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In der großen Stube des Pachthofes in der Contrada pietra vor Trient saßen an einem Juniabend zwei Frauen an dem hell lodernden Kamine.
Es ist dies dieselbe Stube, in der wir Chiarina vor zwei Monaten in einsamer Trauer fanden. Doch heute sieht die Stube, die damals so düster schien, in der verflackernden Kohlenbeleuchtung gar hell und lustig, wohnlich und behäbig aus. Und nicht den kleinsten Anteil daran hat die hübsche, runde Frau, die hart an dem Kamine mit der flinken Spindel beschäftigt sitzt, ein wohltuendes Bild stiller Häuslichkeit.
Es ist die Frau des wackeren Leithenbauers, des Pächters dieses Gehöftes.
Neben ihr Chiarina – aber wie damals, stumm und traurig, den schönen Kopf tief niederhangend auf die leise und schmerzlich atmende Brust, die weißen Hände um die Knie geschlagen.
So hat Dich denn der Gram noch immer nicht verlassen, der sich an Deine Fersen geheftet, seit Du mit der Liebe auch den Frevel erkannt, den Du an ihrer Heiligkeit begangen?
So ist er mit Dir auch über die Schwelle des Hauses eingezogen, in dem das häusliche Glück seinen weiten, wonnigen Tempel gewölbt und hat sich nicht verscheuchen lassen durch die fröhlichen Stimmen darin, singend die urewigen Hymnen heiteren Liebesglückes? – Armes Kind!
»Aber Klärchen!« auch die Bäuerin hieß sie nicht mehr Chiarina, »wollt Ihr denn immer so fort träumen; immer stumm und verschlossen, immer trauriger und bleicher?«, unterbrach endlich die Frau die lange, peinliche Stille, »schon seit einiger Zeit sehe ich die jungen Röschen, die mit dem Mai auf Euren Wangen erblühten, wieder verblassen und das Köpfchen, das Ihr anfangs, als Ihr in die Stadt zogt, gar lustig und frisch in der Höhe trugt, wie die Blume ihr Kelchchen hebt in der Frühe, wenn sie der glitzernde Tau erfrischt – das lasst Ihr nun wieder müde niederhängen – ich bemerke das schon geraume Zeit! Was habt Ihr denn? Seid Ihr nicht glücklich mehr? Hat Euch neues Leid betroffen, oder könnt Ihr das alte gar nicht mehr verwinden? Sprecht, redet Euch aus, schüttelt den Druck vom Herzen weg und vertraut Euch mir an!« so sprach die wackere Frau, ließ die Spindel fahren und schlug ihren rechten Arm um den Hals der gebeugten Chiarina.
Diese erhob nach einem kurzen, hastig herausgestoßenen Seufzer den Kopf und die schönen, großen Augen zu dem milden Antlitze der Frau, aus dem der klare Strahl innigen Mitleids auf sie niederleuchtete.
Und sie begann in kurzen, abgebrochenen Sätzen: »Ja, ich will reden! Ich will es Euch sagen, Mutter, alles, alles – auf die Gefahr hin, dass Ihr, wenn ich am Ende meiner Geständnisse, Euch erschreckt von mir abwenden und es tief bereuen werdet, mir Eure Mutterarme geöffnet und mich aufgenommen zu haben an diesem reinen Herde, vernehmt: Ihr wisst, welch' ein Glück mir begegnete, als ich damals auf Euren Rat in die Stadt pilgerte, um mein Leid vor Gott auszuschütten und meinen Hilfeschrei zu ihm empor zu senden in seinem geweihten Hause; Ihr wisst, dass ich dies Glück zu schätzen wusste und in den Schoß jener Familie einzog mit einem Herzen, in dem neben frisch aufflackernder Lebenshoffnung nichts so freudig frisch grünte als das redlichste Wollen, eine andere zu werden!«
Die Bäuerin sah erstaunt nieder, Chiarina hatte wieder wie im heftigsten Kampfe mit sich die Hände über das Herz gepresst, und ihr Haupt schwankte schwer noch vorwärts hin: »Erregt Euch nicht so heftig, Klärchen! Beruhigt Euch, ich werde warten!«
»Nein, nein! Ich bin entschlossen, zu reden; so hört denn weiter, was an dem ersten Abende meines Dortseins geschah – Ihr werdet es später hören – war nur ein Grund mehr für mich, alle Schätze der Liebe, die mein verschlossenes Herz birgt, hervorzuholen aus dessen Tiefen und hinzugeben für die, die zu mir herabstieg in meiner tiefsten, schwersten Not. – Ich liebte nicht umsonst! In kurzem war ich der Abgott der Familie und selber glücklich – ach glücklich! Ihr wisst ja, wie heiter ich zu jener Zeit immer herauskam zu Euch, um die Fülle meines Glückes vor Euren staunenden Augen hinzuschütten in dem Reichtum ihrer Blüte! Ach, es sollte nicht lange währen!
