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10.
Chiarina.

Die Tritte des Vaters verhallten auf dem Gange – die Tochter stand lauschend an der Türe.

»Endlich – endlich!« flüsterte sie, »er ist fort; endlich bin ich allein!«

Mit fieberischer Hast riss sie Hut, Schleier und Mantel von sich und einen Reisekoffer auf, der an dem Tische stand. Dann erhob sie sich plötzlich wieder und stand einen Moment tiefsinnend da.

Chiarina, was ist aus Dir geworden?

Wo sind sie alle hin, die Blüten der Jugend und Schönheit, die Deinen Wunderleib vor Kurzem noch umduftet? Alle hin – versengt – verwelkt – verweht! – Der Locken Glanz verblichen, der Wunderaugen Schimmer erstorben, der stolze Leib verfallen! Alles, alles hin!

Sie weint! Der niedergehaltene Schmerz, die unterdrückten Tränen, deren jede sich blutig ins Herz gräbt, sprengen die Pforten und brechen vor, linde – leise – bitt're, heiße Tränen!

Sie weint und sinkt in die Knie und schlägt die Arme um das tobende Herz und ruft mit dem Tone des tiefsten Schmerzes: »Mutter, o meine Mutter! Warum bist du mir gestorben! Warum nahmst Du mich nicht mit Dir, als Du starbst, zu Dir, als ich Dich jammernd darum bat an Deinem Grabeshügel! – Musstest Du denn sterben? Wusstest Du den nicht, dass Dein armes Kind ohne den schirmenden Schild des Mutterherzens sein Eigen werden musste, der statt des ersten Segens den Fluch der Rache aussprach an meiner Wiege! – Sein Eigen!« – Sie sprang wie irrsinnig auf und fuhr mit den Händen an die brennenden Schläfen.

Nach einer kurzen Pause, durch nichts unterbrochen als durch ihr lautes, schmerzliches Weinen, ließ sie die Hände wieder sinken und sprach leise mit singendem Tone vor sich hin: »Nie, meine Mutter sprachst Du zu mir von – Liebe – vielleicht – doch es ist schon so lange, lange her, seit Du starbst und ach, ich weiß es nicht mehr, was Du mir zugeflüstert damals, als Dein brechender Blick mich zum letzten Male traf! Und der Vater – weh, nie taten sich seine Lippen auf zu anderem als finsterem Fluche! – Und dennoch hat sie mich heimgesucht, die Liebe – aber nicht, wie das Lied erzählt, als der freundliche Engel des Lebens, nein, als die ernste, rächende Nemesis; und dennoch füllte sich mir das Herz unter Schaudern mit Entzücken, als sie siegend einzog in seine öden Räume – als er kam! – Und als er schied? – so klang das Lebewohl derer nicht, die ich seither scheiden sah, Lieb' von Lieb', Treu' von Treu', Hoffnung von Hoffnung! Sprach er von Wiederseh'n? O nein, nein!« schrie sie plötzlich wieder auf, »er stieß mich von sich, weh, weh! >Weiche von mir, Du blutbeflecktes Weib!< so rief er, nein, so grollten des Gerichtes Donner mir zu, mir – der Magd der Sünde!« Sie schlug die Hände vor das Gesicht und verstummte abermals.

Nach langem, finsterem Hinbrüten fuhr sie wieder empor und rief: »Ob es recht ist, was ich beginne? – frug ich sonst? – fort, fort –« Sie schritt mit dem festen Schritte der Entschlossenheit zur Zimmertüre und verriegelte sie sorgfältig. –

Eine Stunde darauf verließ ein junger Bursche von feinem, schlankem Wuchse, den eine gegürtete, graue Bluse vorteilhaft abzeichnete, das Hotel al Sole.

Er schritt rasch und scheu umherblickend der Minoritenkirche zu, die an der Straßenmündung von Arco steht. Erst unter deren schattigen Torbogen machte er halt, wie unentschlossen, was er weiter beginnen solle.

