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Es war an dem Abend desselben Tages, als gerade vor der Torsperre ein junger, rüstiger Wandersmann über die Brücke der Festung Legnago schritt.
Er trug einen niederen, schwarzen, breitkrämpigen Hut, eine lange, dunkle Jacke mit weiten Ärmeln von dem Schnitte der einst berüchtigten, sogenannten Carmagnolen und über der Schulter eine kleine, gelblederne Reisetasche. Es war eine frische, stämmige Burschengestalt. –
Nachdem er der Neugier des Torwachkommandanten Genüge getan und mit gewissenhafter Breite in dessen rotlederne Brieftasche zu Protokoll gegeben hatte, dass sein Name Josef Mirt, sein Stand der eines Arztes sei und er von Padua komme, wo er vor Kurzem den Grad eines Patronus Chirurgiae wie auch den eines Magisters der Geburtshilfe erlangt, ertönte endlich das »Passiert«, das dem Wanderer das Asyl für diesen Abend erschloss.
Er schien bekannt in der Festung zu sein, denn er schlug, über die letzte Zugbrücke des Forts gekommen, unverweilt den Weg längs des linken Ufers der Adige ein und lenkte bald in eine enge Gasse, aus deren Hintergrunde ihm das Kreuz der Kirche St. Brigada entgegenfunkelte.
Endlich blieb er vor einem kleinen Laden der rechten Häuserreihe stehen; die Abenddämmerung reichte eben noch hin, ihn die Aufschrift des Schildes lesen zu lassen, das über der Ladentüre hing; sie hieß: »Luigi Sala – argentiere«.
Der Wanderer nickte beifällig mit dem Kopfe und trat nach einem kurzen, scharfen Blicke durch das Ladenfenster bei dem Silberarbeiter ein.
Der Herr des Ladens, ein kurzer, dicker Mann mit einem äußerst verschmitzten Gesichte, obwohl beschäftigt mit einer alten Frau, die um eine Haarnadel feilschte, versäumte nicht, den Eingetretenen trotz seines eben nicht gentilen Aussehens mit jener Flut von superlativen Ehrenbezeugungen, die Italiens Industrielle unter immer bereiten Schleußen halten für jedes Menschenkind, das Gamaschen und einen Reisesack trägt – und ihn zu versichern, es werde nur eines winzigen Augenblickes bedürfen, bis es ihm erlaubt würde, ganz zu sein »alla disposizione del signor forestiere«! Herr Mirt lächelte ein wenig boshaft zu diesem Ausbruche italischer Überschwänglichkeit, ließ sich auf der gepolsterten Bank nieder, die längs der Hinterwand des Ladens hinlief, und harrte geduldig, bis es der Suade des Herrn Luigi Sala gelang, die alte Frau zu überzeugen, welch' ein unauslöschlicher Schandfleck den Ruf transalpinischer Artigkeit ewiglich behaften müsse, wenn sie um lumpiger fünfzehn Centesimi willen den mutmaßlichen Conte oder Milordo länger aufhalte, sein Tafelservice aus dem reichen Sortiment des ersten – weil einzigen – Silberarbeiters Legnagos zu wählen.
Die Frau zahlte endlich und ging.
Mirt erhob sich rasch, trat zu dem Silberarbeiter, der sich eben zu einer neuen Decharge handwerksmäßiger Buffonaden anschickte, und schnitt ihm die Rede durch eine Gebärde ab, die ebenso einfach als eigentümlich war.
Er ergriff nämlich dessen Hand, zog sie frei bis an die Achselhöhe empor und drehte sie mit einem leichten Drucke gegen rechts, wobei er leise die Worte flüsterte: »Das erdrückte Lamm ruft…«
»Rache an dem Wolfe!« war die rasche Antwort des Silberarbeiters, der schnell das Hemd auf der Brust voneinander riss und einen gusseisernen Ring an dreifarbiger Schnur daraus hervorzog.
Der Fremde tat ein Gleiches, worauf beide einander abermals die Hände reichten und drückten.
Dies waren die Erkennungszeichen der »Giovine Italia«, analog den Gebräuchen der Carbonaros. Carbonari (Köhler). Ihr Rituale war dem Kohlenbrennen entnommen. Reinigung des Waldes von Wölfen, d. h. Kampf gegen die Fremden war die Grundlage ihrer Symbole. Der Versammlungsort hieß »Hütte« (baracca) das Innere der Hütte »Kohlenverkauf« (vendita). Unter einander nannten sie sich »gute Vettern«.