Als das Militär von seinem Zuge in die Giudicaria zurückkam, wohin es »unser Herr« freiwillig als Führer und Arzt begleitet hatte, schlug das Sterbestündlein meines neuen Lebensglückes. – Wir saßen abends um den Herrn, der uns seine Abenteuer in den Gebirgen erzählte, als er sich plötzlich mit den Worten an seine Frau wandte: »Und Marie, was sagst Du dazu! Ich habe Marco Creppi gesehen!«
Die Frau schauderte bei diesem Namen ängstlich zurück und rief: »Wie, Rudolf?«
»Ja, gesehen, gesprochen – und wie du es wolltest, gewarnt und gerettet!«, bekräftigte der Herr. Mich sah und beachtete in diesem Augenblicke niemand – ich allein wusste, dass es über mich kam, rasch und plötzlich wie der Tod! Denn wisse, dass jenen Namen, Marco Creppi, der Mann trägt, der mein Herz zertreten hat und zerschmettert mit der Wucht der – Sünde und des Jammers, den er darüber gehäuft, ohne dass ich ihm fluchen darf dafür, denn es ist mein Vater!«
»Wie? Euer Vater?«, rief die Bäuerin verwundert, »Ihr seid demnach keine Waise?«
»Verwaist – durch meinen eigenen Willen!« war die monotone Antwort, »ich sagte mich los von ihm – auf der Flucht aus seiner Nähe fand mich Euer Gatte. Hört weiter: Niemand bemerkte mein Zittern, obwohl ich nur ahnte, noch nicht wusste, dass mein tödlicher Schreck ein gerechtfertigter war. Ich sollte es bald erfahren; Tags darauf trat Marie mit einem Briefe in der Hand und mit den freundlichen Worten zu mir: »Es soll nichts dunkel sein zwischen mir und Dir, Klara! Du warst gestern zugegen, als mein Mann mir eine Eröffnung machte, die Dir, durch den traurigen Anteil, den ich daran nahm, auffällig, aber nicht erklärbar war! Nimm hier die Erklärung dieses Rätsels!« und sie reichte mir den Brief. – Ach, ich hatte dies Rätsel schon längst gelöst!«
»Ich verstehe nicht –«, fiel die Bäuerin verwundert ein.