Sein Äußeres, obwohl es ganz den Charakter der damaligen Freischärler trug – Bluse, breitkrämpiger Hut, Pistolen und Stilett im Gürtel – war dennoch so auffallend, dass er keine fünf Minuten unter dem Porticus stand, als sich ihm bereits ein großer, stämmiger Mann näherte, der ihn mit so stechenden Blicken von oben bis unten besah, dass der Bursche sich ängstlich ab abwendete, obgleich er den Fuß bereits gehoben hatte, um dem Manne entgegenzugehen.

»Hoho!« sagte dieser brummend vor sich hin, »das ist bei allen Heiligen das netteste aller Vöglein, die mit der Guardia della speranza zwitschernd herauf geflattert in diese Berge von den Maulbeerhecken der Mella und Olona, und ich wette meine Seele gegen einen Centesimo, wenn der nicht ein Anliegen hat, das dem »Geier von Albian« die heute umsonst zerrissenen Socken zehnfach vergütet! – He, Bürschlein, fremd hier und wohl in Nöten?« fragte er laut und trat dem Burschen näher, indem er seine schwere Hand sans façon auf dessen Achsel legte und scharf in das edle, blasse Antlitz sah, das sich scheu und wie flehend zu ihm erhob.

»Ich – ja, mein Freund! Ich bin fremd hier!« stammelte der Bursche.

»Nun und was? Wollt Ihr zu einer Legion hier um Riva herum oder weiter hinauf?«

»Weiter, weiter – recht weit!«

»Hoho! Recht weit? Da könnt Ihr höchstens Arco meinen, denn die Sonne nimmt bereits ihr Fußbad im blauen See, und diese Füßchen mögen wohl an andere Wege gewohnt sein als die Unseren hier im Sarcatal!« sagte der Mann grinsend.

»Freund, Ihr irrt, wenn Ihr meint, dass ich unter die Freischaren will«, flüsterte der Bursche mit einem Seufzer, »aber Ihr müsst mir sagen, ehe ich mich Euch entdecke, ob Ihr den Willen mir zu helfen habt – ich zahle, was Ihr verlangt!«

»Närrchen, was wäre Christenpflicht – Christenpflicht!« rief der »Geier von Albian«, wie er sich nannte und legte die Hand beteuernd an die breite Brust.

Der junge Bursche griff darauf rasch in die Brusttasche seiner Bluse und zog ein blitzendes, reichbesetztes Armband hervor, das er dem Manne mit den scheuen Worten hinhielt: »Dies ist Euer, wenn Ihr mich über das Gebirge bringt!«

Der »Geier« warf einen seiner funkelnden Blicke auf das Geschmeide, das er jedoch nicht berührte, sondern mit den Worten zurückwies: »Ei, lasst das und sagt, welches Gebirge Ihr meint? Vielleicht gehen wir einen Weg, denn auch der meine führt über das Joch!«

»Ich will nach Tirano – und halte den Weg durch die Giudicaris und unterhalb des Monte Adamello für den nächsten!«

»Hm, hm, nach Tirano? – dann gehört Ihr nicht zu der Guardia? –«

»Nein, nein! Ich will fort, Mann!« rief der Bursche heftig.

»So – nun ich verstehe; wundert mich auch nicht, die Hand ist nicht gemacht für Säbel und Büchse, mein Herrlein, so was kenn' ich!« sagte der »Geier« mit sonderbarem Tone und besah sich aufmerksam die wunderkleine, zarte, weiße Hand, die aus dem grauen Blusenärmel hervorguckte.

Der Bursche steckte sie hastig in den Brustlatz und fragte drängend: »Nun, werdet Ihr mich führen? Sagt, fordert Ihr mehr? Redet!«

»Nein, nein, keine Rede von Fordern, Christenpflicht, wie ich Euch sage, ich tue es – nur ist es mir etwas uncommod da hinauf mit Euch, mein Weg wäre ganz ein anderer! Aber wie gesagt, ich tu's aus Erbarmen mit dem jungen Blut. Doch eine Stunde müsst Ihr Euch gedulden – ich habe in der Stadt noch etwas abzutun!«

»Eine Stunde? Mein Gott, könnt ihr nicht gleich? Ich zahle Euch das Doppelte!«

»Narretei! Was denkt Ihr denn, man hat ja Gewissen!« und er nahm bei dem Worte Gewissen eine Miene an, als ob er ausschließlich in diesem Artikel »mache«.