Dieser ganze Vorgang hatte kaum eine Minute gewährt, nach deren Verlauf der Silberarbeiter vor den Laden sprang und die Türe sorgfältig schloss.
Als er wieder vor den Emissär der Propaganda trat, sah er blass und ängstlich aus und fragte hastig: »Ist etwas vorgefallen, dass General Sercagnani einen neuen Boten schickt – Du kommst doch von ihm, guter Vetter?«
»Nein, ich komme von Padua!« entgegnete Mirt, »aber solltet denn Ihr in Legnago nicht wissen, was in der Romagna geschehen, während wir in« –
»Oh dio! Dio! Geschehen – was, was soll geschehen sein?« rief die Hände ineinander schlagend der Legnageser.
»Nun – das ist's in aller Kürze! Der Marschall ist mit 40 000 Mann über den Po, Bologna zu, und vor vier Tagen bereits kam es zu einer Schlacht zwischen der Civica und den Österreichern –«
»Ha! Und unsere Tapfern haben die Barbaren gezüchtigt – zurückgejagt –«
»Leider nein, Vetter! – die Barbaren haben unsere Tapfern geschlagen vor den Toren von Carpi und vor sich hergejagt auf der ämilischen Straße –«
»Oh – oh!« stöhnte der dicke Luigi, »mein Sohn! Mein Cäsar – mein einziges Kind – sie haben mir ihn erschlagen, denn er ist tollkühn und ergibt sich keinem Deutschen!« und er sank mit schmerzlichem Gewimmer nieder auf die Bank.
»Vetter, fasse Dich, und fürchte so Schlimmes nicht!« sagte der Emissär beruhigend, indem um seine Mundwinkel abermals jenes höhnische, ungläubige Lächeln zuckte: »Wie man hört, war die Schlacht bei Carpi weniger ausgezeichnet durch blutigen Widerstand von unserer Seite als durch die meisterhafte Kombination und seltene Präzision des Rückzuges der Civica, an welchem von unseren Militärs nichts getadelt wird als die fast beleidigende Bonhommie, mit der Retsey, der österreichische Divisionär, ihn geschehen ließ – indes er ist gefolgt und in der Falle, denn morgen erheben Zucchy und Sercagnani zugleich zum entscheidenden, letzten Male das glorreiche Banner der Confederazione, und deshalb bin ich hergesandt vom Bunde! – Ist die Vendita offen?«
»Sie ist's seit einer Stunde!« antwortete kleinlaut der beneidenswerte Vater eines Italieners, »der sich nicht ergibt«.
»So führe mich ein!« sprach gemessen der Emissär, »der Bund hat, um unnützes Blutvergießen zu vermeiden, den Vorschlag Rudolfos angenommen – jedoch müssen noch heute Nacht die Schlüssel des Zeughauses in unseren Händen sein – denn Obrist Malata marschiert die Nacht über mit der Elite der Estenser Civica herzu und steht morgen vor der Porta –«
Es war eigen, welche penetrante Wirkung diese Worte auf den dicken Silberarbeiter äußerten: soeben noch ein Bild des Jammers und der Verzagtheit, ob der, wenn auch verzuckerten Kunde jener Niederlage Jung-Italiens, schnellte er sogleich auf mit der charakteristischen welschen Elastizität, als er vernahm, auch in Legnago gebe es endlich Gelegenheit, teilzunehmen an den Lorbeeren, mit denen die Helden der Romagna sich bisher allein so reichlich bedeckt; nur bei dem Namen Rudolfos zuckte er leicht die Achseln und rief aus: »Ei! Warum dem Zwitter, dem Halbdeutschen die Ehre lassen? Schlagen wir los ohne Weiteres morgen! Ich traue ihm nicht zu, dass er den eigenen Vater an den Galgen bringt – er spricht und verspricht mir viel zu viel und Du weißt ja Vetter: der Hund, der bellt, beißt nicht!«
Er wusste nicht, der gute Mann, dass er mit diesem Sprichwort den bramarbasierenden Revolutionären seiner Nation das Urteil gesprochen.
