die Meuterei greift um sich. Die Meuterer hören auf keine Ermahnungen. Die Regimenter, die den Eid schon geleistet haben, sind unzuverlässig und können jeden Augenblick zu den Meuterern übergehen; dann sind schreckliche Dinge zu erwarten. Wollen Majestät die Artillerie kommen lassen«, schloß Ssuchosanet seinen Bericht.
»Du sagst ja selbst, daß sie unzuverlässig ist?«
»Was soll man machen, es gibt kein anderes Mittel. Ohne Artillerie wird man nicht auskommen können . . .«
Der Kaiser hörte ihm aber nicht mehr zu. Er fühlte, wie ihm im Rücken Ameisen krabbelten und wie sein Unterkiefer zitterte. ›Es kommt von Kälte‹, tröstete er sich, wußte aber, daß es nicht die Kälte allein war. Er erinnerte sich, wie er in seiner Kindheit während eines Gewitters in sein Schlafzimmer zu laufen, sich aufs Bett zu werfen und den Kopf unter das Kissen zu stecken pflegte; sein Erzieher Lamsdorff zerrte ihn aber am Ohre heraus. Er fühlte mit sich selbst Mitleid. Was wollen sie alle von ihm? Was hat er ihnen getan? – Unschuldiges Opfer des Willens seines Bruders! Pauvre diable! Armer Kerl! Armer Nixe! –
Als er wieder zu sich kam, sah er, daß zu ihm nicht mehr der General Ssuchosanet sprach, sondern General Wojinow, der Kommandeur des Gardekorps.
»Majestät, das Ismailowsche Regiment ist unruhig und schwankend . . .«
»Was sagen Sie? Was sagen Sie? Wie unterstehen Sie sich?« schrie ihn plötzlich der Kaiser mit solcher Wut an, daß jener erstarrte und vor Erstaunen die Augen aufriß. »Ihr Platz ist nicht hier, Herr, sondern dort, wo die Ihnen anvertrauten Truppen den Gehorsam verweigern!«
»Ich erlaube mir, Eurer Majestät zu bemerken . . .«
»Maul halten!«
»Majestät . . .«
»Maul halten!«
Und so oft jener nur den Mund auftat, ertönte dieses wahnsinnige Geschrei.
Der Kaiser wußte, daß er gar keinen Grund hatte, so zu zürnen, aber er konnte sich nicht beherrschen. Es war, als fließe durch seine Adern ein wärmender, kräftigender, feuriger Trank. Die gemeinen Ameisen im Rücken und das Zittern des Unterkiefers waren weg. Wieder ein Ritter ohne Furcht und Tadel; Selbstherrscher und kein Usurpator. Er begriff, daß er gerettet ist, wenn er nur ordentlich in Wut gerät.
Ein unbekannter Dragonerrittmeister, ein langer Mensch mit gelblicher Gesichtsfarbe, schwarzen Augen, schwarzem Schnurrbart und einer schwarzen Binde an der Stirn, ging auf ihn zu und richtete auf ihn einen respektvollen, aber auffallend ruhigen Blick; in dieser Ruhe war etwas, was den Abstand zwischen dem Kaiser und dem Untertanen aufhob.
»Was wollen Sie?« fragte der Kaiser, sich unwillkürlich nach ihm umwendend.
»Ich war mit ihnen, habe sie aber verlassen und mich entschlossen, reumütig zu Eurer Majestät zurückzukehren«, antwortete der Offizier mit der gleichen Ruhe.
»Sie heißen?«
»Ich danke Ihnen, daß Sie Ihre Pflicht nicht vergessen haben!« Der Kaiser reichte ihm die Hand, und Jakubowitsch drückte sie mit dem Lächeln, das die in ihn verliebten Damen ›dämonisch‹ nannten.
»Gehen Sie also zu ihnen, Herr, Jakubowskij . . .«
»Jakubowitsch«, korrigierte jener mit Nachdruck.
»Und sagen Sie ihnen in meinem Namen, daß ich ihnen verzeihe, wenn sie die Waffen strecken.«
»Ich will es tun, Majestät, werde aber lebend nicht zurückkommen.« – »Nun, wenn Sie fürchten . . .«
»Hier ist ein Beweis, daß ich nicht zu den Feiglingen gehöre. Meine Ehre ist mir mehr wert als mein verwundeter Kopf.« Jakubowitsch lüftete den Hut und zeigte auf seine Kopfbinde. Dann zog er den Säbel aus der Scheide, band ein weißes Tuch daran und ging als Parlamentär auf den Senatsplatz zu den Meuterern.
»Ein tapferer Kerl!« sagte jemand in der Suite.
Der Kaiser schwieg und runzelte die Stirn.
Der Parlamentär kam lange nicht zurück. Endlich wurde in der Ferne sein weißes Tuch sichtbar. Der Kaiser konnte ihn gar nicht erwarten und ritt selbst auf ihn zu.
»Nun, wie steht's, Herr Jakubowskij?«
»Jakubowitsch«, korrigierte jener mit noch größerem Nachdruck. »Die Leute sind rasend, Majestät. Sie wollen auf nichts hören.«
»Was wollen sie denn?«
»Gestatten, Majestät, daß ich es Ihnen ins Ohr sage.«
»Nehmen Sie sich in acht, er hat die Visage eines Räubers!« raunte Benkendorf dem Kaiser zu.
Der Kaiser neigte sich aber schon zu ihm und hielt sein Ohr hin.
›Jetzt könnte man ihn töten‹, dachte sich Jakubowitsch. Er war kein Feigling; hätte er sich entschlossen, ihn zu töten, so wäre er nicht zurückgeschreckt. Aber er wußte nicht, warum und wofür er ihn hätte töten sollen. Der verstorbene Alexander Pawlowitsch hatte es verdient, – er hatte ihn bei der Beförderung übergangen; aber was hat ihm dieser getan? Außerdem glaubte er, ein Zarenmörder müsse unbedingt schwarz gekleidet sein und auf einem schwarzen Pferde sitzen; außerdem müsse es bei einer Parade, im hellen Sonnenschein und bei Musik geschehen. Aber so einfach töten ist doch gar kein Vergnügen!
»Sie wollen, daß Eure Majestät selbst zu ihnen kommen. Sie wollen nur mit Ihnen sprechen und sonst mit niemand«, flüsterte er ihm ins Ohr.
»Mit mir? Wovon denn?«
»Von der Konstitution.«
Er log: Er hatte mit den Meuterern gar nicht verhandelt. Als er sich ihnen näherte, hatten sie ihm zugerufen: »Schuft!« und nach ihm gezielt. Er hatte nur Michail Bestuschew zwei Worte zugeflüstert und dann kehrt gemacht.
»Wie denkst du darüber?« fragte der Kaiser Benkendorf, nachdem er ihm die Worte Jakubowitschs ins Ohr geflüstert hatte.
»Man sollte eine ordentliche Kartätschensalve geben, das denke ich mir, Majestät!« rief Benkendorf empört.
›Kartätschen oder Konstitution?‹ fragte sich der Kaiser, und sein bleiches Gesicht wurde noch bleicher; wieder krabbelten ihm die Ameisen am Rücken, und der Unterkiefer begann wieder zu zittern.
Jakubowitsch sah ihn an und begriff, daß er recht gehabt, als er vorhin Michail Bestuschew zugeflüstert hatte:
»Haltet euch, – sie haben Angst!«