Der junge Bursche zögerte unschlüssig eine Weile, ehe er wieder fragte: »Und wo erwarte ich Euch?« Er hatte überlegt, dass es nun schon geratener sei, die Hilfe dieses Mannes anzunehmen, obwohl ihn ein gewisses »Etwas« vor ihm warnte und seine beabsichtigte Desertion von den lorbeerbekränzten Fahnen der Freischaren einem andern, vielleicht noch weniger Verlässlichen anzuvertrauen.

»Ich werde Euch was sagen!« versetzte der Mann darauf, als ob er die Gedanken des Jünglings mit seinem scharfen Blicke gelesen hätte. »Ihr traut mir nicht recht, weil Ihr vielleicht nicht wisst, was ich wage, wenn ich Euch desertieren helfe. Aber geht da hinab – seht Ihr das kleine, grüne Häuschen dort unter der hohen Pinie, da geht indes hinein und meldet den Leuten einen schönen Gruß vom »Geier von Albian« – werdet Ihr den Namen merken? Die könnt Ihr fragen, ob ich der Mann bin, den Ihr braucht!«

Der Bursche atmete hoch auf und sagte: »Gut und lasst mich nicht warten! Hier die Darangabe!«

»Nicht meine Art, Signorino, erst die Tat, dann der Lohn; geht nur, geht, in einer Stunde! Adio!«

Der Mann blieb noch so lange an der Kirchentüre stehen, bis er die graue Bluse in dem Häuschen verschwinden sah, dann drehte er sich rasch auf dem Absatze um, schnalzte lustig mit den Fingern und brummte mit zufrieden lächelnder Miene vor sich hin: »Heute geht's, bin zufrieden! Dummes Sprichwort das, man soll den Tag nicht vor dem Abend loben – muss heißen, man soll den Tag nicht vor dem Abend schimpfen! Ei, ei, was steckt wohl da dahinter? Hm, das muss ich früher wissen!« Diese letzten Worte sprach er laut und bestimmt und machte sich sogleich auf den Weg in die Stadt.

An der Ecke der ersten Quergasse stand ein alter Bettler, der ihn jammernd um eine Gabe anflehte.

Der Mann hielt an und zog den Beutel: »Sollst eine Fünfzehner haben, Alter, wenn Deine Augen vor einem Halbstündlein offen standen.«

Der Bettelmann horchte auf.

»Höre! Hast Du kein Bürschlein da vorbeirennen gesehen, jung, blutjung und nett, Hut und Bluse grau?«

Der Bettler sann eine Weile nach, dann antwortete er: »Ganz gut, jung, graue Bluse, vor einer halben Stunde, ja!«

»Ja, das hab' ich dir selbst verraten, alter Schurke!« sagte der »Geier« lachend, »Aber wo kam er her, he?«

Der Bettler sann eine Weile nach, dann sagte er rasch: »Aus der »Sonne« – gewiss aus der Sonne; und damit Ihr seht, dass Ihr den Fünfzehner nicht wegwerft, zeige ich Euch noch seinen flüchtigen Fußtritt hier im Sande, der mir besagte, dass die Stiflette, die ihn trat, aus dem Laden des ersten Calzolajo Mailands kommt, was Ihr –«

»Gut, gut Alter! Also aus der Sonne? Hier ist das Geld!«

»Gott lohn's!«

Der »Geier« ging rasch dem bezeichneten Hotel zu, und nach einem kurzen Gespräche mit dem Cameriere setzte er sich auf die lange Marmorbank vor dem Vestibüle, wo er sich's bequem machte, indem er fortwährend murmelte: »Qui gatta ci cova! Qui gatta ci cova!« (da steckt etwas dahinter.) –

Es waren mehr als zwei Stunden schon verstrichen, seit der Mann den Burschen bei der Minoritenkirche verlassen hatte; er saß oder lag vielmehr immer noch da, mit der Miene eines Menschen, der entschlossen ist, sich nichts verdrießen zu lassen, um »dahinter« zu kommen. »Er wird schon warten – er sitzt gut!« flüsterte er von Zeit zu Zeit hin, sooft die große Uhr im Speisezimmer des Hotels eine Viertelstunde schlug. –


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