»So höre, ich führe diesen Brief seit jenem Tage bei mir; er war von dem jüngeren Bruder der Frau, der in Verona garnisonierte; er schrieb unter anderem: »…mein merkwürdigstes Erlebnis in dieser ereignisvollen Zeit aber war mein Zusammentreffen mit – Rudolf, unserem verlorenen Bruder. Es war eine kurze Zeit vor dem Ausbruche der Mailänder Unruhen, als ich von Pavia, wo ich damals lag, in die Hauptstadt kam. Durch das müßige Geschwätz eines Kameraden und durch Zufall lernte ich da ein Mädchen kennen, schön wie ein Engel, aber wie ich gleichzeitig erfuhr, von sehr anrüchigem Rufe. Es sollte etwas Dämonisches, Nixenhaftes an ihr sein, die Venetianer nannten sie die »neue Lagunenfee« – kurz, wie überll verrückte sie auch in Mailand allen Männern die Köpfe.« –
Sie hielt eine Weile erschöpft inne, und heiße Seufzer entquollen ihrer Brust; dann fuhr sie leise wieder fort: »Unter den Offizieren, auf die sie par excellenze Jagd machte, schien sonderbarer Weise ich der Bevorzugte; Du, liebe Schwester, kennst mich in diesem Punkte – also ich beschloss, der Sache auf den Grund zu kommen und begab mich mit aller möglichen Vorsicht zu dem Rendezvous, das mir die Dame gegeben. – Ich will kurz sein: Das Mädchen war die Tochter unseres Bruders, der seit der Amnestie den Namen Marco Creppi, und wie es scheint, eine Führerrolle unter dem Korps Mazzinis angenommen hatte, genügend glaube ich Dir unser erstes Zusammentreffen seit siebzehn Jahren zu charakterisieren, wenn ich Dir sage, dass es geschah; er mir mit dem Stilette ich ihm mit blankem Degen zur Wehr gegenüber, denn ich sollte auch wandern, wohin alle anderen vor mir, die sich von seinem sirenenhaften Kinde in seiner Höhle verlocken ließen, das Mitleid mit Chiarina, so heißt seine Tochter, konnte mich nicht abhalten, ihn der Gerechtigkeit zu überliefern, deren Arm ihn aber die Revolution wieder entriss. Er soll jetzt unter den Legionären in den Gebirgen Tirols sich umtreiben. – Sollt er Euch unterkommen, hier seine Signalement: Er ist sehr, sehr hager, fahl –«
Sie konnte nicht weiter lesen; Tränen erstickten ihre Stimme und zugleich legte sich eine kalte Hand auf ihren Nacken, es war die Bäuerin, die langsam sprach: »Armes, unglückliches Wesen!«, und sie weinte bittere Tränen gleich Chiarina. –
Keine sprach mehr ein Wort. – Sie saßen lange, lange da, und die Flamme des Kamins verglühte immer mehr, bis die Stube wieder das düstere Aussehen hatte wie damals. –
Endlich erhob sich Chiarina rasch, und indem sie die Hände der Bäuerin krampfhaft ergriff und ihr zuflüsterte: »Und damit Ihr alles wisst, er, der diese schrieb, er ist's, den ich liebe!« – Damit wankte sie ohne Lebewohl zur Stube hinaus.
Und sie wankte hin über die öde gewordene Straße, traurig, traurig –
Doch nicht allein! Hinter ihr her huschte eine dunkle, große, verhüllte Gestalt, immer nach, immer nach wie ihr Schatten. –
Als Chiarina an dem Hause Mariens ankam, sprang die Gestalt dicht an sie, eine hart Hand umklammerte ihren Arm und eine tiefe, bebende Stimmer rief: »Chiarina!«
Jede Faser in dem zarten Leibe des Mädchens erzitterte, als es jene Stimme vernahm – »Ha! Du?« rief sie mit einem gellenden, unnatürlich angstvollen Tone, der sich an dem hohen Gemäuer des Domes wie der letzte Schrei eines Gefolterten brach und selbst den Mann, der ihren Arm hielt, so erschütterte, dass er scheu zurückwich, sie losließ und in dem Zwielichte des Abends die harten, wilden Züge Marcos sehen ließ.
Kaum fühlte Chiarina sich frei, als sie mit einem gewaltigen Satze in die Hausflur sprang und so schnell verschwand, dass Creppi sie nicht einzuholen vermochte – doch er drang ihr nach. –
Maria saß, ihres Gatten harrend, mit einer weiblichen Arbeit beschäftigt, allein in dem Vorzimmer ihrer Wohnung, als sie unregelmäßige, hastige Tritte die Treppe herankommen und die Gangtüre aufreißen hörte. Sie sprang erschreckt auf und erbleichend zurück; denn Chiarina stürzte mit verzerrten Zügen totenblass herein und zu ihren Füßen nieder mit dem wilden Schrei: »Rette, o rette mich!« und verbarg ihr Gesicht in den Falten des Kleides der Frau, deren Knie sie fester umschloss, als abermals Schritte auf dem Gange hallten und die Türe aufging.