Mirt antwortete nicht und folgte schweigsam dem Silberarbeiter, der ihn über die Treppe und einen langen Gang in das Penetrale der »Vendita zum guten Hirten« führte –.
Schon um die Stunde, in der Mirt den Laden Luigi Salas betrat, konnte man ein junges Bürschchen bemerken, das das Trottoir längs der gegenüberliegenden Häuserreihe auf- und abwandelte, jedoch immer nur in solchen Distanzen, dass ihm das Haus des Silberarbeiters im Auge blieb.
Der Knabe, mehr war er nicht zu nennen, trug einen grauen Militärmantel, unter dem, dass er nicht zugeknöpft war, man die Aufschläge des Regiments Esterhazy erkennen konnte. Er trug die Distinktion eines Kadetten, den Säbel mit Portepé unter dem Mantel und schien, da sein Regiment nicht in Legnago garnisonierte, hier beurlaubt zu sein; wohl krankheitshalber, denn er sah sehr bleich und hektisch aus und hüstelte sehr bedenklich, sooft er an der Brigidakirche oder an der Adigeterrasse kehrt machte, um seine Patrouille vor Salas Hause fortzusetzen.
Der junge Soldat schien sehr erregt; und nebst der Blässe und den Furchen, die eine lange Krankheit auf sein mageres Gesicht geschrieben, stand noch gar viel Trauriges darauf von Kummer und Sorge, was besonders aus seinen schönen, blauen Augen herausschaute, die betrübt und fast tränend an den Fenstern des Salaschen Hauses hingen.
Es konnte keine Liebschaft sein, was den Jüngling hier rastlos herumtrieb; denn sein lichtblondes Haar und der germanische Typus seines Gesichtes verrieten ihn als nicht angehörig der frühreifen italischen Nation, wenn auch seine Wiege an den grünen Ufern der Adige gestanden. Seine Wanderung musste einen anderen, viel ernsteren Zweck haben. –
Das Stimmen der Trommeln, das aus dem, über dem Flusse gelegenen Fort herüberdrang und die durch heimkehrende Soldaten vermehrte Frequenz der Gasse verrieten den nahen Zapfenstreich – der junge Mann ging immer noch denselben Weg.
Bald wirbelten im Fort die Trommeln den militärischen Nachtruf, und aus der Reiterkaserne erschollen hell die Trompetenklänge der Retraite – der Kadett wich nicht von dem Trottoir.
Allgemach wurde es stille und endlich totenöde in der Gasse; der Laden des Silberarbeiters war längst geschlossen und kein Fenster des Hauses erleuchtet. Die ganze lange Gasse hinab brannte keine Laterne, und der Mond schaute trübe aus nebeligem Gewölke herab auf den einsamen Wanderer, wie verdrießlich, für ihn allein noch leuchten zu müssen.
Endlich regte es sich in Salas Hause – die Schrauben, welche die Ladentüre von innen schlossen, drehten sich hurtig und kreischend in ihren Müttern, die schwere Eisenstange, von der die Türe verwahrt wurde, fiel dröhnend nieder, und der halb offenen Tür entquollen an zwölf dunkle, in Mäntel gehüllte Gestalten, die sich sofort ohne Gutenacht oder einem anderen Worte lautlos vor dem Hause zerstreuten und in dem Dunkel der Seitengassen verschwanden.
Der junge Soldat hatte sich bei dem ersten Geräusche in Salas Hause in den Schatten eines Portikus gedrückt, von wo aus er die Vorübergehenden scharf musterte.
Mitten durch die Gasse, der Brigada-Kirche zu, schritt eine schlanke, hohe Gestalt –
Der Kadett löste hastig die Rückenschleife seines Mantels, um sich fester und mehr auf italische Manier darein hüllen zu können, und folgte diesem Manne, dessen rasche Tritte bereits auf dem Marmorpflaster vor der Kirche hallten. –
Als der Soldat an dem Portale der Kirche ankam, wo in einer Nische vor einem Kruzifix ein mattes Lämpchen flimmerte, hielt er einen Augenblick an, seufzte tief auf und flüsterte leise, aber mit inbrünstigem Flehen: »Mein Gott! – Lass die Bösen zuschanden werden und erbarme dich – meines verführten Bruders!« –
Er senkte tief das grambleiche Haupt vor dem Bilde des Erlösers – dann setzte er rasch dem voraneilenden Manne nach. –