Maria sah, auf den Tod erschrocken, hin – an der Schwelle stand die dunkle, unheimliche Gestalt Creppis, stumm und wie versteinert.
»Was soll das, Mann!« rief Marie schnell gefasst, »was schreckt Ihr mir das Kind, was wollt Ihr hier?«
»Meine Tochter!«, hallte es dumpf von der Türe her.
»Eure Tochter? Hier?« fragte Marie erstarrend.
Marco wies stumm mit der hageren Hand auf die kniende Chiarina hin.
»Sprich Klara! Erhebe Dich! Ist das Dein Vater?« drängte Marie, das Herz von bangen Ahnungen durchflutet.
Chiarina erhob das bleiche Haupt zu ihr empor und stammelte zitternd: »O stoße mich nicht von Dir – nur nicht zu ihm!«
Marie rang nach Atem, und ihr Blick flog scheu nach Marco hin, der die Schwelle verließ und ihr langsam nahte: »Lass ab von ihr, Weib!« schrie er mit zornbebendem Tone, »sie muss mir mir!«
»Nie, nie!«, rief Chiarina aufspringend und flüchtete in die Zimmerecke, Marie ihr schützend nach.
Creppi bog den hageren Oberleib hart zurück, wie die Schlange tut, ehe sie sich auf die Beute wirft, schlug den kurzen Mantel nach hinten, und ein funkelndes Stilett ziehend, sprang er mit grimmig verzerrten Zügen auf die Frau los, die Chiarina mit ihren schirmenden Augen umrankte, und brüllte mit wuterstickter Stimme: »Weg von ihr, Weib, oder –«
Das riss sich Chiarina plötzlich von Marie los, sprang auf ihren Vater zu und, seinen Arm fassend, schrie sie mit dem Ausdrucke des Wahnsinns in Antlitz und Ton: »Morde sie, morde, wie Du Deinen Vater ermordet! – Es ist Deine Schwester!«, und sie sank ohnmächtig zusammen.
Ein kurzer, heiserer Schrei und der Name »Rudolf« entrang sich den Lippen Mariens, die mit stockendem Herzen, einem Marmorbilde gleich, ihren verlorenen Bruder anstarrte.
Rudolf ließ das Stilett fallen, und seine Augen hingen starr an den Zügen seiner Schwester – seine harten Züge erhellte auf einen Augenblick der milde Liebesstrahl der versunkenen, erwachenden Erinnerung an Marie, an das Kind, das er geliebt, als er noch lieben konnte!
Ein dumpfer, schmerzlicher Ton, wie das gewaltsame Entringen der Träne aus einem versteinten Menschenherzen, entrang sich seiner Brust; er sah Marie noch einmal tiefsinnig an, dann – schlug er den Mantel um sich und stürzte hinaus. –
Als Marie des anderen Morgens nach einer halb durchwachten Nacht am Lager der fieberkranken Chiarina erwachte, war diese verschwunden. Auf ihrem Bette lag ein Blatt Papier mit folgenden Worten:
»O meine Marie! Ich muss Dich verlassen – Chiarina muss das Haus verlassen, in dem Klara so glücklich war. Habe Dank, tausendfältigen, herzlichen Dank für die Liebe, die Du jener zugewandt und – denke manchmal mit versöhnter Erinnerung an
Chiarina.«
Marie weinte und sank in die Knie; sie betete heiß und inbrünstig, und ihre Lippen flüsterten: Gottes Segen und sein Frieden geleite dich auf Deinem einsamen Pfade, Du armes Kind! –